Eine Soziologin, gegen die Akif Pirinçci auf seinem Blog hetzt, erhält Morddrohungen

Hass und Heteronormativität

Der Schriftsteller Akif Pirinçci postete auf Facebook Hasstiraden gegen die Soziologin Elisabeth Tuider, die ein sexualpädagogisches Buch herausgegeben hat. Nun erhält die Kasseler Professorin Mord- und Vergewaltigungsdrohungen.

Hassanfälle hat er täglich. Jedenfalls lässt er sie in dieser Frequenz raus. Frauen, Grüne, Muslime, Schwule, Linke, Asylbewerber, Beamte, Politiker – über sie alle fällt Akif Pirinçci in seinen Blogeinträgen her, wie ein durchgeknallter, bösartiger Wiedergänger Thilo Sarrazins.
Ende März veröffentlichte der Sohn türkischer Einwanderer »Deutschland von Sinnen. Der irre Kult um Frauen, Homosexuelle und Zuwanderer«; nach Meinung der Süddeutschen Zeitung »kein Buch, sondern eine Schlägerei«. Der Manuscriptum-Verlag verkaufte es über eine halbe Million Mal  – Pirinçci hat seither eine begeisterte Fangemeinde von alten und neuen Rechten.
Am 3. Juli postete Pirinçci auf Facebook einen »Nach Puffreis in den Puff« überschriebenen Eintrag über die Kasseler Soziologieprofessorin Elisabeth Tuider. Die hatte 2012 das Buch »Sexualpädagogik der Vielfalt« herausgegeben. Pirinçci war sie offenbar jetzt aufgefallen, weil kurz zuvor die Hessisch-Niedersächsische Allgemeine Tuider interviewt hatte. Dabei erklärte die Genderforscherin, weshalb sie in ihrem Buch unter anderem Aufgaben für den Sexualkundeunterricht vorschlägt, in denen es um Analverkehr, Sexspielzeuge oder die Einrichtung eines Bordells geht. Die sexualpädagogische Praxis zeige, »dass einige Kinder und Jugendliche Fragen zu Themen wie sexuelle Praktiken, Sexspielzeug oder BDSM haben«, sagte Tuider. Der zunehmende Kontakt mit Pornographie werfe »bei den Jugendlichen Fragen auf«. Diese zu beantworten, dabei wolle sie Lehrern helfen.

Pirinçcis Wutanfall fiel selbst für seine Verhältnisse heftig aus: »Noch vor 30 Jahren hätte man so eine Alte in den Knast gesteckt und sie so lange dort behalten, bis sie verrottet wäre.« Tuider sei eine »dumm schwätzende und ausschließlich ihr abartiges Sexualleben im Auge behaltende irre Lesbe« und »sexbesessene Zwangsjackenkandidatin«. Pirinçcis Fangemeinde likte die Ausfälle fast 1 000 Mal, vielen der über 300 Kommentatoren gelang es, Pirinçci in Sachen Obszönität, Gewaltphantasien und Aggression noch zu überbieten. Die schlimmsten Einträge wurden offenbar inzwischen gelöscht, finden sich aber als Screenshots noch auf anderen Websites.
Ein Offenburger Rechtsanwalt etwa schlug vor, »das Päderastenweib in ihrer Wohnung im Gangbang-Style anal zu penetrieren« – also eine Gruppenvergewaltigung. Und ein Esslinger Unternehmensberater regte an, »diesen Genderlesben und Politikern jeweils 8 x 9 mm in das dumme Gehirn zu jagen«, was diese »100prozentig verdient hätten«.

Tuider wird seither abgeschirmt. Ihre Kontaktdaten hat sie von der Homepage der Universität gelöscht. Interviewanfragen lehnt sie ab. Auf Anraten der Universität und einer Anwältin wolle sie auf Pirinçcis Attacke »nicht reagieren«, schrieb sie am 8. Juli in einer Rund-Mail an andere Wissenschaftler. Sie sei einige Tage »abgetaucht«, doch habe dies »die Mails und Kommentierungen im Netz nicht beruhigt«. Die Kassler Universität stellte eine moderat gehaltene Erklärung auf ihre Website. Ohne Tuider namentlich zu erwähnen, schreibt sie, dass »ihre Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich einer kontrovers geführten Auseinandersetzung mit Ergebnissen ihrer Forschungstätigkeiten stellen, solange sie sachlich geführt wird«. Persönliche Angriffe auf Angehörige dieser Universität weise diese zurück. »Auch in den sozialen Medien haben Regeln des angemessenen Umgangs zu gelten.«
Deutlicher wurde der Merseburger Genderforscher Heinz-Jürgen Voß. Er schrieb einen mit »Gegen rechten Hass – für eine engagierte Wissenschaftler_in« betitelten Solidaritätsaufruf für seine Kollegin. »Professor_in Elisabeth Tuider forscht für eine zeitgemäße und demokratische soziale Arbeit«, heißt es dort. Sie gehöre »zu den großen Wissenschaftler_innen, die man in einer demokratischen Gesellschaft schätzt. Dass sie damit Hetzern vom rechten Rand ein Dorn im Auge ist, ist klar«. Das galt daraufhin auch für ihn: »Prof. Dr. Heinz-Jürgen Voß ist ein geisteskranker Schwuler«, postete Pirinçci. Der Professor ließ sich dies nicht bieten und zeigte ihn an. Ihn überrasche nicht, dass Pirinçcis Hasstirade im Netz solchen Zuspruch bekommen habe, sagt Voss: »Das ist eine Diskussionskultur, die mit Sarrazin aufgekommen ist.«
Auch das ehemalige Vorstandsmitglied der Fachgesellschaft Gender Studies, die Münchner Sozi­ologin Paula-Irene Villa, überrascht die Heftigkeit nicht. »Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, die sich mit Gender und Sexualität beschäftigen, werden immer wieder attackiert, das ist nicht neu.« Es gebe »viele Leuten die ›antigenderistisch‹ unterwegs sind und das Feld der Gender Studies diffamieren, als ›Feminazis‹, die auf Steuerkosten die eigene Karriere vorantreiben«. Villa will das Phänomen untersuchen. Für den kommenden Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie plant sie gemeinsam mit der Berliner Geschlechterforscherin Sabine Hark eine Arbeitsgruppe »Antigenderismus als Krisendiskurs«.

Aggressive Gruppen, die sich gegen gesellschaftliche Modernisierung wehren, gebe es so lange wie die Moderne selbst, sagt Villa. »Die behaupten dann, das Abendland geht unter, wenn man die Ehe öffnet für mehr als Hetero-Paare.« Gleichwohl stelle sich die Frage, wie die heutige Bewegung zu deuten sei: »Sind das Modernisierungsverlierer oder Modernisierunsgverängstigte, die sich gegen eine Pluralisierung wehren? Und hat das etwas mit Prekarisierung zu tun?« Villa sieht den »Antigenderismus« als Teil eines größeren Diskurses, der »Political Correctness als Feind stilisiert« und dabei »antietatistische, antidemokratische Affekte« bediene.
Thomas Viola Rieske vom Berliner Institut für Bildung und Forschung, »Dissens«, zieht Parallelen zwischen Pirinçci und den jüngsten Protesten gegen den Bildungsplan in Baden-Württemberg. Dort hatten Evangelikale versucht, die Aufnahme sexueller Vielfalt als Lehrinhalt zu verhindern. »Das ist eine Angstdebatte von Leuten, die fürchten, dass Heterosexualität nicht mehr das sein könnte, was normal ist«, sagt Rieske. Deshalb auch die Angriffe auf Tuider: »Sie räumt radikal mit Heteronormatitvität auf.« Aus sexualpädagogischer Sicht sei Tuiders Werk durchaus sinnvoll: »Jugendliche sind mit ihren Fragen total queer – und viel weiter als ihre Lehrer. Tuiders Buch ist ein Versuch, diesen Bedürfnissen Rechnung zu tragen; wobei Pädagog*innen natürlich immer schauen müssen, ob eine Methode zu ihrer Gruppe passt.« Pirinçcis Kritik sei »extrem nah an dem, was Maskulinismus mit Feminismus macht: Immer krass persönlich beleidigend, dabei wird dann mit Verschwörungstheorien gearbeitet, die Lesben übernehmen die Welt und der Feminismus den Staat.«
Am Montag meldete sich dann auch die Fachgesellschaft Gender Studies zu Wort. Bei den Attacken von Pirinçci und seinen Gesinnungsgenossen handele es sich »auch um einen Angriff auf eine breite wissenschaftliche, soziale und kulturelle Bewegung«, schreiben die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen. Es sei der Versuch, die Geschlechterforschung »als ›unwissenschaftlich‹ zu denunzieren«. Dieser Gestus sei »Bestandteil eines aggressiven Antifeminismus beziehungsweise Sexismus, welcher sich zurzeit in der öffentlichen Debatte über Gleichstellung und Vielfalt Gehör verschaffen möchte«.