Die Auseinandersetzung mit den NSU-Morden in Nordrhein-Westfalen

Mehr als nur Show

In Nordrhein-Westfalen soll der »Nationalsozialistische Untergrund« mindestens drei Anschläge verübt haben. Die Piratenpartei hat nun einen Antrag auf Einrichtung eines Untersuchungsausschusses vorbereitet.

Der »Nationalsozialistische Untergrund« (NSU) gibt den Ermittlern weiter Rätsel auf. Ungereimtheiten, plötzlich zu Tode gekommene Zeugen, das Schweigen der Hauptangeklagten Beate Zschäpe vor dem Münchner Oberlandesgericht. Die Politik hat mit der Einrichtung parlamentarischer Untersuchungsausschüsse in bisher drei Bundesländern sowie im Bundestag reagiert. Nun strebt die Landtagsfraktion der Piratenpartei in Nordrhein-Westfalen ebenfalls einen Untersuchungsausschuss an.
»Ich halte den Untersuchungsausschuss für absolut notwendig«, schreibt Birgit Rydlewski, nordrhein-westfälische Landtagsabgeordnete der Piratenpartei, auf ihrem Blog. Sie ist die Initiatorin des Antrags, der voraussichtlich im Juni ins Parlament eingebracht werden soll. Seit kurzem ist er auf ihrer Website einzusehen. Der Ausschuss solle klären, »welche Erkenntnisse über Art und Umfang rechtsextremistischer Aktivitäten in Nordrhein-Westfalen« den Behörden seit 1994 vorlagen und was diese über eine etwaige Zusammenarbeit zwischen Neonazis aus Nordrhein-Westfalen und solchen aus anderen Bundesländern wüssten. Auch solle geklärt werden, ob Befugnisse überschritten und Rechtsverstöße seitens der Behörden begangen wurden, etwa bei der Führung von V-Leuten.

Der NSU steht im Verdacht, mehrere Anschläge und Morde in Nordrhein-Westfalen begangen zu haben. Zu den bekanntesten gehört das sogenannte Nagelbombenattentat in Köln 2004. 22 Menschen wurden bei der Detonation einer Bombe in der Keupstraße, in der überwiegend Migranten wohnen, verletzt. Die Täter platzierten die Bombe auf einem Fahrrad, das sie vor einem türkischen Friseursalon abstellten. Das Geschäft wurde bei der Detonation verwüstet. Auf Aufnahmen von Überwachungskameras konnten später die beiden NSU-Mitglieder Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos identifiziert werden. Die Behörden vermuteten die Täter jedoch zunächst in den Reihen der Migranten, es wurden abenteuerliche Mafia-Geschichten konstruiert, was für die Opfer und deren Angehörige ein Schlag ins Gesicht war. Auch der Mord am Kioskbesitzer Mehmet Kubaşık 2006 in Dortmund wird dem NSU zugerechnet, eben so wieder Sprengstoffanschlag auf ein Lebensmittelgeschäft 2001 in Köln.
In Nordrhein-Westfalen gab es weitere Anschläge, bei denen für die Behörden eine Beteiligung des NSU allerdings nicht eindeutig feststeht. Im Antrag der Piratenpartei werden sie detailliert aufgelistet, so etwa ein Bombenanschlag im Juli 2000 am Bahnhof Düsseldorf-Wehrhahn. Dort wurde eine mit TNT gefüllte Rohrbombe zur Explosion gebracht, zehn Menschen wurden teils schwer verletzt, eine schwangere Frau verlor ihr ungeborenes Kind. »Da es sich bei den Opfern um Migranten und Migrantinnen aus der ehemaligen Sow­jetunion handelte, sechs mit jüdischem und vier mit muslimischem Hintergrund, wurden bei den Ermittlungen auch ein rechtsextremistischer Hintergrund und fremdenfeindliche oder anti­semitische Motive nicht ausgeschlossen. Im Juli 2009 wurden die Ermittlungen allerdings vorerst ergebnislos abgeschlossen und später dann noch einmal aufgegriffen«, heißt es im Antrag. Handelte es sich um eine behördliche »Pannenserie« oder um gewollte Versäumnisse? »Ich finde das schwierig zu beurteilen«, sagt Rydlewski der Jungle World. »Das kann auch einfach nur das zufällige Versagen von sehr vielen Behörden gewesen sein. Wenn man das allerdings in der Summe betrachtet, kommt einem da einiges schon sehr merkwürdig vor. Gerade in Köln wurde eben nicht geklärt, welche und wie viele Beamte tatsächlich vor Ort waren und ob auch V-Leute vor Ort waren.« Auch sei offen, warum es immer wieder zu Aktenvernichtungen gekommen ist. »Das alles ist im Bundesuntersuchungsausschuss nicht endgültig geklärt worden. Das macht zumindest nachdenklich.«

Für die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses im Landtag benötigen die Antragsteller eine Zustimmung von 20 Prozent. Zwölf stimmberechtigte Mitglieder plus Stellvertreter säßen dann in dem Ausschuss: Fünf SPD-Politiker, drei von der CDU, zwei Grüne, ein Liberaler und ein Politiker der Piratenpartei. Ob andere Fraktionen mitziehen, ist unklar. »Wir wollten unseren Antrag eigentlich im Mai einbringen«, sagt Rydlewski. »Jetzt ist allerdings Wahlkampf – da hätte man zwar ein bisschen Druck aufbauen können, aber das ist kein typisches Wahlkampfthema. Ich möchte keinen Show-Antrag, sondern tatsächlich diesen Untersuchungsausschuss.« Sie wolle den anderen Fraktionen genügend Zeit für die Beschäftigung mit dem Antrag lassen, um dann in Ruhe über eine Beteiligung zu entscheiden.
Das tun derzeit auch Abgeordnete in anderen Bundesländern. So wird in Baden-Württemberg ebenfalls über die Einrichtung eines Untersuchungsausschusses diskutiert. Auch hier ist die Piratenpartei engagiert. Ihr Vorsitzender, Martin Eitzenberger, fordert die grün-rote Landesregierung auf, »die Chance am Schopfe« zu packen. »Ein solcher Ausschuss bietet mehr Möglichkeiten, die offenen Fragen zu klären, als eine Enquete-Komission.« Eine solche hatte die SPD befürwortet. In Baden-Württemberg wurde die ­Polizistin Michèle Kiesewetter mutmaßlich vom NSU erschossen. In Hessen wurden im Zusammenhang mit dem Mord an Halit Yozgat, dem Besitzer eines Internetcafés in Kassel, unglaubliche Details bekannt. So war ein Mitarbeiter des hessischen Verfassungsschutzes zur Tatzeit am Tatort. Bei einer Durchsuchung seiner Wohnung wurden Textauszüge aus Hitlers »Mein Kampf« sowie ein Buch über Serienmorde gefunden. Er habe nichts von dem Mord mitbekommen, gab er zu Protokoll. Hessens Innenminister behauptete daraufhin, er habe von dem Vorgang erst aus der Presse erfahren. Einträge in internen Akten widerlegten diese Behauptung allerdings. Die SPD-Fraktion unter Vorsitz von Thorsten Schäfer-Gümbel besteht auf einer Untersuchungskommission.
Die Bilanz der bisher eingerichteten Untersuchungsausschüsse ist allerdings durchwachsen. In Sachsen, Bayern, Thüringen und im Bundestag versuchen Abgeordnete, das systematische Versagen des deutschen Staatsapparates aufzudröseln. Dabei entstanden teils absurde Situationen. Weil die NPD im sächsischen Landtag vertreten ist, stellt auch sie mit Jürgen Gansel und Arne Schimmer je ein Mitglied in den beiden Teilausschüssen. Der frühere Vorsitzende des Untersuchungsausschusses des Bundestags, Sebas­tian Edathy, lehnte daher eine Zusammenarbeit mit Sachsen ab.

Dass ein Untersuchungsausschuss für Sachsen zwingend notwendig war, machte die dortige SPD-Fraktion in einer Mitteilung deutlich. 2012 warf sie dem sächsischen Innenministerium ­Ermittlungsversagen vor. Auslöser war ein Bericht des Innenministeriums an den Innenausschuss des Landtags zum NSU. Die sächsische SPD kritisierte damals: »Klägliche 20 Seiten sieben Monate nach Auffliegen der Terrorgruppe. Für ›Maßnahmen der sächsischen Polizei‹ gibt es davon dürftige drei (!) Seiten. In diesen Seiten werden nur Handlungen dargestellt. Es erfolgt keinerlei Analyse. Es wird überhaupt nicht untersucht, welche Informationen wo vorlagen, wie geteilt wurden und welche Zusammenhänge man hätte suchen müssen.« Der Bericht verharmlose die Tatsache, »dass sächsische Sicherheitsbehörden zwölf Jahre lang eine rechtsterroristische Gruppe in Sachsen übersahen«.
Auch in Nordrhein-Westfalen gebe es erhebliche Defizite bei den Ermittlungen, sagt Rydlewski. »Ich glaube einfach nicht, dass es möglich war, diese Taten zu begehen, ohne sich mit den Örtlichkeiten auszukennen, sowohl in Köln als auch in Dortmund.« Ein Vorbild sieht sie in der Arbeit im Thüringer Landtag. »Da gibt es verschiedene Menschen, die eine gute Arbeit machen, Katha­rina König von den Linken zum Beispiel. Sie berichtet sehr viel von ihrer Arbeit und ist tatsächlich daran interessiert, den Sachverhalt transparent aufzuarbeiten.« So wünsche sie sich das auch in Nordrhein-Westfalen.