Berlin Beatet Bestes. Folge 241.

Hände weg vom Pop, Professor!

Berlin Beatet Bestes. Folge 241. Studienplatte Jazz, Blues und Improvisation (1961).

Die Schallplatte beginnt mit einer dröhnenden Liveaufnahme von »When the Saints Go Marching in«, dann setzt, mit hörbar deutschem Akzent, der Gesang ein, bis sich schließlich eine sanfte Stimme über die Musik legt: »Ist der Jazz Massenhysterie? Suggestion? Oder Entfesselung der unterdrückten Individualität? Musik der Freiheit oder der Disziplin? Gehört er zur Etikette der Snobs, oder bedeutet er harmloses Verspieltsein der Fans? In jedem Fall, was der Jazz zu geben vermag, geschieht spontan aus einer magischen Verbindung der Instrumente, ihrer Spieler und Hörer. Ob Ekstatik … «, hier ­fadet die Musik aus, es erklingt Dave-Brubek-mäßiges Modern-Jazz-Gedudel, » … oder intellektuelle Abstraktion? Diese Musik ist ein Kennzeichen unserer Zeit.« Anschließend beginnt der Sprecher mit einem kurzen Abriss der Geschichte des Jazz.
Diese Single war Teil einer zwölfteiligen Box, die vom Opera Label, einem Schallplattenclub ähnlich dem Bertelsmann-Buchclub, veröffentlicht wurde. Die Platten richteten sich an Personen, die sich privat musiktheoretisch weiterbilden wollten. Allerdings beschäftigen sie sich überwiegend mit klassischer Musik, lediglich eine Veröffentlichung setzt sich mit elektronischer Musik auseinander, eine mit Gospel und nur diese vorliegende mit Jazz. Die Art des Vortrags wirkt, mehr als 50 Jahre später, wie eine Parodie von Hape Kerkeling: nur noch lachhaft. Dennoch hat es damals sicher, wenn es um Jazz ging, Aufklärungsbedarf gegeben. Alle Jazz-Bücher und -Zeitschriften, die während dieser Zeit erschienen, hatten den gleichen aufklärerischen Ton. Der deutschen Mehrheit, vor allem den alten Leuten, war die Nazidiktatur noch ins Gesicht geschrieben. Für sie war Jazz nichts als Krach, »Negermusik«. Das N-Wort taucht übrigens auf dieser Platte andauernd auf, dabei ist an der antirassistischen Haltung der Autoren, Professor Paul Douliez und Doktor Karl Richter, nicht zu zweifeln. Wer sich Anffang der sechziger Jahre leidenschaftlich für afroamerikanische Musik begeisterte, solidarisierte sich auch explizit mit Afroamerikanern. Und stand damit in Deutschland ziemlich allein da. Der Widerspruch zwischen dem Vorurteil, Jazz sei primitiv, und seiner tatsächlichen musikalischen Komplexität beförderte den geradezu missionarischen Eifer vieler Jazz-Fans.
Dieser Umstand, so nachvollziehbar er auch sein mag, markiert vielleicht bereits den Beginn der heutigen Popkulturmisere. Popkultur muss heute zwar nicht mehr erklärt werden, und kann es auch noch nicht mal, so simpel strukturiert, wie sie ist. Dennoch sind gewisse Popkulturfans, wie einst die Jazz-Fans, bemüht, diese von ihrem vulgären Stigma zu befreien. Dabei lässt sich anhand der Geschichte des Jazz sehr genau ablesen, wohin das unausweichlich führt. Der Versuch, populäre Kultur zu akademisieren, hat noch immer zu ihrer Schwächung geführt. Ob Jazz, Rock ’n’ Roll oder Comics, sobald an der Universität darüber gelehrt wird, stirbt es. Wer Popkultur wirklich liebt, sollte sich lediglich privat weiterbilden.

Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic »Bigbeatland« und sammle Platten aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com/) stelle ich Platten vor, die ich billig auf Flohmärkten gekauft habe.