Vergangenheitsaufarbeitung in Argentinien

Enkel Nummer 114

In Argentinien ist ein zu Zeiten der Militärjunta illegal adoptiertes Kind sogenannter Verschwundener identifiziert worden. Bei der Aufarbeitung der Verbrechen der Diktatur gibt es zwischen Regierung und NGOs wenig Konflikte.

Ein Ereignis von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung erkennt man in Argentinien daran, dass sich Peronismus, Kirche und Fußball unmittelbar dazu verhalten. Die Feststellung der Identität ­eines weiteren während der Militärdiktatur geraubten Kindes in der vergangenen Woche war ein solches Vorkommnis. Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner rief umgehend die Großmutter des Kindes an und weinte gemeinsam mit ihr vor Freude. Der Vizekapitän der Fußball-Nationalmannschaft, Javier Mascherano, twitterte seine Glückwünsche und der Papst ließ per Agenturmeldung mitteilen, er sei »ergriffen«.
Die Beglückwünschte ist Estela Carlotto, die bekannteste Großmutter des Landes. Die 84jährige ist Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation »Großmütter der Plaza de Mayo« und hat es sich zur Aufgabe gemacht, die während der Diktatur von 1976 bis 1983 von der Militärjunta geraubten Kinder von Oppositionellen wiederzufinden. Insgesamt wurden nach Schätzungen der Organisation rund 500 Neugeborene an regime­treue Familien übergeben. Knapp ein Viertel dieser Kinder ist mittlerweile »restituiert« worden, wie es im argentinischen Sprachgebrauch heißt.
Ignacio Hurban, der in den Zählungen der »Großmütter« fortan als Enkel Nummer 114 geführt wird, besitzt seit Dienstag vergangener Woche zwei Identitäten. Aufgewachsen als Sohn einer Großgrundbesitzerfamilie in der Provinz Buenos Aires, heißt der 36jährige Musiker nun zugleich Guido Montoya de Carlotto. Kaum jemanden in dem südamerikanischen Land lässt es kalt, dass sich jetzt Estela Carlottos größter Wunsch erfüllt hat: »Ich wollte nicht sterben, ohne meinen Enkel kennenzulernen und in den Arm nehmen zu können.« Dieser stellte sich auf einer gemeinsamen Pressekonferenz vor: »Ich heiße Ignacio oder nun auch Guido. Estela ist sich sehr sicher, dass ich so heiße.« Auf Nachfrage erläuterte er, dass er selbst gerade nicht genau wisse, wer er sei, da er alles erst einmal verarbeiten müsse. Es wird auch die Frage zu klären sein, inwieweit seine Adoptivfamilie Mitschuld am Tod der biologischen Eltern hat. Ein Gerichtsverfahren wegen Kindesentführung wurde bereits eingeleitet, in der Vergangenheit sind andere Adoptiveltern zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden.

Die wirklichen Eltern Ignacios beziehungsweise Guidos waren Laura Carlotto und Oscar Walmir Montoya, die der peronistischen Guerillaorganisation Montoneros nahestanden. Ihnen erging es wie vielen anderen Dissidenten. Ende 1977, als Laura im dritten Monat schwanger war, wurden sie gefangengenommen und in das Gefängnis und geheime Folterzentrum La Cacha in der Provinz Buenos Aires gebracht. Kurz darauf ließ man sie verschwinden, wie man in Argentinien sagt, denn viele Leichen wurden bis heute nicht gefunden. Dank Berichten von Überlebenden erfuhr Estela Carlotto von der Geburt ihres Enkels. So nahm die Gründung der Großmütter-Organisation ihren Anfang.
Vergangene Woche endete Carlottos persönliche Suche. Möglich gemacht hat das die DNA-Datenbank der Nationalen Kommission für das Recht auf Identität. Durch sie können Argentinierinnen und Argentinier mit 99,99prozentiger Sicherheit feststellen lassen, ob sie das Kind sogenannter Verschwundener sind. Erst kürzlich haben die Nationalspieler um Lionel Messi mit den »Großmüttern« in einem gemeinsamen Fernsehspot alle, die zwischen 1975 und 1981 geboren wurden und Zweifel an ihrer Identität haben, aufgefordert, sich testen zu lassen. Ignacio Hurban tat dies vor etwa drei Wochen.
Dass das Thema der geraubten Kinder in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, ist nicht zuletzt das Verdienst des linksperonistischen Kirchnerismus. Dieser hat die Aufarbeitung der Diktatur zu einer seiner zentralen Aufgaben erklärt und sich den Slogan der Menschenrechtsbewegung »Gerechtigkeit und Strafe« zu eigen gemacht. Infolgedessen verschwammen die Grenzen zwischen NGOs und Regierung zusehends. Viele wiedergefundene Enkel sind heute Funktionäre der Regierung Kirchners.
Auch wenn die Präsidentin kaum eine Gelegenheit auslässt, sich als Kämpferin im Stile Evita Peróns zu präsentieren, steht außer Frage, dass die Aufarbeitung ihr ein persönliches Anliegen ist. Waren die ersten beiden Jahrzehnte nach der Diktatur von einem Versöhnungs- und Schlussstrich-Diskurs geprägt, setzte mit der Amtseinführung ihres verstorbenen Ehemanns und Amtsvorgängers Néstor Kirchner 2003 eine Wende ein – sowohl was die juristische Strafverfolgung anbelangt als auch hinsichtlich der gesellschaft­lichen Aufarbeitung der Diktatur.

Die argentinischen Menschenrechtsorganisationen sind nun dank staatlicher Unterstützung ­finanziell gut ausgestattet und verfügen über ein stattliches Repertoire etwa an Kulturzentren, Radiostationen und Bibliotheken. Es gibt nur wenige Gegner der Kooptierungsstrategie, darunter die »Línea Fundadora« der »Madres de Plaza de Mayo«, die sich nach wie vor als antikapitalistisch versteht. Auch Teile der Organisationen der Kinder von Verschwundenen kritisieren weiterhin die Regierung und veranstalten alljährlich am 24. März mit linksradikalen Gruppen und Parteien eine Gegendemonstration zum offiziellen Festakt anlässlich des Endes der Diktatur. Insgesamt sind die Gegenstimmen aber marginal.
Dynamik wird in das harmonische Bündnis aus Bewegung und Staat, wenn überhaupt, erst nach dem Ende der Präsidentschaft Kirchners im nächsten Jahr kommen. Entweder es bleibt dann bei der friedlichen Koexistenz, bei der sich die Bewegung mit einer juristischen Bestrafung der Verantwortlichen und institutioneller Verankerung begnügt. Oder Gerechtigkeit wird wieder stärker als soziale Gerechtigkeit thematisiert – und bekommt so einen direkten Bezug zur Gegenwart, anstatt reine Vergangenheitsbewältigung zu sein.