Normcore verstärkt die Tyrannei der Discounter-Mode

Mimikry ans Amorphe

Normcore verherrlicht das Mitschwimmen in der Masse und verstärkt die Tyrannei der Discounter-Mode.

Der Chor von selbsternannten Trendscouts, Innovationsanalysten und sonstigen Wichtigtuern stimmt derzeit einen besonders einvernehmlichen Lobgesang an. Ein neuer Zauber bindet wieder, was der Mode Schwert geteilt. Verkündet werden frohe Botschaften: Das Ende des Rattenrennens. Der Schlusspunkt hinter allem Distinktionsgebaren. Die Erlösung von jeglicher Extravaganz. Never mind the fashion, here comes the Normcore.
Die New Yorker Agentur K-Hole ist so etwas wie die Wettervorhersage für gesellschaftliche Trends. Vor einem Jahr prognostizierte sie einen Orkan, der über die Modewelt hereinbrechen werde. Ob Haute Couture oder Prêt-à-porter, nichts könne ihm standhalten, so die Prophezeiung. Hinweggefegt würden die Krawatten und Cocktailkleider dieser Welt. Übrig bleiben dürfe einzig das Unauffällige, Durchschnittliche und Ausdruckslose. Kurzum: das Hardcore-Normale.
Das Wort K-Hole steht im Szenejargon für einen Zustand der Bewusstlosigkeit bei Überdosierung des Pferdebetäubungsmittels Ketamin. Wie zutreffend, möchte man meinen, liest man die Thesen der Agentur: »Normcore strebt nicht nach der Freiheit, sich zu einem bestimmten Menschen zu entwickeln, sondern nach der Freiheit, mit allen Menschen zusammenzusein.« Weitere Kostprobe gefällig? »Normcore überwindet die Coolness, bei der es um Abgrenzung geht, und strebt eine neue, post-authentische Coolness an, die nach Gleichheit strebt.« Die anvisierte Normalität sei eine, in der es möglich sei, endlich wieder »über das Wetter zu sprechen« und nicht mehr über »den Traum der vergangenen Nacht«. In anderen Worten: Das angeblich selbstverliebte ­Geschwätz der Hipster soll voraussetzungslosen Themen weichen, bei denen dann aber alle mitreden können.
Dass es sich hierbei weder um einen schlechten Scherz noch um einen Horrortrip handelt, beweist der Anblick der wandelnden Schaufensterpuppen des Stumpfsinns in bundesdeutschen Fußgängerzonen. Multifunktionsjacken, Fleecepullover und Tennissocken in Birkenstocksan­dalen lassen nur einen Schluss zu: Es scheint tatsächlich als befreiend empfunden zu werden, dass man sich nun endlich »locker machen kann im Streben nach Individualität und Authentizität«.

Gefeiert wird Normcore als Antithese zum sogenannten Hipstertum, dem seit Jahren beharrlich das Ressentiment entgegenschlägt, unauthentisch zu sein, Individualität nur vorzutäuschen und Originalität nur zu fingieren. Während beim Hipster aber der Schleier der inhaltsleeren Ironie die Zurichtungen des Alltags noch ein Stück weit zu verdecken vermag, bricht sich im Normcore die gesellschaftliche Rohheit und Unkultur unvermittelt Bahn. Nicht mehr die Möglichkeit der Reflexion von Differenz, sondern das entspannte Mitschwimmen in der Masse wird glorifiziert. »Wir alle leiden darunter, permanent etwas Besonderes sein zu müssen«, verkündet Emily Segal, Mitbegründerin von K-Hole, Normcore schaffe deswegen endlich »ein bisschen Luft zum Atmen«. Was mit Normcore aber wirklich ins Licht rücken könnte, ist die in weiten Teilen der Linken gehegte Aversion gegen Mode. Nicht nur, dass es eine verblüffende Affinität zwischen Normcore und linken Szenecodes gibt, auch viele Argumente der Trendscouts klingen erstaunlich vertraut. So werden Träger geschmackvoller Kleidung gerne pauschal als Exponenten eines falschen Bedürfnisses unter kapitalistischen Verhältnissen denunziert.
Dabei stand Mode trotz aller Gefahr der kulturindustriellen Vereinnahmung stets in einem Spannungsverhältnis von Partizipation und Distinktion, Konformismus und Individualismus, Zurschaustellung und Tarnung. Ihre sich stets revidierende, die Gegenwart verneinende, unstete Tendenz ist die Antithese zum Ewigen, ein Gegengift zur Berechenbarkeit der Welt, der Verhärtung von Strukturen und dem Aussterben von Spontaneität. Anders als die Behauptung von der Knechtschaft unter der Diktatur der Mode unterstellt, hat sie »gegen ihre Verächter als Stärkstes anzuführen, dass sie an der triftigen, mit Geschichte gesättigten individuellen Regung partizipiert« (Adorno).
Normcore ist demgegenüber die kleidungstechnische Repräsentation des realen Bedeutungs- und Sinnverlustes, den die Menschen tagtäglich erleben, und verfestigt die Tyrannei der Discounter-Mode, der Unzählige schon jetzt schutzlos ausgesetzt sind. In Zeiten eines triumphierenden geistigen Normcore gleicht der Trend somit eher einem Plädoyer für die Vereinheitlichung der Häftlingsbekleidung im Freiluftgefängnis.