»Kinderland«, ein Comic über Jugendliche in der DDR

Fetzt urst ein

Eine Jugend in der DDR: Mit dem autobiographischen Comic »Kinderland« ist dem Berliner Zeichner Markus »Mawil« Witzel ein Meisterwerk des Genres gelungen.

Beim staatseigenen DDR-Musiklabel Amiga erschien 1982 die Platte »Lieder aus dem Kinderland« mit 16 Songs des Liedermachers Gerhard Schöne. Die Platte wurde schnell und flächendeckend populär. Noch heute gehört sie zum kollektiven Gedächtnis jener, die das letzte Jahrzehnt der DDR als Kinder erlebt haben. Im ersten Song, »Kinderland«, entwirft Schöne in mehreren Strophen das Bild eines für Erwachsene unzugängli­chen, magischen Ortes, wo es keine Schulpflicht und keinen Gehorsam gibt, allerdings nur, um den Kindern ihr Utopia auch gleich wieder madig zu machen. Denn eigentlich, so wird fröhlich geschlussfolgert, möchten die Kleinen lieber bei der Familie (im »Mutterland«) bleiben, als weit weg von zu Hause in den Tag hineinzuleben.
Die überraschende Wendung war mir als Kind und braver Gerhard-Schöne-Fan überhaupt nicht aufgefallen, und erst jetzt gibt es einen Anlass, die aus guten Gründen lange nicht gehörte Platte noch einmal aufzulegen: Der Berliner Comic-Zeichner Mawil hat sieben Jahre nach der Veröffentlichung seines Sammelbands »Action Sorgenkind« eine neue Geschichte vorgelegt. Seine Graphic Novel mit dem Titel »Kinderland« erzählt von einer Ostberliner Kindheit, die wie der Arbeiter- und Bauernstaat unaufhaltsam auf ihr Ende zusteuert. Anders als im Kinderliedklassiker träumt sich der Protagonist allerdings nicht in eine ferne Phantasiewelt, sondern hat mit ganz irdischen Problemen zu kämpfen.
Mirco Watzke, Schüler der 7. Klasse, ist pflichtbewusster Thälmann-Pionier und altkluger Musterschüler. Dies macht ihn zur bevorzugten Zielscheibe für den Spott der älteren Rowdies vom Schulhof. Nur durch überragende Leistungen im fanatisch betriebenen Pausensport Tischtennis kann sich Mirco den Respekt seiner Mitschüler nach und nach erkämpfen. Endgültige Anerkennung verheißt die Ausrichtung ­eines Pingpong-Turniers gegen den Willen der Pionierleitung. In diesem Turnier zu bestehen, wird zu seinem wichtigsten Ziel und zu einem Katalysator seiner Veränderung. Erste Vorboten der Pubertät und die sich entwickelnde Freundschaft mit dem mysteriösen neuen Mitschüler Torsten Maslowski tun ihr Übriges, so dass in dem kindlich-naiven Helden allmählich Selbstbewusstsein und Aufmüpfigkeit gegenüber den Autoritäten Elternhaus und Schu­le aufkeimen.
Zweifellos lässt sich das Coming-of-Age des Mirco Watzke als sinnbildlich für das Erstarken der ostdeutschen Opposition und Bürgerrechtsbewegung in den achtziger Jahren lesen. Die von so unterschiedlichen Typen wie der ehrgeizigen Angela Werkel und dem verbitterten Politikverweigerer Torsten geprägte Schülergemeinschaft ist ein Miniaturmodell der DDR-­Gesellschaft. Der nachlassende Einfluss der Schu­le als sozialisierende Instanz wird anschaulich, wenn die Schüler zum Fahnenappell auf dem Hof antreten. Während die jüngeren Schüler noch gewissenhaft den Pioniergruß »Immer bereit!« schmettern, hat sich unter den älteren Teenagern längst freche Nachlässigkeit breitgemacht. Die Angehörigen der Jugendorganisation FDJ sind nicht die einzigen, die die Zeremonie ohne Begeisterung über sich ergehen lassen. Eine Lehrerin gähnt heimlich. Der nicht zur Pionierorganisation gehörende Torsten steht mit verschränkten Armen zwischen seinen Klassenkameraden, und Mirco verwechselt zerstreut den Pioniergruß mit dem »Amen« in der Kirche. So richtig stört sich allerdings am zivilen Ungehorsam nicht einmal die strenge Pionierleiterin. Bald wird es ohnehin vorbei sein mit dem Militär- und Fahnenkult.
Trotz des historischen Kontextes wird die Erzählung nicht mit allegorischen Bezügen zur DDR-Geschichte überfrachtet. Vor allem wird mitreißend von Kindheit und Jugend mit ­ihren Fallstricken erzählt. Es liegt an der Biographie des Autors, dass sich die vordergrün­dig banalen Ereignisse in einer besonders geschichtsträchtigen Zeit zutragen. Markus »Mawil« Witzel wurde 1976 in Ostberlin geboren. Obwohl er »Kinderland« nicht aus der Ich-Perspektive erzählt, sind autobiographische Motive und Querverweise zu früheren Arbeiten unübersehbar, etwa wenn sich Mirco Watzke mit den gleichen Klavieretüden herumplagen muss wie Musikschüler Mawil in dem 2004 erschienen Comic »Die Band«.
»Kinderland«, im Mai im Berliner Comic-Verlag Reprodukt veröffentlicht, ist mit fast 300 colorierten Seiten Mawils bisher umfangreichste Veröffentlichung – und seine beste. Das sah auch die Jury des Erlanger Comic-Salons so, die das Buch mit dem Max-und-Moritz-Preis auszeichnete. Mit dem Thema Kindheit hat sich Mawil in beste Gesellschaft begeben. Von Beginn an sind Comics mit kindlichen Hauptfiguren bevölkert, beispielsweise die US-amerikanischen Zeitungsstrips »Little Nemo« und »The Yellow Kid«. Über »Peanuts« von Charles Schulz, der Kindheit als Zeit ungeheurer Verletzlichkeit und Unsicherheit zeigte, führt die lange Entwicklungsgeschichte schließlich zu einigen der erfolgreichsten und faszinierendsten Graphic Novels der vergangenen Jahre. Craig Thompsons »Blankets«, Phoebe Gloeckners »A Child’s Life« und »Epileptic« von David B. widmen sich Kindheit und Adoleszenz, oft mit autobiographischem Bezug. Das in der Kindheit prägende Medium Comic bleibt für den erwachsenen Autor das Ausdrucksmittel der Wahl. Auch Mirco Watzke liest in »Kinderland« natürlich gern die bunten Bildgeschichten. Im Vergleich zu den bisweilen traumatischen Kindheitserfahrungen in den genannten Comics ist sein Ostberliner Alltag vielleicht unspektakulär und behütet, aber bei allem Witz und aller Überzeichnung der Charaktere ist immer eine Figur zu erkennen, deren Unbeholfenheit jedem ehemaligen 13jährigen vertraut sein dürfte.
Glaubwürdige Figuren und der stilsichere Einsatz genrespezifischer narrativer Mittel machen »Kinderland« so lesenswert. Vor allem Mawils Gestaltung von Zeit und Rhythmus lässt den Leser tief in die Welt seiner Charaktere eintauchen. Während eine morgendliche Busfahrt des verschlafenen Mirco über mehrere stille Seiten hinweg ausgebreitet wird, verdichtet sich die Szenerie während der zahlreichen Tischtennismatches zu hektischen Kämpfen auf Leben und Tod. Die Handlung wird konsequent aus der Sicht der Kinder erzählt. So ist nicht etwa die Öffnung der Mauer der dra­matische Höhepunkt, sondern ein auf sagenhafte 31 Seiten gedehntes Tischtennisdoppel auf dem Pausenhof, dessen zeichnerische Expressivität einem Superheldencomic würdig ist. Das ist nicht nur sehr unterhaltsam, sondern zwingt den Leser auch zum atemlosen Mitfiebern. Das Match ist Mirco wichtiger als all die Ungereimtheiten in seinem Leben: ­Seine Eltern sprechen heimlich von Fluchtplänen, er soll nicht über seine Zugehörigkeit zur katholischen Kirche reden, und eine Mitschülerin erscheint plötzlich nicht mehr zum Unterricht. Die Anzeichen für staatliche Repression und beginnenden Umbruch sind vorhanden, aber fast ausnahmslos der Welt der Erwachsenen zugeordnet. Sie erscheinen als Karikaturen und erinnern stilistisch an Mawils frühere Comics. Den höchsten Unterhaltungswert haben die furiose Pionierleiterin Frau Kranz und der rachitische Sportlehrer Herr Plagwitz, aber auch sonst wimmelt es vor angsteinflößenden und sehr komischen Erwachsenen. Unter den Kindern ist es vor allem Torsten, der unter der offiziell verordneten Ausgrenzung leidet. Das seltsame Verhalten der Erwachsenen wird ihm allerdings weder im familiären noch im schulischen Rahmen erklärt, was genau wie bei Mirco zu großer Verunsicherung führt.
Mirco Watzke ist die erste Comicfigur, mit der ich richtig viel gemeinsam habe. 1989 wohnte ich mit meinen Eltern und meiner kleinen Schwes­ter in einer Plattenbauwohnung in Berlin-Hohenschönhausen. Ich war stolzer Jungpionier und fuhr jeden Morgen mit der Straßenbahn in den Nachbarbezirk Weißensee in eine Schule mit besonders frühem Russisch-Unterricht. Zuerst fiel der Sportunterricht weg, weil der Lehrer verschwand, dann gab es keine Pioniernachmittage mehr. Der erste Ausflug nach Westberlin, die aufgeregten Eltern: Geschichten von Wendeerfahrungen klingen immer ähnlich, insbesondere wenn man zu klein war, um die politische Tragweite auch nur annähernd zu verstehen, und sich an die erste Cola erinnert, statt an historische Reden. Plötzlich davon zu lesen, aus ebenjener eingeschränkten kindlichen Perspektive, ist ein neues Erlebnis.
»Kinderland« ist weder ein Nostalgietrip, noch beschwört es eine ganze Generation von Wendekindern mit gemeinsamen Verlusterfahrungen herauf. Wer 1989 auch Kind im Osten war, kann sich beim Lesen durchaus über heimelige Momente des Wiedererkennens freuen. Mawil hat die üblichen Objekte der mittlerweile musealisierten DDR-Alltagskultur wie Ikarus-Busse, Mosaik-Hefte und braune Trainings­anzüge im Comic untergebracht und scheint ein besonders gutes Gedächtnis für das spe­zifische Fachvokabular zu haben, mit dem die Tischtennisspiele auf dem Pausenhof kommentiert wurden. An Ausdrücke wie »Kellenwechsel« und »Dreisterner« hatte ich wirklich lange nicht gedacht. Es macht mehr Spaß, an solche Details erinnert zu werden, als eine Ostberliner Plattenbauherkunft wahlweise als Stigma oder als Chance präsentiert zu bekommen. Kurz: »Kinderland« taugt nicht zru Identitätsstiftung oder als eine Art »Zonenkinder« in Comicform. Zum Glück.
Mawil ist mit »Kinderland« eine lebhafte, klug erzählte Momentaufnahme der aufregenden Phase zwischen Kindheit und Jugend gelungen. Der aus seinen anderen Arbeiten vertraute Wortwitz und sein dynamischer Zeichenstil funktionieren auch in der langen Erzählform. Lange keinen so amüsanten und zugleich smarten Comic gelesen – oder um es gleich mit den Worten der Klasse 7a zu sagen: fetzt urst ein.

Mawil: Kinderland. Reprodukt-Verlag, Berlin 2014, 280 Seiten, 29 Euro