Das 51. Theatertreffen in Berlin

Trauerarbeit im Schatten der Weltbank

Das 51. Berliner Theatertreffen würdigt den verstorbenen ­ Regisseur Dimiter Gotscheff.

Das Auditorium versinkt im Dunkel. Allein die Bühne ist erleuchtet, ein leerer quaderförmiger Raum, alle Wände sind in Grau gehüllt. Plötzlich erschallt eine Stimme. Eine Stimme, die man, einmal gehört, wohl kaum wieder vergessen wird. Mit einem ausgeprägten osteuropäischen Akzent werden Verse aus Heiner Müllers Langgedicht »Mommsens Block« von 1993 vorgetragen: »Der Große Oktober der Arbeiterklasse/(…) War ein Sommergewitter im Schatten der Weltbank.« Die Einspielung wirkt wie eine akustische Epiphanie, denn der, der diese Verse spricht, lebt nicht mehr. Es handelt sich um den bulgarischen Theaterregisseur Dimiter Gotscheff. Seine Inszenierung des Heiner-Müller-Stücks »Zement« am Münchner Residenztheater eröffnete das Theatertreffen in Berlin am vergangenen Freitag.
Dimiter Gotscheff ist am 20. Oktober des vergangenen Jahres in Berlin verstorben. Unter dem Titel »Focus Dimiter Gotscheff« wurde sein Lebenswerk auf dem Festival gewürdigt – mit einer Ausstellung, einem Konzert, der Vorführung eines Dokumentarfilms und vor allem mit der Aufführung seiner Arbeiten: »Iwanow«, Tschechows Figuren im Nebel einer zu ihrem Ende kommenden Epoche, »Die Perser« von Aischylos, eine Parabel über historische Siege und Niederlagen, und »Verkommenes Ufer Medeamaterial Landschaft mit Argonauten/Mommsens Block«, eine Inszenierung später Müller-Gedichte.
Ivan Panteleev hat mit »Homo ludens« ein filmisches Porträt des Regisseurs vorgestellt. Gotscheff wurde 1943 in Bulgarien geboren. Anfang der sechziger Jahre studierte er wie sein Vater Veterinärmedizin an der Humboldt- Universität zu Berlin, bevor er sich dem Theater zuwandte und Heiner Müller begegnete. Vielleicht sind seine tierärztlichen Ambitionen nebensächlich, doch erscheinen seine Vorstellunen von einem Theater, das mit den Körpern beginnen, sich den kreatürlichen Ausdruck anzueignen statt ihn auszulöschen habe, davon beeinflusst zu sein. Gotscheffs Interesse lag in der Darstellung des eigenartigen Tieres Mensch in der Gesellschaft. »Immerhin ist der Mensch das Tier, das am besten schauspielern kann«, sagte er.
Im Film sieht man Mitko, wie er von Freunden genannt wurde, wie er aufzutreten pflegte, immer rauchend, die grauen Haare ins Gesicht hängend, die Brille auf der Nasenspitze, zumeist den Gesprächspartner, etwas schalkhaft, bedingt durch den nach vorn gebeugten Kopf, von unten ansehend, schweigend, zuhörend, dann im tiefen Bass seiner Stimme Sätze sprechend wie: »Ich glaube nicht, dass ich ein wichtiger Gegenstand bin.«
Wichtig waren ihm seine Regiearbeiten. »Warten auf Godot« wollte er inszenieren, auch »Dantons Tod«. Realisieren konnte er noch das von Heiner Müller 1972 geschriebene Stück »Zement«, eine Bearbeitung des gleichnamigen Romans von Fjodor Gladkow, der bei seinem Erscheinen in Deutschland 1927 Intellektuelle wie Walter Benjamin beeindruckte, weil er auf Revolutionspathos verzichtete und die Widersprüche und Schwierigkeiten der Sowjetunion von 1920/21 zum Gegenstand machte. Für Benjamin zeigte der Roman »Menschen, die von der Macht, die ihnen zufiel, im Denken und im Sprechen wie durch einen Schlaganfall betroffen wurden; finstere Bürokraten, die verschlagen in ihrem Paragraphenbau wie Füchse hausen; Agitatoren, die an Ideenflucht leiden; Geheimagenten, deren Wirksamkeit auch ihnen selber Geheimnis bleibt – dazwischen aber junge Funktionäre, die jeden Augenblick bereit sind, nicht allein das Leben, sondern den Tag, die Stunde, die Minute restlos in das vollziehende Organ des höheren Willens, wo immer er sie ansetzt, zu verwandeln; Fanatiker, die nichts versprechen, nichts von sich verraten und schweigsam, unvermutet immer an der exponiertesten Frontstelle auftauchen; Erneuerer, die dem proletarischen Programm kraft ihres revolutionären Selbstgefühls auch gegen Komitees und Sowjets zum Siege verhelfen«.
Der Roman, in Deutschland 1933 von den Nazis verbrannt, wurde in der Sowjetunion von Gladkow selbst bis zu seinem Tod 1958 mehrfach im schlechtesten Sinne überarbeitet, »gesäubert«, so dass zur Lektüre ausschließlich die Erstübersetzung von Olga Halpern zu empfehlen ist, die auch Müller verwendet hat.
Die Historie des Stoffs begleitet das Bühnengeschehen. Der graue Vorhang der Rückwand teilt sich, eine einzelne Person im schlichten hellen Gewand (Valery Tscheplanowa) geht in die Mitte der Bühne und lässt einen Ton zwischen Schrei und Gesang erklingen. Eine Totenklage? Die Bühne betritt, verdreckt, in eine Decke gehüllt, Gleb Tschumalow (Sebastian Blomberg), ein Schlosser, der nach drei Jahren Kampf im Bürgerkrieg in seine Heimatstadt zurückkehrt. Das Zementwerk, in dem er arbeitete, ist verwüstet. Seine Frau Dascha (Bibiana Beglau) ist Parteifunktionärin geworden und organisiert das Überleben in Zeiten des Hungers. Das gemeinsame Kind hat sie ins Kinderheim gegeben, wo es sterben wird. Die Beziehung der beiden ist von Kälte geprägt, sie sind durch Bürgerkrieg und Kampf ums Überleben verroht. Die proklamierte Abschaffung des Besitzes, auch des Mannes an der Frau, verändert das Verhältnis. Dascha weist Gleb zurück. Dieser versucht, das Zementwerk wiederaufzubauen. Er benötigt dabei die Hilfe des Ingenieurs Kleist, der zu Beginn des Bürgerkriegs Gleb und andere Kommunisten verraten hatte und foltern und töten ließ. Gleb verzichtet auf die Blutrache und teilt dem Ingenieur mit, dass dessen Kopf nun enteignet sei und der Sowjetmacht gehöre.
Thema des Stücks ist ein Konflikt des Neuen mit dem Alten, privat und kollektiv. Auch andere ringen mit dem Alten, wie der seine Herkunft verachtende Intellektuelle Iwagin und die trotzkistische Revolutionärin Polja, die später beide aus der Partei ausgeschlossen werden. Das wirtschaftliche Prinzip der Neuen Ökonomischen Politik verhindert die Selbstorganisation der Arbeitenden, die Tschumalow zu initiieren versucht. »Die Revolution erstickt sich mit Papier«, ruft er aus.
Intermedien, Müllers Bearbeitungen antiker Mythologie, unterbrechen und reflektieren die dramatische Handlung. Immer auf der Bühne ist eine Gruppe von Personen, gehüllt in Masken der Armut, ein proletarischer Chor, der zumeist nur Objekt der Herrschaft der Bürokratie ist. Doch bei der Errichtung des Zementwerks fallen für einen kurzen Moment die Masken. Kurz darauf wird der Chor wieder zur Dekoration einer Parteiveranstaltung eingesetzt.
»Zement« ist, was Müller »eine proletarische Tragödie in Zeiten der Konterrevolution« nannte. In der reduzierten, körperlich intensiven Bildsprache Gotscheffs werden die Schwierigkeiten eines revolutionären Prozesses deutlich, die Entmenschlichung der Menschen, die Trägheit ihres Begehrens, der permanent drohende Rückfall in den Mythos, in Macht und Gewalt. Gotscheff betreibt, wie es beim Theatertreffen auch versucht wurde, zum Beispiel in einer Inszenierung des Schauspiel Stuttgart von »Onkel Wanja«, keine Aktualisierung. Es wäre auch unmöglich, der Stoff ist fremd geworden. Aber in der strengen, von den Körpern ausgehenden Inszenierung Gotscheffs ermöglicht die Stofffremdheit die Anschauung der individuellen wie der kollektiven Verstrickung. »Wir stecken bis zum Hals im Kapitalismus/Und Morgen wird gemacht aus Jetzt und Hier./Nämlich der Kommunismus ist kein Traum,/Genossin, sondern eine Arbeit, unsre«, sagt Tschumalow. Das Scheitern der Arbeit an diesem Traum im 20. Jahrhundert ist der Gehalt dieser Inszenierung, eine große Totenklage, eine umfassenden Trauerarbeit des sozialistischen Entwurfs, der auch der von Müller und Gotscheff war – so hat sich der große Regisseur Dimiter Gotscheff von der Bühne verabschiedet.

Zement. Residenztheater München. Nächste Aufführung: 9. Juni
Die Perser. Deutsches Theater Berlin. Nächste Aufführung: 17. Juni
Leeres Theater. Thalia-Theater Hamburg. Nächste Aufführung: 27. Mai