Deutsche Kulturpfleger haben Angst vor dem US-Kapitalismus

Die Einheit in der Vielfalt

Wie der deutsche Kulturbetrieb gegen die Einführung des amerikanischen Kapitalismus kämpft, hat Bettina Fellmann anlässlich einer Veranstaltung in der Berliner Akademie der Künste beobachtet.

Die Deutschen mögen glauben, was sie lügen – sie wissen dennoch sehr genau, was sie aus freien Stücken nicht begreifen wollen. Das zeigte exemplarisch eine politische Kulturveranstaltung, die im Mai an der Akademie der Künste in Berlin stattfand. Ihr Titel lautete: »Verteidigt die Kultur! Das Freihandelsabkommen«.
Klaus Staeck, Präsident der Akademie, hatte Vertreter von Politik, Gewerkschaften, Kultur und Medien zum Gespräch über das Freihandelsabkommen TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership) geladen; gesendet wurde die Diskussion wenige Tage später im Deutschlandfunk und im WDR 3. Die politische Absicht der Veranstaltung bestand darin, die Öffentlichkeit über den »heimlichen Staatsstreich« (Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung) beziehungsweise den »Staatsstreich in Zeitlupe« (Lori Wallach in Le Monde diplomatique) aufzuklären, der mit diesem Abkommen in die Wege geleitet werde.
Die angekündigte Aufklärung ging mit der Forderung einher, Kunst und Kultur müssten in den seit Juli 2013 laufenden Verhandlungen über den Freihandel zwischen den USA und der Europäischen Union eine Sonderstellung einnehmen, damit deren jeweils besonderer Nationalcharakter vor dem Verschwinden im amerikanischen melting pot geschützt werde. Nach Inkrafttreten des Abkommens drohe deutschen Kulturgütern das Herabsinken zu »ordinären« Waren, gleich denen amerikanischer Provenienz, denn in Deutschland sei »Kultur keine Ware wie andere Industriegüter«. Bedauernd teilte Klaus Staeck mit, trotz intensiver Suche habe man niemanden gefunden, der dieser von allen Diskutanten geteilten Ansicht habe widersprechen wollen. Zwar habe die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung einen abweichenden Kommentar zum Thema veröffentlicht, der aber sei »haarsträubend« gewesen und der Autor »als Gegenstimme nicht ernst zu nehmen«. Das Publikum müsse sich also mit einem Podium zufriedengeben, auf dem bereits vorweg alle einer Meinung seien. Diese zeichnete sich durch eine atemberaubende Idealisierung deutschen und europäischen Kunst- und Kulturguts, durch die Leugnung deutscher Wirtschaftsinteressen auf dem Binnen- und Weltmarkt und die Projektion letzterer auf den vermeintlich US-amerikanisch dominierten Teil der Welt aus, von dem aus der Siegeszug des Neoliberalismus gegen Rechtsstaat und Demokratie vorbereitet und durchgeführt werde; genau durch jene Arroganz und Überheblichkeit also, die gemeinhin den Amerikanern unterstellt wird – eine Unterstellung, die in Deutschland ebenso zum Common Sense gehört wie die gern behauptete Dummheit der Nordamerikaner.
Wie angekündigt, war es eine vorentschiedene ideologische Schlacht, von der sich das Publikum, dem regelmäßigen Applaus und Gelächter nach zu urteilen, vielleicht gerade deshalb gut unterhalten fühlte. Die Ehre, einen der ersten Hiebe auszuteilen, hatte die Staatsministerin für Kultur und Medien, Monika Grütters, deren Begrüßungsrede folgendermaßen begann: »Wir befinden uns im Jahre 50 vor Christus. Ganz Gallien ist von den Römern besetzt … Ganz Gallien? Nein! Ein von unbeugsamen Galliern bevölkertes Dorf hört nicht auf, dem Eindringling Widerstand zu leisten.« So fühlten wir uns derzeit in Europa, meinte sie und legte auf diese Weise nahe, die amerikanische Zivilisation sei als Besatzungsmacht nach dem Modell der Römer im Lande von Asterix und Obelix zu verstehen.
Die Vertreter von Kultur und Politik lachten über die Metapher von den »römischen« USA und den »gallischen« Deutsch-Europäern, als hätte die von der Kulturstaatsministerin augenzwinkernd ins Spiel gebrachte alliierte Besatzung keinen wirklichen, blutigen Grund gehabt – und als hätten diesen nicht die Deutschen selbst auf unvorstellbare Weise bereitet. Der Bruch mit dem Nationalsozialismus wurde von außen herbeigeführt, maßgeblich von den USA, und musste mit äußerster Gewalt durchgesetzt werden. Auch im weiteren Verlauf wurde er nur an der Oberfläche vollzogen: Die Demokratie wurde von den Siegern installiert und die Verlierer mussten sie pflegen. Das tun sie seitdem mit deutscher Gründlichkeit, aber ohne jede Fähigkeit zur Selbstreflexion, denn die Frustration über die Niederlage und die Verluste ist zu groß und der Schrecken angesichts der eigenen Taten kaum vorhanden. Konsequent führte Grütters die gegenwärtige deutsche Erinnerungskultur ins Feld, um den drohenden Verlust der »kulturellen Identität« beziehungsweise der »Identität als Kulturnation« noch eindrucksvoller zu beschwören. Der amerikanische »Generalangriff«, den das Freihandelsabkommen bedeute, gelte nämlich auch der »gewachsenen« deutschen Demokratie.
Während die Deutschen danach strebten, soziale, kulturelle und wirtschaftliche »Standards« zu verwirklichen, betrieben die Amerikaner schnöde Machtpolitik und trachteten allein nach ihrem Vorteil. Diesen Ambitionen stünden Deutschland und Europa hilflos gegenüber, sie seien dem »Diktat der Amerikaner« ausgeliefert. Für Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall, lautete die zentrale Frage in Bezug auf das Freihandelsabkommen: »Geht das Ganze mehr in Richtung Kapitalismus oder in Richtung Demokratie?« Zur Zeit scheine sich »mehr auf der Kapitalismusschale« zu befinden. Lautet die sonst in Deutschland an Schulen und Universitäten gelehrte Dichotomie, hanebüchen genug, »Raubtierkapitalismus« (USA) versus »soziale Marktwirtschaft« (Deutschland), steht damit ein ganz anderer Gegensatz im Raum, der von Kapitalismus und Demokratie – ersterer in den USA, letztere in Deutschland angesiedelt. Genau in dieser ideologischen Gegenüberstellung komme die, so Grütters durchaus treffend, »kulturelle Identität« zum Ausdruck, die »ein Wesenzug der Kulturnation Deutschland« sei und »die Grundlagen unseres Kulturverständnisses« ausmache. In dieser Hinsicht hätten »die Europäer deutlich mehr zu verlieren als die Amerikaner«. Doch war das geschäftsführende Gewerkschaftsvorstandsmitglied Urban noch nicht am Ende seiner Überlegungen: Kunst und Kultur seien in Deutschland »keine handelsübliche Ware«, Arbeit sei das »aber auch nicht«, ebenso wenig die »Arbeitskraft«. Selbst für einen deutschen Gewerkschafter sind das eigentümliche Worte. Wie sie mit der gegenwärtig lancierten Werbekampagne des DGB (»Ich bin keine Ausnahme«) vereinbar sein sollen, ist unklar, scheint doch das ganze Land, wo Kunst und Arbeit auf mysteriöse Weise unberührt vom Tauschwert sind, eine einzige Ausnahme zu sein.
Ausdauernd und mit differenzierter Redundanz wurde danach auf den immergleichen Punkt gebracht, wie die Dinge in Europa und insbesondere in Deutschland lägen: Dort herrschten »kulturelle Vielfalt«, »Meinungsvielfalt«, »Meinungspluralität«, »Meinungsfreiheit«, »Einheit in der Vielfalt«, »Heterogenität«, »Mannigfaltigkeit«, »Vielfalt«, »eine vielfältige Kultur«, »ein Kulturmodell der Vielfalt« – in den USA dagegen warenförmige Homogenität, deren Einförmigkeit sich schon daraus ableiten lasse, dass es sich bei den Vereinigten Staaten um ein einziges Staatsgebiet handle und nicht, wie in Europa, um viele einzelne Nationalstaaten. Während hierzulande alles »Ausdrucksmittel kultureller Vielfalt« (Gerhard Pfennig, Sprecher der Initiative Urheberrecht) sei, sei in den USA alles nur Mittel zum Zweck. Keine Rede davon, dass die Bundesrepublik und die Europäische Union eine bedrohliche Integrationsfähigkeit gegenüber faschistischen Bewegungen beweisen, die innerhalb der demokratischen Ordnung um sich greifen.
Trotz dieses rhetorischen Abwehrkampfes fühlten sich beinahe alle Redner verpflichtet, hervorzuheben, sie seien erklärte Befürworter des Abkommens, keiner von ihnen habe ein Problem mit freiem Handel, der sei ja kein Teufelswerk, nur: Der Markt solle eben nicht weniger reguliert werden, wie es die Amerikaner anstrebten, sondern besser, eben im Sinne der Deutschen. Als am Ende ein Herr von der Vereinigten Dienstleistungsgewerkschaft mahnte, doch nicht zu vergessen, dass das Kapital eine internationale Angelegenheit sei, konnte Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, dem sofort beispringen: Selbstverständlich seien auch deutsche Firmen ein Problem. Das Ersticken deutscher und europäischer Kunst und Kultur durch »kommerzielle Alternativen« drohe aber von den USA. Außerdem ist, wie man ja weiß, das Finanzkapital ohnehin heimatlos.
Deshalb haben die Kulturschaffenden in Deutschland sich wegen des Freihandelsabkommens mit politischen und globalisierungskri­tischen Verbänden »gegen amerikanische Konzerne« verbündet – und nicht gegen Obama, wie Klaus Staeck betonte, denn man sei nicht antiamerikanisch. Die »organisierte Zivilgesellschaft«, so der Präsident des Deutschen Kulturrates, Christian Höppner, solle dafür sorgen, dass die kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Besonderheiten Deutschlands und Europas bei den Verhandlungen, die eigentlich keine seien, berücksichtigt würden; im besten Fall könnten so »unsere Standards den Amerikanern nähergebracht werden«.
Dieses Unterfangen ist nichts weniger als rechtmäßig: 1968 wurde ins Grundgesetz ein Passus eingefügt, der lautet: »Gegen jeden, der es unternimmt, die (demokratische und soziale) Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.« Als der französische Botschafter Maurice Gourdault-Montagne monierte, der Veranstaltungstitel »Verteidigt die Kultur!« sei ihm zu defensiv, rief Staeck mit großer Geste aus, Verteidigung sei durchaus etwas Aktives, und er und seine nicht ausgelasteten Kulturgenossen seien »bereit zum Kampf« – »und wenn wir uns dann noch mit der Arbeiterklasse verbünden!« Dann würden sie gemeinsam von den kapitalistischen Zuständen getrieben werden, die die Deutschen noch immer anderen austreiben zu können behaupten.