Gidi Grinstein im Gespräch über die internationale Kampagne zur Delegitimation Israels

»Sie wollen, dass wir verschwinden«

Gidi Grinstein ist Gründer und Präsident des unabhängigen Reut Institute in Tel Aviv, das sich mit strategischen Fragen befasst und israelische Politiker berät. In einem 2010 veröffentlichten Bericht bezeichnete das Institut die globalen Kampagnen zur Delegitimation Israels als Gefahr für die Sicherheit des Landes und forderte eine neue diplomatische Strategie (Jungle World 7/2010).

Sie sind gerade in New York. Spüren Sie dort, dass die Haltung gegenüber Israel kritischer wird?
Es gibt in einigen Medien, darunter auch führenden Zeitungen, eine sehr unglückliche Berichterstattung zum Konflikt, die das schreckliche, herzzerreißende Leiden der palästinensischen Bevölkerung fokussiert, ohne den notwendigen Kontext darzustellen. Ohne Kontext machen sie es der amerikanischen Öffentlichkeit unmöglich zu verstehen, was wirklich vor sich geht. Im Allgemeinen ist es aber so, dass die Amerikaner, die ich treffe, andere Dinge als der Konflikt beschäftigt. Die USA werden immer isolationistischer, interessieren sich weniger für den Nahen Osten.
Wie stehen sie zu der These, dass US-Außenminister John Kerry durch sein Vermittlungsangebot die Hamas aufgewertet und legitimiert hat?
Wenn ich sehr, sehr höflich bin, würde ich die US-Außenpolitik bezüglich der Ereignisse in Gaza als verwirrt beschreiben. Das ist sehr besorgnisseregend, denn die Amerikaner haben vergessen, wer die gute und die böse Seite in diesem Konflikt ist. Und zwar nicht aus der israelischen Perspektive, denn die Hamas steht gegen alles, was amerikanische Kultur und Werte ausmacht. Trotzdem verhält sich die US-Regierung derzeit so, als ob es eine moralische Gleichwertigkeit von Israel und der Hamas gäbe, eine sehr falsche Politik.
Verstärken soziale Medien die antiisraelische Haltung?
Viele Menschen weltweit beziehen aus sozialen Medien nur Informationen, die ihre bestehenden Einstellungen verstärken. Proisraelisch eingestellte Menschen können sich so bestärken lassen, aber mehr noch können Leute, denen es um die Delegitimation Israels geht, auf Plattformen zurückgreifen, die voller Hass, voller Dämonisierung von Israel und Juden sind, und die es in diesem Ausmaß zu keinem anderen Land gibt. Man muss nur vergleichen, wie in sozialen Medien über Israel auf der einen und Diktaturen wie den Iran oder Organisationen wie Isis auf der anderen Seite berichtet wird. An Israel werden völlig andere Maßstäbe angelegt und das ist der moderne Antisemitismus.
Sie haben in Ihren Berichten die Delegitimationskampagnen als potentiell existenzbedrohend für Israel beschrieben. Worin besteht die Gefahr?
Zuerst müssen wir die Intention derer verstehen, die diese Kampagnen orchestrieren. Ihnen geht es um die Zerstörung Israels, die Implosion des politischen und ökonomischen Modells Israels. Inspiriert sind sie von der Geschichte Südafrikas, der Sowjetunion, der DDR und anderer Länder, die trotz ihrer militärischen Macht zusammengebrochen sind. Sie greifen den Grundsatz des Zionismus an, dass das jüdische Volk ein Recht auf Selbstbestimmung hat. Sie sind überzeugt, dass von einem gewissen Maß an Delegitimation an der israelische Staat schließlich implodiert. Sie sind also durch ihre Ziele per Definition eine existentielle Bedrohung. Vor etwa zehn Jahren kamen sie zu der Einsicht, dass es eine Kollaboration zwischen linken und liberalen antisemitischen Gruppen in Europa und radikalislamischen Gruppen aus dem Nahen Osten geben kann. Wir nennen das die rot-grüne Allianz. Es ist sehr wichtig, die aktuellen Aktivitäten der rot-grünen Allianz in Gaza zu beobachten. Hamas lagert zum Beispiel Waffen in Schulen und UN-Gebäuden. Wenn dann aus diesen Gebäuden geschossen wird und die israelische Reaktion Opfer fordert, werden diese in linken Medien als unschuldige Opfer Israels dargestellt, während doch die Hamas verantwortlich ist.
Sie sprechen in Ihren Analysen von einem Delegitimationsnetzwerk und einem Widerstandsnetzwerk. Was ist der Unterschied zwischen beiden?
Das Widerstandsnetzwerk besteht vor allem aus palästinensischen, arabischen und islamischen Gruppierungen, die das Recht des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung ablehnen. Sie nutzen politische und militärische Mittel, die Hamas ist ein zentraler Teil dieses Netzwerkes. Das Delegitimationsnetzwerk besteht aus Individuen und NGOs in aller Welt, besonders im Westen, die das Existenzrecht Israel politisch bekämpfen.
Gibt es tatsächlich eine Kooperation dieser rot-grünen oder links-islamischen Allianz?
Es gibt ideologische Gemeinsamkeiten und es gibt Zusammenarbeit, aber uns wäre nicht bewusst, dass es eine zentrale Koordination gibt. Es gibt jedoch zahlreiche Verbindungen und London ist ein wichtiges Zentrum. Dort kommen die Akteure der verschiedenen Netzwerke zusammen.
Worin besteht die Legitimation für einen jüdischen Staat, die Sie verteidigen?
Es gibt ein grundlegendes, unbestreitbares Recht des jüdischen Volks auf Selbstbestimmung im eigenen Land. Das Recht basiert auf der besonderen Beziehung, die Juden zum Land Israel haben. Ich denke, eine weitere Rechtfertigung neben dem heute allgemein akzeptierten Selbstbestimmungsrecht für alle Völker ist nicht nötig.
Sie beschreiben Zionismus als eine sich ständig entwickelnde Ideologie. Was ist Zionismus heute?
Die heutige Herausforderung des Zionismus ist meines Erachtens die Konsolidierung des israelischen Staates in den Gebieten, in denen es eine deutliche jüdische Mehrheit gibt. Das bedeutet die Ziehung einer Grenze zu den Palästinensern, jenseits derer es einen unabhängigen palästinensischen Staat gibt. In dieser Hinsicht ist der Krieg in Gaza ein großer Rückschritt, aber ein Zionismus, der demokratische Werte schätzt, eine Gesellschaft, die gemäß jüdischen Werten geformt ist, kann nur in begrenzten Gebieten existieren, in denen Juden eine signifikante Mehrheit bilden.
Würde ein solcher Rückzug auch Frieden bringen?
Einerseits kann das zionistische Modell nicht fortbestehen, wenn Israel die Kontrolle über so viele Palästinenser ausübt. Andererseits war es immer so, dass Gaza und andere Gebiete, aus denen sich Israel zurückgezogen hat, zu Basen von Terroraktivitäten wurden. Israel kann also zwischen einem strategischen Risiko für das zionistische politische Modell und einem Sicherheitsrisiko für seine Zivilisten wählen. Ich glaube, dass wir jederzeit das Sicherheitsproblem statt der existentiellen politischen Gefahr in Kauf nehmen sollten. Leider gibt es in dieser schwierigen Umgebung keine umfassende Lösung aller Probleme.
Wenn ein Abkommen mit den Palästinensern nicht in Sicht ist, ist dann ein unilateraler Rückzug aus der Westbank, ähnlich dem Rückzug aus Gaza 2005, möglich?
Ich glaube, dass Unilateralismus das leitende Konzept Israels bei der Beendigung der Kontrolle über die palästinensische Bevölkerung sein sollte. Aber Gaza war ein klar definiertes Gebiet mit nur wenigen jüdischen Bewohnern, die zusammen mit den israelischen Truppen evakuiert wurden. In der Westbank muss es anders sein, aber meiner Ansicht nach ist Unilateraliusmus der einzige gangbare Weg. Es kann ein wohlwollender und koordinierter Unilateralismus sein. Aber die Palästinenser befinden sich in einer schweren Verfassungskrise, die seit 2006 andauert und die ein Abkommen unmöglich macht.
Es gibt Berichte über Übergriffe auf linke Demonstrationen in Israel, über Gesetze, die NGOs in Israel reglementieren, über eine schwindende Toleranz für abweichende Meinungen.
Die Redefreiheit in Israel ist sehr bemerkenswert, wenn man sich etwa das israelische Parlament ansieht. Dort gibt es einige Abgeordnete, die explizit die Existenz Israels ablehnen und die Hamas unterstützen. In Konfliktzeiten nimmt die Toleranz der Menschen jedoch ab. Seit Beginn des jüngsten Konflikts wurden etwa 2 000 Raketen auf Israel abgeschossen, Menschen müssen täglich in Bunker flüchten. Die Leute sind nervös, müde und gereizt, deshalb würde ich aus den sehr wenigen Zusammenstöße zwischen Linken und Rechten nicht schließen, dass die Demokratie in Israel erodiert. Im Gegenteil würde ich auf die Toleranz der israelischen Öffentlichkeit gegenüber radikalen linken Stimmen hinweisen, die gegen diesen Krieg und zum Teil auch gegen die Existenz Israels sind.
In ihrem Bericht von 2010 waren Sie sehr kritisch, was die Politik des Außenministeriums und die Hasbara, die diplomatische Öffentlichkeitsarbeit, angeht. Hat sich daran etwas geändert?
Ja, es gab bemerkenswerte Veränderungen und auch die Ausweitung auf neue Gebiete. Es gibt heute israelische Sprecher, die unsere Perspektive gegenüber der arabischen Öffentlichkeit vertreten. Die Regierung hat heute ein tiefes Verständnis dafür, dass der Medien- und PR-Krieg ein essentieller Teil des allgemeinen Erfolges in dieser militärischen Konfrontation ist. Aber zugleich dürfen wir nicht vergessen, dass es dem Delegitimationsnetzwerk nicht darum geht, was Israel sagt oder tut. Sie wollen, dass wir verschwinden.
Wie einflussreich sind internationale Meinungen und antiisraelische Kampagnen, wenn es etwa um die Entscheidung über ein Ende oder die Fortführung der Gaza-Operation geht?
Derzeit ist die israelische Öffentlichkeit vereint und unterstützt fast einhellig die komplette Zerstörung des unterirdischen Tunnelsystems in Gaza. Viele Israelis glauben, dass dieser Krieg ein Wunder ist. Wir sind unbeabsichtigt hineingestolpert und entdeckten, dass die Hamas die Infrastruktur für beispiellose Terrorattacken in Israel geschaffen hatte. Die internationale Meinung ist wichtig, aber angesichts dieser Gefahr werden deshalb keine operativen Ziele des Militärs kompromittiert. Sehr viele Israelis sind verblüfft über den Mangel an internationaler Unterstützung für diesen Krieg, denn sie sind überzeugt, dass es sich um einen gerechten Krieg gegen einen bösartigen Feind nicht nur Israels, sondern aller freien und modernen Gesellschaften weltweit handelt.