Mögliche Entwicklungen der Krise in Argentinien

Endspiel in New York

Dreizehn Jahre nach dem Staatsbankrott droht Argentinien erneut die Zahlungsunfähigkeit. In dieser Woche wird in New York eine möglicherweise folgenschwere Entscheidung über das südamerikanische Land gefällt.

Eigentlich wollte es die argentinische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner in der zweiten Hälfte ihrer zweiten Amtszeit ganz ruhig angehen lassen. Zumindest, so heißt es, habe sie derlei Ende vergangenen Jahres im Kreis ihrer Vertrauten verlauten lassen. Und tatsächlich zielt das Regierungshandeln der Präsidentin weder darauf ab, einen aussichtsreichen Nachfolger aufzubauen, noch darauf, ihre einstige Popularität zu bewahren. Ein untrügliches Zeichen ihrer Amtsmüdigkeit ist die Tatsache, dass sie dem WM-Endspiel wegen einer Familienfeier am Vortag fernblieb und sich bei ihrer brasilianischen Kollegin Dilma Rousseff »krank« meldete. Bei der Begrüßung der Zweitplatzierten am Flughafen von Buenos Aires gab Kirchner ohne Hemmungen zu, ohnehin »kein einziges Spiel« der Meisterschaft gesehen zu haben. Ein Fauxpas, der ihr in dem fußballbegeisterten Land so schnell nicht verziehen werden wird.
Und doch ging es in den vergangenen Wochen in der Casa Rosada, dem purpurfarbenen Präsidentschaftspalast an der Plaza de Mayo, recht betriebsam zu. Grund dafür ist die drohende Zahlungsunfähigkeit des Landes. Obwohl die Regierungsgeschäfte seit geraumer Zeit maßgeblich von Wirtschaftsminister Axel Kicillof und Kabinettschef Jorge Capitanich geleitet werden, mel­dete sich nun auch die Präsidentin vermehrt mit Durchhalteparolen zu Wort. »Wir zahlen unsere Schulden, also können wir nicht zahlungsunfähig sein«, so die einfache Logik der jüngsten Stellungnahme Kirchners vor wenigen Tagen.
Die zentrale Frage ist, welche Schulden an wen bezahlt werden. Konkret geht es um die Ende Juni gezahlte Rate der vereinbarten Schuldenrückzahlung in Höhe von 539 Milliarden US-Dollar, die derzeit bei der New Yorker Bank Mellon verwahrt wird. Dieses Geld ist eigentlich für die Gläubiger der beiden Schuldenschnitte von 2005 und 2009 bestimmt. Allerdings wurde die Summe von einem New Yorker Bezirksgericht auf Betreiben einer Reihe von besonders skrupellosen Hedgefonds gepfändet. Diese in Argentinien als »Geierfonds« bezeichneten Finanzunternehmen verhindern seit Jahren den Abschluss der Verhandlungen über die Umschuldung der letzten sieben Prozent der Auslandsschulden. Die Fonds kauften nach 2001 sehr günstig argentinische Staatsanleihen, um nun den gesamten Nennwert in 17facher Höhe zurückzufordern. Bis Ende Juli ist von dem Gericht eine Frist mit aufschiebender Wirkung für das Ende der Verhandlungen eingeräumt worden. Wenn es bis dahin keine einvernehmliche Lösung gibt, wird das Geld automatisch an die Hedgefonds weitergeleitet – und Argentinien muss die Schuldentranche für die anderen Gläubiger erneut leisten.
Das nominelle Gesamtvolumen der Schuldscheine, welche die »Geierfonds« halten, beträgt 1,33 Milliarden US-Dollar – kein Problem, könnte man meinen, für ein Land mit Devisenreserven von etwa 30 Milliarden US-Dollar. Bedrohlich für die argentinischen Staatsfinanzen sind jedoch die möglichen Nachforderungen anderer Schuldner, die eine vollumfängliche Zahlung nach sich ziehen würde. Wegen des juristischen Gleichbehandlungsgrundsatzes wären Folgezahlungen in Höhe von 15 Milliarden sicher. Diese würden also gut die Hälfte der Reserven der Nationalbank aufbrauchen, was einen Staatsbankrott unausweichlich machen würde. Gravierender ist jedoch, dass wegen einer erst Ende 2014 endenden, Rights Upon Future Offers (RUFO) genannten Klausel in den Umschuldungsverträgen die Schuldenschnitte aus den Jahren 2005 und 2010 von den Gläubigern widerrufen werden könnten. Durch die Schuldenschnitte mussten diese Gläubiger auf rund 70 Prozent ihrer Forderungen verzichten. Die Nachforderungen würden nach Analyse vom Zentrum für politische Ökonomie rund 120 Mil­liarden ausmachen und alleine die Zinsen für die gesamten Schulden auf jährlich bis zu 20 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ansteigen lassen.

Deshalb hat sich Argentinien stets geweigert, den Forderungen der Hedgefonds zu entsprechen. Nachdem das Oberste US-Gerichtshof eine Revision Argentiniens zu dem Rechtsspruch des New Yorker Bezirksrichters Thomas Griesa abgelehnt hatte, haben die »Geierfonds« im Juni in letzter Instanz Recht bekommen. Wirtschaftsminister Kicillof kritisierte, das Urteil sei »eine gerichtliche Erpressung, die jede Form staatlich souveräner Umschuldung unmöglich macht«. Diese Haltung teilt auch die ansonsten stets konfrontative Opposition. Die Gerichtsentscheidung wurde von einer Reihe von Staaten kritisiert, und sogar der Internationale Währungsfonds (IWF) warnte vor einer Neuverhandlung der bereits umgeschuldeten 93 Prozent. Die argentinische Regierung selbst betont stets, sie komme dem verabredeten Schuldendienst nach, appelliert zugleich an die sogenannte Staatengemeinschaft und sieht die Verantwortung für einen möglichen Zahlungsausfall bei den USA.
Tatsächlich entbehrt es nicht einer gewissen Absurdität, dass ein Bezirksrichter über den Bankrott eines souveränen Nationalstaats entscheidet. Dass es in dieser Woche dazu kommen wird, liegt daran, dass die von den Hedgefonds gekauften Staatsanleihen aus der letzten Diktatur Argentiniens stammen und die zugrundeliegenden Vertragstexte als Gerichtsstand New York festlegen. Der Richter wurde unlängst von einer mexikanischen Fernsehkorrespondentin für unzurechnungsfähig erklärt, und in der Tat muss man sich fragen, warum dem 83jährige Thomas Griesa diese Entscheidung von der US-Justiz überlassen wird.
Auf Drängen Argentiniens wurde ein einmonatiger Aufschub gewährt, beide Fraktionen sind in den Verhandlungen bislang nicht zu einer einvernehmlichen Lösung gekommen. Bis Redaktionsschluss blieben alle Treffen unter der Leitung des eingesetzten Vermittlers Daniel Pollack ohne Erfolg. Es wird zu einer Entscheidung in letzter Minute kommen, so viel ist sicher.

Mehrere Szenarien sind vorstellbar. Im Sinne Argentiniens wäre es, die Entscheidung so lange zu verschieben, bis die Frist für die Pari-passu- und die RUFO-Nachforderungen endet. Der Stichtag dafür ist der 31. Dezember. Bis dahin heißt es: Zeit gewinnen. Denkbar ist auch ein Austausch der alten Schuldtitel gegen neue Staatsanleihen. Damit könnte auch eine Verlegung des Gerichtsstands nach Argentinien verbunden sein. Bei diesem Kompromiss könnten die Interessen beider Beteiligten befriedigt werden. Argentinien würde den Hedgefonds den gesamten Nennwert der Staatsanleihen erstatten, ohne den bedrohlichen Folgezahlungen nachzukommen müssen. Dieses Szenario setzt aber voraus, dass die Fonds kein Interesse an einem Staatsbankrott haben. Das ist nicht ausgemacht, schließlich besteht ihr Geschäftsmodell auch in der Ausnutzung von staatlichen Zahlungsausfällen.
In dem zweiten Szenario würde das Urteil aufrechterhalten, die überwiesene Rate umgeleitet und der Nachzahlungs-Dominoeffekt ausgelöst. Der argentinische Staat müsste sich bankrott erklären und der Schuldendienst würde zu einem späteren Zeitpunkt wieder von vorne beginnen. Die derzeit bereits bestehende Isolation von den internationalen Finanzmärkten würde sich verstärken. Betroffen wären wahrscheinlich die argentinische Mittelschicht und international agierende Unternehmen, weniger aber diejenigen Argentinierinnen und Argentinier, die auf staatliche Transferleistungen angewiesen sind. Nicht zuletzt dank möglicher Unterstützung aus den BRIC-Staaten, wie dem jüngst eingeworbenen Kredit über 2,1 Milliarden Dollar aus China, ließen sich interne Staatsausgaben auch zukünftig finanzieren und eine Abhängigkeit von den Strukturanpassungsmaßnahmen des IWF vermeiden. Der Kirchnerismus wäre in diesem Fall die letzten eineinhalb Jahre Amtszeit weiter in der Lage, sein sozialstaatliches Modell beizubehalten – die später eventuell notwendige Reduzierung der Staatsausgaben würde die Präsidentin nicht mehr betreffen. Welcher der beiden Fälle eintritt, das zu prognostizieren traut sich zur Zeit kein seriöser ­Analyst.

Ein drittes, sehr unwahrscheinliches Szenario wäre eine Verweigerung des Schuldendienstes und eine generelle Infragestellung desselben. Die Illegitimität der Schulden wird etwa von Mitgliedern des EDI, eines Zusammenschlusses linker Ökonomen, vertreten. Sie kritisieren den neokeynesianischen Kurs der Regierung Kirchner aus einer marxistischen Perspektive als »marktkonforme Scheinlösung« und fordern eine Abkehr von der demütigen Haltung gegenüber den internationalen Finanzmärkten. Der Ökonom Eduardo Lucita etwa stellt fest, dass mit dem Urteil »der auf die Finanzmärkte ausgerichtete Regierungskurs einen herben Rückschlag« erhalten habe. »Zum wiederholten Male muss jetzt der Preis dafür bezahlt werden, dass man sich stets einer Suche nach der Rechtmäßigkeit der Schulden verweigerte«, befand er kürzlich. Eine Einstellung der Zahlungen aus politischen Gründen wäre ein wirkliches Novum und könnte Vorbildfunktion haben. Angesichts des baldigen Endes der Amtszeit von Kirchner sind derartig unwägbare Entschlüsse jedoch unrealistisch.
Landesweit ist indes eine Intensivierung der Arbeiterkämpfe festzustellen. Während ehe­malige Piqueteros sich wieder auf die Parlamente konzentrieren, haben sich die traditionellen linken Parteien in den vergangenen Jahren eine Basis in wichtigen Betrieben aufgebaut. Kürzlich kam es bei dem Autozulieferer Gestamp aus Protest gegen die Lohnkürzungen infolge von Kurzarbeit zu einem 50 Tage dauernden Arbeitskampf. Im Rahmen dessen wurden zunächst 67 Angestellte entlassen, um sie letztlich wieder einzustellen. Arbeiter hatten die Fabrik besetzt und diese mehrere Tage gegen die Polizei verteidigt, so dass die Produktionslinien in den VW- und Ford-Werken wegen fehlender Bauteile zum Stillstand kamen. Derzeit tobt ein ähnlicher Konflikt bei Lear, einem weiteren Autozulieferer. Tagtäglich sind Meldungen von gewerkschaftlichen Protesten, Straßenblockaden und polizeilicher Repression zu vernehmen. Für August ist bereits der zweite große Lehrerstreik des Jahres angekündigt und angesichts der erwarteten Inflationsrate von mindestens 40 Prozent für das laufende Jahr werden die gesellschaftlichen Verhältnisse sicher in Bewegung kommen. Ob es zum Zahlungsausfall kommt oder nicht: Aus Fernández de Kirchners ruhig ausklingenden Amtszeit wird wohl nichts.