Ein Film über den Fall Halimi

Tod eines Juden

Der Fall Ilan Halimi hat 2006 Entsetzen in Frankreich ausgelöst. Jetzt beschäftigt sich ein Spielfilm mit der Entführungsgeschichte.

Kann und darf man eines der entsetzlichsten Verbrechen der jüngeren französischen Geschichte, noch dazu eines mit einem ideologischen Tathintergrund, zum Stoff eines Kinofilms machen? Der französische Regisseur Alexandre Arcady ist dies Wagnis eingegangen, als er sich entschloss, den Foltermord an dem jungen französischen Juden Ilan Halimi in einem Spielfilm zu behandeln. Der Film ist am 30. April im französischen Kino angelaufen und wird derzeit in vielen Pariser Kinos gezeigt.
»24 jours« lautet der Titel des Films – so lange dauerte die Gefangenschaft des 23jährigen Verkäufers Ilan Halmi, eines französischen Juden mit marokkanischem Hintergrund. Halimi war am 21. Januar 2006 von einer Bande entführt worden. Die Gruppe, deren Chef der 25jährige Youssouf Fofana war, nannte sich in den Bekennerbriefen und Erpressungsschreiben »Gang des barbares«. Die kriminelle Gruppe, die mitsamt Helfershelfern und mehr oder weniger eingeweihten Mitwissern gut zwei Dutzend Personen umfasste, hielt ihr Opfer erst in einer Wohnung, dann in einem Kellerversteck in der Pariser Vorstadt Bagneux fest. Ihr Motiv bestand zunächst darin, Geld zu erpressen – eine Lösegeldforderung in Höhe von 450 000 Euro wurde an die Familie des Entführten gerichtet. Antisemitismus spielte insofern eine Rolle, als die Auswahl des Opfers auf der Annahme beruhte, Juden hätten viel Geld.
Die Familie von Ilan Halimi war keineswegs vermögend, der junge Mann arbeitete als Handyverkäufer, seine Mutter als Sekretärin. Vor der Entführung Halimis hatte die Bande bereits mehrfach versucht, Geiseln zu nehmen. Unter den Opfern waren zunächst weiße Franzosen, aber auch ein schwarzer. Später kam Fofana nach wiederholten Misserfolgen jedoch auf den Gedanken, man solle es mit Juden versuchen, da diese nun einmal reich oder zumindest in der Lage wären, das Geld von Unterstützern und Verwandten zu bekommen, da Juden bekanntlich zusammenhielten. So formulierte Fofana es in seinen vor antisemitischen Beleidigungen und Drohungen strotzenden Anrufen an die Familie, in denen er seine Forderungen an diese richtete. Später adressierte er auch ein Forderungsschreiben an einen beliebig ausgewählten Rabbiner.
Halimi war von einer jungen Frau für ein Date in einen Park gelockt worden, wo Mitglieder der Bande warteten und ihn überwältigten. Im Kofferraum eines Auto wurde er in eine Wohnung in der Banlieue gebracht. Dort wurde er an einen Stuhl gefesselt, sein Kopf mit Klebeband umwickelt. Während seiner dreiwöchigen Gefangenschaft erhielt er kaum Nahrung. Wie die Entführer später aussagten, wollten sie es sich ersparen, die Geisel zur Toilette gehen zu lassen. Lediglich etwas flüssige Nahrung wurde ihm mit einem Strohhalm eingeflößt. Das gefesselte und mit Klebeband zugeschnürte Opfer wurde immer wieder geschlagen, für ein Foto des Bekennerschreibens wurde seine Wange mit einem Messer aufgeschnitten, Halimi erlitt Verbrennungen, die ihm mit Zigaretten zugefügt worden waren. Die Entführer, die westafrikanischer, algerischer, portugiesischer und französischer Herkunft und allesamt Schulabbrecher aus den Sozialghettos der Pariser Vorstädte waren, arbeiteten auch mit Bildern jihadistischer Gewalt, insbesondere mit Kriegsbildern aus dem Irak, um möglichst großen Schrecken zu verbreiten. In einem Video, das sie an die Familie sandten, wurde auf die Hinrichtung des US-Journalisten David Pearl angespielt. Pearl war 2002 in Pakistan durch jihadistische Entführer ermordet worden. Sie schnitten ihm die Kehle durch und filmten die Szene. Nach dreiwöchiger Geiselhaft gaben Ilan Halimis Entführer die Hoffnung auf, an das Geld zu kommen. Sie übergossen ihr Opfer mit Säure und einer brennbaren Flüssigkeit, um DNA-Spuren zu vernichten, und ließen ihn in einem Waldstück liegen. Halimi konnte sich bis zu einer nahen Bahnlinie schleppen, wo ihn ein Spaziergänger fand – nackt, mit verbrannter Haut und zahlreichen Knochenbrüchen. Er starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus.
Das Verbrechen hat in der Öffentlichkeit Entsetzen ausgelöst. Ende Februar 2006 demons­trierten mehrere Zehntausend Menschen in Paris »gegen Rassismus und Antisemitismus«. Das Verbrechen ist bis heute unvergessen. Wie aber verfilmt man eine solche Schreckenstat? Stellt man das Leiden des Opfers in den Mittelpunkt und zeigt die Gewalttätigkeit seiner Entführer? Dann würde der Film zur Gewaltorgie werden und plumpen Voyeurismus bedienen. Verzichtet man aber auf die Darstellung der Folter und konzentriert sich auf den gesellschaftlichen Kontext, abstrahiert man von der ungeheuren Brutalität dieser Tat. Dies käme einer Verharmlosung gleich.
Alexandre Arcady hat es mit seinem Film geschafft, beide Klippen zu umschiffen. Szenen roher Brutalität werden zwar immer wieder eingespielt, aber immer nur für Sekunden. Andererseits flüchtet sich der Film nicht in soziologische Erklärungen, die vom konkreten menschlichen Leid abstrahieren würden.
Die Vorlage für den Film ist das 2009 von Ilans Mutter Ruth Halimi veröffentlichte Buch »24 Jours: La Vérité sur la Mort d’Ilan Halimi«. Im Vordergrund des Films steht daher die Auseinandersetzung innerhalb der Familie – vor allem zwischen den geschiedenen Eheleuten Ruth und Didier Halimi – und der Polizei. Allerdings entfernt sich der Film weit von der Realität und der Darstellung Ruth Halimis.
Während die Verzweiflung der Angehörigen wächst, spitzen sich die Konflikte mit dem die Ermittlung leitenden Kommissar und der Polizeipsychologin zu. Die Mutter will der Lösegeldforderung nachkommen, die Polizei ist prinzipiell dagegen. »Lösegeld wird nicht bezahlt, sonst haben wir in Zukunft jeden Tag Entführungen«, heißt es. Man vereinbart schließlich die Zahlung einer kleineren Summe, unter der Bedingung, dass die Geldtasche mit einem Peilsender ausgestattet wird. Doch die Übergabe scheitert auch nach mehreren Anläufen.
Im Laufe des Films gewinnt ein anderer Konflikt an Bedeutung: Es geht um die Frage, ob die Tat antisemitisch motiviert war und ob der Antisemitismus als strafverschärfender Umstand berücksichtigt werden muss. Im Film sagt der ermittelnde Staatsanwalt, im Vordergrund habe die Geldgier der Bande gestanden, weshalb wegen Entführung, Körperverletzung und Mordes zu ermitteln sei, während ein ideologisches Tatmotiv wie Antisemitismus auszuklammern sei. Die Gegenposition nimmt die parallel zu ihm ermittelnde Untersuchungsrichterin ein, aber auch die Mutter: Ihr Sohn sei entführt worden, weil er Jude war.
Auch in ihrem Buch betont Ruth Halimi die Bedeutung des Antisemitismus für die bestialische Tat. Tatsächlich hat sich auch im realen Fall ein Konflikt über diese Frage abgespielt. Wenige Tage nach Zerschlagung der Bande, deren Mitglieder zum Großteil noch in der Woche nach dem Tod Ilan Halimis verhaftet wurden – Youssouf Fofana wurde wenige Tage später von der Côte d’Ivoire, dem Herkunftsland seiner Eltern, ausgeliefert –, änderten die zuständigen Justizbehörden ihre Linie und nahmen ein antisemitisches Motiv als erschwerenden Tatumstand in die Ermittlungen und in die spätere Anklage auf.
Aus dramaturgischen Gründen wird die Auseinandersetzung um den Tathintergrund und die Rolle des Antisemitismus im Film als Konflikt zwischen einzelnen Personen dargestellt. In Wirklichkeit lässt er sich wohl nicht an bestimmten Personen festmachen.
Im Film werden mehrere Versuche zur Geldübergabe gezeigt. In Wirklichkeit ist es dazu nie gekommen. Youssof Fofana, der sich während der Entführung mehrmals in die Côte d’Ivoire abgesetzt hatte und von dort aus telefonisch seine Anweisungen gab, wollte sich zunächst das Lösegeld über den Finanzdienstleister Western Union nach Westafrika transferieren lassen. Dies funktionierte jedoch nicht. Die Übergabeversuche, die in dem Film für Spannung sorgen, haben so nicht stattgefunden. Wenig realistisch ist zudem die Darstellung der Übergabe: Im rasenden Polizeiauto wird der Vater mit Blaulicht zum Übergabeort gefahren. Auch Versuche, Fofana festzunehmen und die Geisel zu befreien, die der Film dramatisch inszeniert, hat es nicht gegeben.
Der Film endet mit Szenen der Festnahme der mehr als 20 Mitglieder und Helfer der kriminellen Bande und mit ihrer Verurteilung. Dabei werden einzelne dokumentarische Filmszenen aus einer Fernsehreportage über die Auslieferung Fofanas eingespielt. Im Abspann erfährt man von der Verurteilung von 18 der Tatbeteiligten, die oft langjährige Gefängnisstrafen erhielten. An dieser Stelle hätte man gerne mehr erfahren: Youssouf Fofana, dem Gutachten psychopathische Züge attestieren, war in der Haftanstalt wiederholt in Gewalthandlungen verwickelt. Er wurde zu zusätzlichen drei Jahren wegen Gewalt gegen einen Wärter verurteilt. Der prominente französische Antisemit Dieudonné M’bala M’bala hatte im Jahr 2010 provokativ die Freilassung Fofanas gefordert. Seine damalige Erklärung wurde zum Gegenstand eines Strafverfahrens wegen Volksverhetzung, endete jedoch im Februar dieses Jahres mit einem Freispruch.
Anfang Mai war Regisseur Alexandre Arcady in eine Talkshow des öffentlich-rechtlichen zweiten Kanals im französischen Fernsehen eingeladen. Dabei kam es zu einem heftigen Streit zwischen ihm und dem Journalisten Aymeric Caron. Dieser warf Arcady vor, die antisemitische Dimension der Tat zu stark zu betonen. Es gebe auch andere Formen von Rassismus, außerdem töte die israelische Armee palästinensische Jugendliche, sagte er. Dies führte zu einem kurzen, aber scharfen Disput. Die gesamte Szene einschließlich der Auslassungen Carons wurde bei der Ausstrahlung der Sendung zwar herausgeschnitten, im Anschluss jedoch durch die neokonservative Journalistin Elisabeth Lévy skandalisiert.
Die Debatte darüber geht weiter: Arcady wurde von der französischen Internetzeitung Rue89 für seine Äußerung »Kein jüdischer Schüler besucht heute mehr eine öffentliche Schule im Bezirk Seine-Saint Denis!« kritisiert. Er überspitze und polemisiere gegen die Bewohner der Vorstadt Seine-Saint Denis. Die Internetzeitung interviewt dazu mehrere Schulleiter aus diesem Bezirk im nördlichen Pariser Vorstadtgebiet, denen zufolge diese Aussage falsch ist. Dass die Zahl der nach Israel ausgewanderten französischen Juden nach der Ermordung von Ilan Halimi deutlich zugenommen hat, ist allerdings unbestreitbar.