Der »Islamische Staat« ist in Syrien und dem Irak auf dem Vormarsch

Der Kalif lässt köpfen

Der aus Isis hervorgegangene »Islamische Staat« versucht, seine Herrschaft zu konsolidieren, und setzt die Sharia drakonisch durch. Die Gegner der Jihadisten sind zu zerstritten, um dem Terror Einhalt gebieten zu können.

Zum Ende des diesjährigen Ramadan beschenkte der »Islamische Staat« (IS), wie sich Isis seit Ausrufung des Kalifats in Teilen Syriens und des Irak nennt, seine internationale Gefolgschaft mit einem hochprofessionell gemachten Film. Darin zelebrieren die Jihadisten Massenexekutionen von gefangenen irakischen Soldaten. Minutiös wird dokumentiert, unterlegt von Koransuren und unterbrochen nur vom Klang der Maschinenpistolensalven, wie die Gefangenen erst verzweifelt um ihr Leben flehen, dann auf Lastwagen in die Wüste gekarrt werden, wo vermummte IS-Kämpfer sie einen nach dem anderen exekutieren. Wenige Tage später folgten Videos aus der syrischen Stadt Raqqa, unter anderem von abgeschlagenen Köpfen hingerichteter Gegner, mit denen Kämpfer des IS einen öffentlichen Platz dekorierten, der qualvollen Steinigung einer vermeintlichen Ehebrecherin und der Kreuzigung von sieben der Apostasie angeklagten Männern.
Anders als ihre Vorgängerorganisation al-Qaida, deren Anhänger in der Regel mit Mobiltelefonen aufgenommene, verwackelte Aufnahmen von ihren Anschlägen im Internet verbreiteten, produziert der IS professionell edierte Splatter-Filme, die nicht nur, wie die Zugriffe zeigen, in der weltweiten jihadistischen Netzanhängerschaft auf große Resonanz stoßen, sondern auch Angst und Schrecken unter allen Gegnern verbreiten sollen. Wer gegen das Kalifat kämpft, so die deutliche Botschaft, es kritisiert oder auch nur seinen Geboten nicht folgt, kann mit Gnade nicht rechnen.
Wie zuvor in Syrien hat der IS nun auch im Irak begonnen, die Regeln islamischen Rechts drakonisch umzusetzen: Frauen sind gezwungen, den Hijab zu tragen, und sollten sich grundlos in der Öffentlichkeit nicht mehr zeigen, Christen haben entweder zu konvertieren oder eine unbezahlbar hohe Kopfsteuer zu zahlen, sonst droht ihnen der Tod, Dieben werden die Hände abgehackt. Anhänger anderer muslimischer Glaubensrichtungen als dem vom IS vertretenen puren sunnitischen Islam gelten als Abtrünnige und Freiwild. Kirchen, Klöster und Heiligtümer, die von Anhängern anderer islamischer Konfessionen verehrt werden, wurden inzwischen in die Luft gesprengt oder in Stützpunkte des IS umgewandelt. Längst sind aus Mossul und anderen Städten des Nordwestirak alle Christen geflohen. Zum ersten Mal seit fast 2 000 Jahren, sagte der Bischof von Mossul, fänden in der Stadt, dem antiken Niniwe, keine Gottesdienste mehr statt. Aber auch Yeziden, Shabaks, Sufis und Schiiten werden rigoros verfolgt und haben sich in den vergangenen Wochen den Hunderttausenden von Flüchtlingen angeschlossen, die im benachbarten Irakisch-Kurdistan Sicherheit, Unterkunft und Versorgung suchen.

Aus vergangenen Niederlagen haben die Jihadisten gelernt. Indem der IS, anders als zuvor al-Qaida, auf territoriale Kontrolle möglichst großer und zusammenhängender Gebiete zielt und mit seinem Kalifat versucht, so etwas wie staatliche Institutionen zu etablieren, verschafft sich die Organisation zuvor unerreichbare ökonomische Ressourcen. Inzwischen gehen Experten davon aus, dass die Jihadisten kaum noch auf Geldtransfers reicher Unterstützer aus den Golfstaaten oder Gewinne aus Geiselnahmen angewiesen sind. Vielmehr finanzieren sie sich weitgehend autonom aus Ölverkäufen, seit ihnen bedeutende syrische Ölfelder in die Hände gefallen sind, nehmen Zölle und Steuern ein und verkaufen geplünderte Antiquitäten. Über 1,5 Milliarden Dollar sollen sich in der Kriegskasse des Kalifats befinden, das nun auch gezielt versucht, nicht nur weitere Kämpfer, sondern Ärzte, Ingenieure und andere Fachleute anzuwerben. Die Gehälter seien vergleichsweise hoch, heißt es unter syrischen Flüchtlingen, angesichts der eigenen desolaten Lage reize es deshalb viele, für den IS zu arbeiten.
Solange in Syrien und dem Irak Krieg herrscht, wird es den Jihadisten also nicht an finanziellen Ressourcen mangeln. Anders als im Fall der Vorgängerorganisation al-Qaida dürfte es deshalb auch schwer fallen, dem IS zu schaden, indem man versucht, Finanztransaktionen zu unterbinden.

Mit den unzähligen Waffen, die der IS in den vergangenen Wochen von der irakischen Armee erbeutet hat, gelang es der Gruppe, auch in Syrien weitere Gebiete zu erobern. Erstmalig seit langem kam es dabei auch zu heftigen Gefechten mit der syrischen Armee. Faktisch kontrolliert der IS nun das gesamte Tal des Euphrat in Nordosten des Landes, andere syrische Rebelleneinheiten mussten schwerwiegende territoriale Verluste hinnehmen. Lediglich die YPG, die Miliz der kurdischen Partei der Demokratischen Union (PYD), die der PKK nahesteht, konnte bislang alle jihadistischen Angriffe auf das von ihr kontrollierte Gebiet abwehren. Allerdings ist es dem IS, anders als von vielen Beobachtern befürchtet, bislang nicht gelungen, weiter auf Bagdad vorzurücken. Wie in Syrien kämpft der Islamische Staat an den Grenzen seines Kalifates im Irak mit unterschiedlichen Gegnern: in Tikrit, Baquba und Samarra bekämpfen sich irakische Armee, schiitische Milizen und die Jihadisten. Bislang scheiterten alle Offensiven der irakischen Armee, erwähnenswerte Siege konnte sie bislang nicht verzeichnen. Am Wochenende begannen Einheiten der kurdischen Peshmerga, nachdem es monatelang weitgehend ruhig an dieser Front war, eine Offensive im Gebiet um Mossul, die allerdings bislang alles andere als erfolgreich verlief. Vielmehr eroberten die Jihadisten im von Yeziden bewohnten Sinjar-Gebiet sogar drei Städte, in Folge flohen weitere Hunderttausende, meist Yeziden, nach Irakisch-Kurdistan.
Um den Islamischen Staat militärisch zu schlagen oder auch nur zu schwächen, müsste es nicht nur eine enge Koordination und Kooperation zwischen syrischen und irakischen Kurden, antiislamistischen Rebelleneinheiten der syrischen Opposition und irakischem Militär geben, sondern müsste auch eine gemeinsame politische Vorstellung von der Zukunft der Region entwickelt werden. Stattdessen dominieren Misstrauen, Konkurrenz, teils sogar offene Feindschaft unter den Gegnern des IS.
Solange ein Großteil der irakischen Sunniten in der von Nouri al-Maliki geführten Regierung lediglich einen Erfüllungsgehilfen des verhassten Nachbarstaats Iran sieht, werden sie sich kaum gegen den Islamischen Staat erheben. Zwar hat vor allem die Zerstörung des Grabes des Propheten Jonas in Mossul, der sowohl von irakischen Christen wie Muslimen als Heiliger verehrt wird, zu größeren Unmutsäußerungen geführt und vermehrt wird in letzter Zeit berichtet, dass es lokal zu Anschlägen und Angriffen auf Anhänger des IS gekommen ist. Auch finden immer wieder bewaffnete Zusammenstöße zwischen Anhängern des gestürzten Regimes Saddam Husseins und den Jihadisten statt, deren Bündnis im Juni erst zur schmachvollen Niederlage der irakischen Armee geführt hatte. Von einem gezielten gemeinsamen Vorgehen der Gegner des IS kann allerdings keineswegs die Rede sein. Aber der selbsternannte Kalif Abu Bakr al-Baghdadi und seine Gefolgsleute wissen, dass ihre Machtposition im Irak labil ist. Sprecher sunnitischer Stämme im Irak betonen ebenso wie prominente Politiker in Interviews immer wieder, dass sie es vor sieben Jahren waren, die al-Qaida besiegt hätten und dass sie, sollte die irakische Zentralregierung ihren Forderungen nach mehr Autonomie und Repräsentation nachkommen, jederzeit auch den IS besiegen können.

Klar scheint inzwischen dagegen allen Beteiligten, dass ernst zu nehmende Hilfe aus dem Westen ausbleiben wird, da die USA unter Präsident Barack Obama keine Bereitschaft zeigen, sich stärker im Irak zu engagieren und bestenfalls ein paar Waffen zu liefern gedenken, während Europa sich offenbar weitgehend mit der Existenz des IS-Kalifats abgefunden hat und sich auf ein paar halbherzige Verurteilungen des Terrors gegen Christen und andere Minderheiten beschränkt.
In der nächsten Zeit wird sich erweisen, ob den Gegnern des IS trotz des gegenseitigen Misstrauens eine militärisch und politisch koordinierte Offensive gelingt oder ob es die Jihadisten schaffen, ihr Terror-Kalifat zu konsolidieren. Schon, so heißt es aus Libyen, versuche man dort neue Bündnispartner unter den islamistischen Milizen zu rekrutieren, um das Kalifat auch auf Nordafrika auszudehnen. Der IS, das machen seine Propagandisten nur zu deutlich, kennt keine Grenzen, sein Ziel, so verrückt es auch klingen mag, ist die Weltherrschaft. Die Gotteskrieger, die ja jetzt schon aus der ganzen Welt stammen, werden weiterkämpfen und -morden, bis ihr Ziel erreicht ist oder ihnen jemand Einhalt gebietet.