»Mama, du bist gefeuert!«
Vor zweieinhalb Jahren verlor Doli Sotiropolu ihren Job bei einer Diagnostikfirma in Athen. Für sie, ihren Ehemann und ihre achtjährige Tochter Nikoleta änderte sich das Leben von einem Tag auf den anderen. Nach dem anfänglichen Schock musste sich Doli mit der neuen Situation abfinden. »Ich habe mich daran gewöhnt, meine Ansprüche immer weiter zu senken«, sagt die 36jährige, die sich trotz allem noch glücklich schätzt: »Meine Familie ist wenigstens nicht hoffnungslos verschuldet«, sagt sie, bei vielen ihrer Nachbarn und Freunde sehe das anders aus.
Doch auch Dolis Leben ist von Zukunfts- und Existenzängsten bestimmt, denn für sie gilt wie für die meisten Griechinnen und Griechen, die in den vergangenen Jahren arbeitslos geworden sind: Chancen auf einen neuen Job gibt es so gut wie keine. In zwei Jahren hat sie ein einziges Jobangebot erreicht, eine schlecht bezahlte Stelle als Sekretärin zweieinhalb Stunden von Athen entfernt. »Es war eigentlich keine Option«, sagt Doli.
Viel härter als die Anpassung der Lebensverhältnisse an die neue Situation ist für sie die psychologische Herausforderung, die jeder Tag mit sich bringt. »Einer der schlimmsten Momente war, als meine Tochter beim Spielen plötzlich ausrief: ›Mama, du bist gefeuert!‹ Mir fehlten die Worte. Ich begriff, dass sie unser Trauma verinnerlicht hatte«, erzählt Doli. »Sie wollte mir damit sagen: ›Mama, du hast verloren.‹ Seitdem versuche ich immer, wenn das Thema aufkommt, zu betonen, dass Menschen, die ihren Job verloren haben, nicht weniger wert sind als die anderen.«
Ihre Tochter Nikoleta sei aber kein Einzelfall, erzählt Doli weiter. Die Stigmatisierung von Arbeitslosigkeit sei bereits Teil der Sozialisierung vieler Kinder geworden. »Man muss sie nur beim Spielen beobachten, um sich dessen bewusst zu werden. Da ich jetzt zwangsweise mehr Zeit habe, begleite ich meine Tochter öfters zur Schule. Dort habe ich festgestellt, dass dieses ›Du bist gefeuert‹ eine gängige Beleidigung auf dem Schulhof geworden ist«, so Doli, »Ich konnte es kaum fassen, aber die Kinder spielen neuerdings Chefs und Angestellte. Wer verliert, wird gefeuert.« Das sei eine Art, mit einem Alltag umzugehen, der für viele griechische Kinder sehr dramatisch ist. »Das Trauma des Jobverlusts wird direkt von den Eltern auf die Kinder übertragen«, sagt Doli, die mit anderen betroffenen Eltern, denen es teilweise noch viel schlechter geht als ihr, eine Selbsthilfegruppe gegründet hat. »Die Familien, in denen beide Eltern arbeitslos sind, werden immer mehr. Auch in unserem Umfeld kenne ich bereits sieben Fälle. Jeden Monat sammeln wir Kleidung, Essen und ein wenig Geld«, sagt sie. Das sei nötig, denn »sehr viele Kinder sitzen hungrig in den Klassenzimmern oder werden öfter krank, weil sie schlecht ernährt sind oder keinen Strom, kein Wasser und keine Heizung mehr haben. Und das sind nur die materiellen Aspekte dieser Situation. Die psychischen Schäden, die bei den Kindern entstehen, sind viel gravierender.«
Einige hundert Meter vom Hafen von Piräus entfernt befindet sich ein ehemaliges Waisenhaus. Das riesige Gebäude ist mehr als 200 Jahre alt und gehört der Hatzikyriakio-Stiftung für Kinderfürsorge. Man kümmert sich hier um Kinder aus Familien, die von der Krise besonders hart getroffen wurden. Das in der Sonne weiß strahlende Haus steht unter Denkmalschutz und wird nicht bewohnt, aber auf dem Hof hat die Stiftung nach einem Erdbeben im Jahr 1999 ein Aufnahmezentrum für Kinder aus armen Verhältnisse eingerichtet. »Wir sind ein Heim, kein Waisenhaus«, stellt Direktorin Anastasia Katsilieri gleich zu Beginn unseres Gesprächs klar. Im Hof sind nur Mädchen zwischen sechs und 18 Jahren zu sehen. »Die meisten kommen aus griechischen Familien, aber auch Mädchen aus migrantischen und Roma-Familien sind dabei«, erläutert die Direktorin. »Rund ein Drittel von ihnen wurde von Eltern gebracht, die sie wieder zu sich nehmen wollen, sobald bessere Zeiten kommen. Migrantische Eltern haben ihre Kinder hier gelassen, um in anderen europäischen Ländern einen Job zu suchen. Sie werden dann wiederkommen und sie abholen«, sagt Katsilieri und blickt auf die Mädchen, die außerordentlich ruhig miteinander spielen. »Das Statut unserer Stiftung ist 200 Jahre alt«. »Darin steht, dass wir nur Mädchen zwischen acht und zehn aufnehmen dürfen. Sie können bleiben, bis sie achtzehn sind. Aufgenommen werden nur körperlich und psychisch gesunde Mädchen«, fährt sie fort. »Wir sind keine geschlossene Anstalt. Die Wochenenden können die Mädchen mit ihren Familien verbringen. Wir sorgen dafür, dass sie weiter die Schule besuchen, dass sie sich ordentlich ernähren und wir leisten ein Minimum an psychologischer Unterstützung.« Nie seien so viele Anfragen wie in den vergangenen Jahren eingegangen, sagt Leta Driva, die im Institut als Sozialarbeiterin tätig ist: »Früher hatten wir nur Kinder aus wirklich armen Verhältnissen. Heute kommen immer mehr Kinder aus dem Umfeld, das wir früher ›Mittelschicht‹ nannten. Diese Kinder sind überhaupt nicht an Deprivation und soziale Ausgrenzung gewöhnt. Das ist für uns Sozialarbeiter eine zusätzliche Herausforderung im Umgang mit ihnen.«
Viele der Mädchen, die hier wohnen, wurden vom Jugendamt aus Familien genommen, die nicht mehr für sie sorgen konnten. »Wir sind grundsätzlich gegen diese Art von Trennung«, sagt Katsilieri, »daher versuchen wir, den Kontakt zwischen den Mädchen und ihren Familien auf allen möglichen Ebenen zu fördern. Unsere Aufgabe ist, dass sie die Schule besuchen und dass sie eine Chance haben, am sozialen Leben teilzunehmen. Alles andere ist und bleibt Aufgabe der Familie.« Aber auch private Einrichtungen wie diese sind in Griechenland keine Inseln des Glücks. »Unsere drei Sozialarbeiter sind überfordert, uns fehlen die Mittel, um neues Personal einzustellen. Wir arbeiten immer mehr und verdienen immer weniger.«
Insbesondere die Kinder aus der veramten Mittelschicht bräuchten sehr viel Aufmerksamkeit, so Katsilieri. »Sie sind schwer traumatisiert, die meisten von ihnen erzählen in der Schule nicht, dass sie hier und nicht mehr bei ihren Eltern wohnen. Wir haben also angefangen, das Gespräch mit den Lehrern zu suchen, damit die Übergangsphase der Trennung von den Eltern etwas leichter fällt. Was wir feststellen, ist aber, dass es oft die Eltern sind, die unter dieser Trennung am meisten zu leiden haben.«
Katsilieri und ihre Mitarbeiter sehen sich vor eine unmögliche Aufgabe gestellt: »Der Staat hat einfach seine soziale Verantwortung an die Familien und Hilfsorganisationen wie unsere übertragen. Es ist eine enorme Last, ich weiß nicht, wie lange wir sie mit unseren begrenzten Mitteln noch tragen können.«
Immer mehr Familien scheitern daran. »Die Rolle der traditionellen griechischen Familie ist mit der Krise problematisch geworden«, meint Katsilieri. »Dieser mächtige Mythos ist von der Krise zerstört worden.« Sie spricht von einem Mythos, der nicht nur ein soziales und politisches Konstrukt ist, sondern eine Institution, die lange Aufgaben erfüllte, die der Sozialstaat nicht bewältigen konnte. »Großeltern, Tanten und Onkel, die Kinder großziehen, verschiedene Generationen, die sich den Wohnraum teilen. Die Krise hat auch das zerstört«, sagt die Direktorin, bevor sie sich verabschiedet, um sich den Mädchen zum Mittagessen anzuschließen.
Um die Rolle der Familie geht es auch im Gespräch mit Katarina Poutou, der Geschäftsführerin der Organisation Arsis, die Kinder und Jugendliche in schwierigen sozialen Situationen unterstützt. »Es handelt sich um einen falschen Mythos«, urteilt Poutou. »In den vergangenen 20 Jahren hat die traditionelle Familie immer mehr ihre Funktion als soziales Korrektiv verloren, das belegen Statistiken, die unter anderem unsere Organisation erstellt hat. Mit der Krise hat sich die Lage sehr schnell und sehr dramatisch zugespitzt. Jetzt sind die älteren Generationen zum Beispiel gar nicht mehr in der Lage, die Betreuung der jüngeren zu übernehmen, sie brauchen selbst Unterstützung.« Schlimmer könne die Situation nicht sein, sagt Poutou, die seit 32 Jahren als Sozialarbeiterin tätig ist. »Derzeit findet in Griechenland eine Neudefinition von sozialen Standards und Menschenrechten statt. Jeder einzelne Standard, den es gibt, ist nach unten gesunken. Häusliche Gewalt nimmt zu, so wie Gewalt allgemein in unserer Gesellschaft.« Das sei besonders gefährlich für junge Menschen, die kontinuierlich negativen Botschaften ausgesetzt seien. Das erzeuge eine Menge Frust, berichtet Poutou, das erlebe sie in ihrem Job mittlerweile fast alltäglich. »Die sozialen Unterschiede haben sich innerhalb kürzester Zeit zugespitzt. Existenzängste, Furcht vor dem sozialen Abstieg und vor dem Absturz in die Armut sind die Folgen. Wenn solche Gefühle das Leben und den Alltag vieler Familien beherrschen, ist es extrem schwer für Kinder und Jugendliche, eine stabile Identität zu entwickeln. Wir ziehen derzeit eine Generation von Kindern auf, deren Werte völlig andere sind als die, mit denen wir aufgewachsen sind.« Katarina Potou sucht einen Moment nach einem zusammenfassenden Satz, nach einem Bild, das ihre Wahrnehmung beschreibt: »Es ist so, als wüchsen diese Kinder in einer Kriegszone auf.«
Stergios Sifinos ist Geschäftsführer der internationalen Organisation SOS Villages in Griechenland, einer NGO, die mittlerweile in jeder größeren griechischen Stadt vertreten ist. »Mitte 2011 hat sich die Krise verschärft, seitdem werden die Menschen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind, immer mehr. Das griechische Sozialsystem ist zusammengebrochen. Fast überall, wo unsere Organisation vertreten ist, hat sich für uns die Arbeit mindestens verdoppelt. In Kreta etwa gab es bis vor wenigen Jahren rund 80 Familien, die auf unsere Hilfe angewiesen waren. Heute sind es rund 160. Aber wir sind immer noch dieselben.«
Athen bleibt allerdings weiterhin der Ort, an dem die Situation am schlimmsten ist, auch weil dort eine große Anzahl migrantischer Familien lebt. Sifinos ist in Griechenland mittlerweile eine Person des öffentlichen Lebens geworden, weil er gerne das politische System kritisiert. Die griechischen Politiker seien für die verheerenden Folgen der Krise verantwortlich, meint er. »Es waren diese Politiker, die sich den internationalen Finanzinstitutionen gebeugt haben, es waren die Politiker, die den Sozialstaat abgebaut haben. Es waren die Politiker, die Griechenland zu einem Dritte-Welt-Land werden ließen.«
Noch nie gab es in Griechenland so viele Menschen, die Hilfe brauchen, und so wenige, die diese Hilfe anbieten können. Weil Armut ein gesellschaftliches Tabu ist, erreicht aber auch die wenige Hilfe, die geleistet werden kann, oft nicht die Menschen, die sie wirklich brauchen. »Sie müssen explizit darum bitten, und für viele ist das erniedrigend«, sagt Sifinos. »Rund ein Drittel derjenigen, die auf unsere Hilfe angewiesen sind, sind alleinstehende Mütter, viele von ihnen sind extrem jung, sie haben keine andere Wahl. Aber vielen Eltern fällt es weiterhin extrem schwer, sich selbst einzugestehen, dass ihre Kinder arm sind. Dann nehmen sie lieber die Kinder aus der Schule, wenn sie sich die Bücher, das Schulessen oder die Sportklamotten nicht mehr leisten können, das gibt es auch.« Er fügt hinzu: »Diese Kinder müssen beschützt werden. Denn sonst werden Wut und Frust ihre dominierenden Gefühle bleiben.«
Aus dem Englischen von Federica Matteoni.