Immer mehr Minderjährige aus Mittelamerika fliehen allein in die USA

Hinter den Vorhängen

Immer mehr Kinder und Jugendliche aus Mittelamerika fliehen vor Gewalt und Armut in Richtung USA. Oft landen sie auf sich allein gestellt in Abschiebegefängnissen. Doch die Abschottung der Aufnahmeländer kann die Ursachen für die Migra­tion nicht beseitigen und die Flucht bleibt lebensgefährlich.

»Die Kinder haben ein Recht auf Asyl«, konstatiert Pater Richard Estrada. Derzeit ist er in Mexiko unterwegs, um Verbündete für ein internationales Netzwerk zum Schutz der Kinder aus Mittelamerika zu suchen. Einst gründete der weißhaarige Kirchenmann in Los Angeles die Nichtregierungsorganisation Jovenes, Inc., die Straßenkindern und Jugendlichen mit Gewalt- und Missbrauchserfahrungen ein Zuhause gibt. Betroffen macht ihn der unverhohlene Rassismus, der den jugendlichen Einwanderern derzeit in den USA entgegenschlägt.
Der Weg mittelamerikanischer Migranten durch Mexiko in die USA ist einer der gefährlichsten der Welt. Dennoch sind ein paar hunderttausend Menschen jährlich unterwegs: auf klandestinen Pfaden, den Dächern der Güterzüge, mit Hilfe professioneller »Kojoten« (sogenannter Schlepper) und immer auf der Hut vor Drogenkartellen und Polizei. Dass immer mehr Kinder und Jugendliche den beschwerlichen Weg auf sich nehmen, ist in der Region schon lange bekannt. Erst die Aufforderung von US-Präsident Barack Obama Ende Juni an mittelamerikanische Eltern, ihre Kinder nicht in die USA zu schicken, brachte das Thema weltweit in die Schlagzeilen. Doch in der politischen Diskussion stehen weder die Ursachen für den Exodus der Minderjährigen noch internati­onale Schutzmaßnahmen für sie im Mittelpunkt. Während bislang der »humanitären Katas­trophe« mit Massenabschiebungen begegnet wird, sollen nun die die mexikanische Südgrenze und die Migrationsrouten durch Mexiko militärisch überwacht werden.

Estrada glaubt nicht, dass das Thema zufällig in die US-amerikanischen Medien gelangt ist. Die durch die Presse gegangenen Aufnahmen von Kindern und Jugendlichen in Abschiebegefängnissen entlang der Grenze zu Mexiko scheinen vielmehr gezielt an die Presse gestreut worden zu sein. Tatsächlich wurden sie erstmals am 5. Juni auf einer der rechten Tea-Party-Bewegung zugeordneten Website veröffentlicht. Auch der Tenor der Diskussion in den USA ist ablehnend gegenüber Obamas Vorhaben, ein moderates Einwanderungsgesetz durchzusetzen. »Der einst angekündigte Dream Act, Legalisierungsmöglichkeiten für Kinder, die ohne Papiere in den USA aufgewachsen sind, wird als Pull-Faktor für die Migration von Minderjährigen dargestellt«, sagt der Pater.
Unter Kindern wie Erwachsenen auf dem Weg nach Norden sind die in den USA stattfindenden Diskussionen weitgehend unbekannt. »Ausschlaggebend für den Exodus ist die Situation der Herkunftsländer«, bekundet der Prediger Ramón Verdugo, der die Straßenkinderherberge »Todo por Ellos« (Alles für sie) an der Südgrenze Mexikos leitet. Es sei kein Zufall, »dass die überwältigende Mehrheit der Menschen auf der Flucht aus Honduras kommt«. Immer mehr alleinerziehende honduranische Mütter bewohnen die Herberge in der Grenzstadt Tapachula. Sie mussten mit ihren Kindern Hals über Kopf außer Landes fliehen. »Seit dem Putsch vor fünf Jahren ist Honduras einmal mehr in Armut und Gewalt versunken«, sagt Verdugo.
Der Zusammenbruch des demokratischen Systems und seiner Institutionen geht mit einer Militarisierung des Landes und der Straflosigkeit von Verbrechen einher. Hinzu kommt eine autonom agierende Polizei, die eng mit Todesschwadronen sowie den sich im Staatsverfall etablierenden Drogenkartellen verbunden ist und eine traurige Tradition sozialer »Säuberungen« unter marginalisierten Jugendlichen hat. Und dann gibt es noch die Jugendbanden, die maras, die in Honduras für die Kartelle als Auftragskiller, Geldeintreiber und Kleindealer agieren.
»Die Armen, denen meist nur die Arbeit im informellen Sektor bleibt, werden von den maras um ständig steigende Schutzgelder erpresst. Sobald sie nicht mehr zahlen können, sind die einzigen Möglichkeiten der Tod oder die Flucht außer Landes«, so Verdugo. Zum Schreiben von Projektanträgen für die dringend benötigte Finanzierung der viel zu kleinen Herberge kommt er kaum. Ein gutes Dutzend Kinder zwischen zwei und zwölf Jahren sucht seine Aufmerksamkeit, zieht sich zur Not auf seinen Schoß hoch und greift in seinen Bart, um ihm Fragen über das Mittagessen, die Herbergskatze und die Auswahl des Fernsehprogramms zu stellen.
Drei dieser Kinder sind mit ihrer Mutter Brenda hier. Die junge Witwe hat über Nacht ihre Taschen gepackt und ist mit ihren kleinen Söhnen aus dem honduranischen San Pedro Sula geflohen, nachdem ihr Mann von maras umgebracht und ihr ältester Sohn, gerade einmal zehn Jahre alt, von der feindlichen Bande zum Rachefeldzug animiert worden war. »Ich wollte meine Kinder aus dieser Gewaltspirale herausholen«, sagt Brenda. Sie hat einen Antrag auf Asyl in Mexiko gestellt. Die Sicherheitslage in Tapachula empfindet sie als gut: »Hier kann man nach Einbruch der Dunkelheit noch auf die Straße gehen.« In honduranischen Großstädten sei selbst tagsüber mit Raubüberfällen zu rechnen.

Während Tapachula für Brenda und ihre Söhne einen Neuanfang bedeutet, ist die tropische Grenzstadt für viele Migranten und Flüchtlinge die Endstation einer Odyssee aus Festnahmen und Abschiebungen auf mexikanischem Terrain. Hierhin werden sämtliche Menschen zurückgeschoben, die in Mexiko ohne Papiere aufgegriffen werden. Von Tapachula aus fahren täglich mehrere Busse ab, die Abgeschobene nach Guatemala, Honduras oder El Salvador bringen. Handelt es sich jedoch bei den Festgenommenen um Minderjährige, so muss zunächst der zuständige Konsul benachrichtigt werden. Dieser muss die Eltern im Herkunftsland ausfindig machen – ein langwieriges Unterfangen, da diese oftmals schon in den USA oder auf dem Weg dorthin sind.
»Kinder werden monatelang hinter Gitter gesperrt, oftmals ohne eine Bezugsperson«, berichtet Lourdes Rosas Aguilar, die beim Menschenrechtszentrum Fray Matías de Córdova in Tapachula als Expertin für Migration von Kindern arbeitet. Reisen Minderjährige zusammen mit anderen Verwandten als ihren Eltern, werden sie bei einer Festnahme von diesen getrennt. »Mitreisende von Kindern werden rigoros als ›Schlepper‹ verdächtigt. Für die Kinder bedeutet das, ganz alleine in Haft zu bleiben«, sagt Rosas Aguilar.
Die Haftbedingungen sind im euphemistisch als »Migrationsstation 21. Jahrhundert« bezeichneten größten Abschiebegefängnis Lateinamerikas schon für Erwachsene kaum erträglich. Den Mitarbeitern des Menschenrechtszentrums wird seit dem Erscheinen eines kritischen Berichts über die dortigen Zustände der Zugang verweigert, Journalisten und auswärtigen Nichtregierungsorganisationen wird er sowieso nicht gestattet. Lediglich die staatliche Menschenrechtskommission und UNHCR haben neben der Migrationspolizei Zutritt.
Jugendliche ab zwölf Jahren werden nach der Festnahme im Abschiebegefängnis eingesperrt, kleinere Kinder in ein staatliches Heim gebracht. Dort werden sie aber ebenfalls hinter hohen Zäunen und verschlossenen Türen verwahrt. »Dass die Anlage einen Garten hat und es sonntags Malkurse gibt, ändert herzlich wenig an dem für Kinder unzumutbaren Zustand, eingesperrt zu sein«, schließt Rosas Aguilar resolut. Sie zeigt Botschaften, die Kinder in Gefangenschaft gemalt haben: »Ich habe niemanden umgebracht, warum werde ich eingesperrt?«, »Bald ist Weihnachten und ich bin hier«, »Ich möchte meine Mama anrufen«, »Ich bin krank und sie geben mir keine Medizin«, »Ich will frei sein« ist dort zu lesen.

Während selbst Papst Franziskus am Montag voriger Woche in Mexiko-Stadt zum Schutz dieser Kinder aufrief, ließ der mexikanische Innenminister Miguel Ángel Osorio Chong verlauten, dass die Nutzung mexikanischer Güterzüge durch Migranten bald der Vergangenheit angehören werde. Diese reisen oft dicht gedrängt und unter Lebensgefahr Tausende Kilometer auf den Dächern der Züge von der Süd- bis zur Nordgrenze des Landes. »Die Bestie«, wie der Güterzug von den Reisenden genannt wird, solle als Transportmittel für die Menschen ohne Papiere bald »nicht mehr zugänglich sein«, so der Innenminister. Gleichzeitig nutzte der mexikanische Präsident Enrique Peña Nieto die letzten Tage der Fußball-WM, um in Chiapas das »Programm Südgrenze« auszurufen. Mit diesem soll die Grenze zwischen Mexiko und Guatemala beziehungsweise Belize militarisiert werden. Ob er sich einen »Baleada Curtain« – baleada heißt die honduranische Tortilla aus Weizenmehl – als Gegenstück zum »Tortilla Curtain« im Norden des traditionellen Auswanderungslandes Mexiko politisch leisten kann, bleibt fraglich.
Fast sicher hingegen ist, dass sich die Fluchtbewegung aus Honduras und seinen Nachbarländern nicht aufhalten lässt – weder durch Zäune noch durch Mauern. Währenddessen steht die Durchsetzung des Rechts auf Bewegungsfreiheit, Asyl und Familienzusammenführung weiter aus. Ebenso die Rückkehr eines demokratischen Systems in Honduras, das mehr Menschen als nur einer winzigen Führungsschicht dient, die sich mit Hilfe internationaler finanzieller Unterstützung über Wasser hält. So will die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) einer honduranischen Pressemeldung zufolge den Energieunternehmer Fredy Nasser bei der Aufrüstung seines Tankstellensystems UNO mit nachhaltiger LED-Beleuchtung unterstützen. Nasser ist einer der Millionäre, die den Putsch von 2009 in Honduras finanziert haben.