Obdachlosigkeit und Migration

Den Teufelskreis durchbrechen

Ohne Wohnung keine Arbeit – ohne Arbeit keine Wohnung. Wohnungslose in Deutschland sind meist auch Langzeitarbeitslose. Das Hartz-IV-System trägt dazu bei, dass die Obdachlosigkeit in Deutschland steigt. Besonders betroffen sind Migranten aus Osteuropa.

Eigentlich sollte die Sache damit geregelt sein. »Leistungen für die Unterkunft werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen erbracht«, heißt es im Sozialgesetzbuch XII. Wer sich keine eigene Wohnung leisten kann, für den muss der Staat die Miete zahlen. Doch oft geschieht das nicht: Die Zahl der Wohnungslosen in Deutschland steigt. 284 000 sollen es nach Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) derzeit sein – eine Zunahme um fast 15 Prozent in den vergangenen vier Jahren. Rund 25 000 Menschen leben heute ohne Unterkunft auf der Straße. 2016, so schätzt der Verband, werden 380 000 Menschen in Deutschland keine Wohnung haben.
Einer der Gründe, weshalb Menschen trotz Sozialleistungsanspruchs auf der Straße landen – oder dort bleiben –, sind psychische Erkrankungen. Diesen Zusammenhang haben jetzt Psychiater der TU München untersucht. Ihre Studie »Seelische Erkrankungsrate in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe«, kurz Seewolf (s. Interview S. 5), ist die bislang größte Erhebung zu den Lebensumständen von Wohnungslosen bundesweit. Das Ergebnis: Mehr als zwei Drittel der Wohnungslosen leiden unter psychischen Erkrankungen, aber nur ein Drittel der Betroffenen erhält eine angemessene Versorgung. Die Wissenschaftler befragten 232 Wohnungslose aus dem Raum München. In der wohlhabenden Großstadt sei die Situation »besonders angespannt«, schreiben sie. »Bezahlbare Wohnungen sind hier rar.« Derzeit verschärfe sich die Lage durch Zuwanderung aus Osteuropa.
Die Studienteilnehmer waren im Durchschnitt seit über fünf Jahren ohne eigene Wohnung. Als sie ihre letzte Bleibe verloren, waren sie im Mittel 42 Jahre alt. Im Schnitt litten sie bereits 6,5 Jahre vor Beginn der Wohnungslosigkeit an behandlungsbedürftigen psychische Störungen. »In erster Linie sind Menschen von Wohnungslosigkeit betroffen, die aus verschiedenen Gründen schon vorher labil und verwundbar waren«, schreiben die Forscher. Bei rund 40 Prozent fanden sie eine Depression, bei rund 20 Prozent Angsterkrankungen. Zudem litten 80 Prozent unter Suchtproblemen. Jeder Dritte Befragte gab Geldmangel als Ursache seiner Wohnungslosigkeit an, gefolgt von Trennung oder Tod eines Partners oder der Eltern (19 Prozent) oder einer Erkrankung (17 Prozent).
Die Psychiater untersuchten nicht nur die Wohnungslosen, sondern auch die eigene Branche – was sich streckenweise wie eine Abrechnung mit der Antipsychiatriebewegung liest. So erinnern sie daran, dass durch die »Enthospitalisierung« in den siebziger Jahren die Zahl der Psychiatriebetten deutlich reduziert wurde. »Chronisch Kranke wurden dadurch auf den Bürgersteig verlegt.« In den Anfangsjahren der Enthospitalisierung sei unbemerkt geblieben, dass viele chronisch psychisch Kranke »nicht Fuß fassen konnten« und nach und nach in die Wohnungslosigkeit gerieten. »So sehr vielen psychisch Kranken diese non-restriktive Lebensform kurzfristig entgegenkommt, so sehr sind sie langfristig von Verwahrlosung und erhöhter Mortalität bedroht«, so die Forscher.

Deshalb fordern sie eine stärkere Kooperation der Wohnungslosenhilfe mit psychiatrischen Institutionen. Für psychisch schwer Kranke, die besonders häufig auf der Straße landen, müssten jedoch Wohnformen eingerichtet werden, in denen »nicht die Therapie mit dem Ziel der zeitnahen Heilung im Vordergrund steht, sondern die langfris­tige Fürsorge«. Ein Teil der psychisch kranken Menschen schließlich brauche »Schutzräume ohne forcierte Therapieanforderungen im Sinne eines vorübergehenden ›Time-out‹«.
Kürzlich war auch der Bundesverband Wohnungslosenhilfe mit einem Appell an die Öffentlichkeit getreten und hatte den »Erhalt bezahlbaren Wohnraums« gefordert. In den vergangenen Jahren habe die Wohnungslosigkeit in vielen Regionen Deutschlands deutlich zugenommen und werde sich weiter verschärfen, sagte der BAG-Vorsitzende Winfried Uhrig. »In den Ballungsgebieten stiegen die Mietpreise ungebrochen.« Gleichzeitig schrumpfe der Bestand an Sozial- und bezahlbaren Wohnungen. »Und wer erstmal auf der Straße ist, muss Gewalt und weitere Diskriminierung fürchten«, sagte der Geschäftsführer des Verbandes, Thomas Specht. Die BAGW forderte eine deutliche Aufstockung der Förderung des sozialen Wohnungsbaus.
Besonders stark wachse die Zahl junger Wohnungsloser. Jeder fünfte Mensch ohne Obdach ist jünger als 25. Ursache dafür sei unter anderem das Hartz-IV-System: Als Sanktion können auch die Mietzahlungen gekürzt oder eingestellt werden. »Das führt direkt in die Obdachlosigkeit und muss sofort abgeschafft werden«, sagt Specht.
Da Wohnungslose häufig langzeitarbeitslos seien, müsse auch weit mehr getan werden, um wohnungslose Menschen wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Den Teufelskreis »Ohne Wohnung keine Arbeit – ohne Arbeit keine Wohnung« könnten die Betroffenen kaum durchbrechen. Auch in der Gesundheitspolitik sieht die BAGW Handlungsbedarf. Noch immer seien mehr als 100 000 Menschen ohne Krankenversicherungsschutz, darunter viele Wohnungslose. Schuld seien oft hohe Beitragsschulden, diese müssten in Notfällen erlassen werden.

Migranten aus Osteuropa finden sich in wachsender Zahl bei den Notunterkünften ein. In Berlin etwa stammten 40 Prozent der Klienten im vergangenen Winter aus Osteuropa. Nach einer Erhebung des Berliner Senats vom Juni kommen die »wenigsten aus Rumänien und Bulgarien«, sagte der Sozialstadtrat von Charlottenburg-Wilmersdorf, Carsten Engelmann (CDU). Sie stammen überwiegend aus Russland, Polen und den baltischen Ländern.
Viele blieben weniger als ein Jahr oder kehrten vor den Wintermonaten zurück in ihre Herkunftsländer. Andere verbrauchen ihre knappen Ersparnisse und landen auf der Straße, ohne Wohnung finden sie keinen legalen Job und ohne Job keine Wohnung. Und wer nicht in Deutschland gemeldet ist, hat keinen Rechtsanspruch auf Sozialleistungen.
»EU-Migranten kommen zum Beispiel nicht in Wohnprojekte für Obdachlose rein, weil für sie niemand die Finanzierung übernimmt«, sagt die Sozialarbeiterin Marie-Therese Reichenbach von den Berlinern Frostschutzengeln, einem Projekt der GEBEWO–Soziale Dienste. »Sie sind auf sogenannte niedrigschwellige Einrichtungen wie Nacht­asyle angewiesen, weil sie keinen Hartz-IV-Anspruch haben, wenn sie hier nicht zuvor of­fiziell erwerbstätig gewesen sind.« Halten sie sich länger als drei Monate in Deutschland auf, gibt es zwar eine Chance, sozialrechtliche Ansprüche vor Gericht durchzusetzen. Die Rechtslage ist aber umstritten. Migranten aus Mittelosteuropa würden »viel schneller verelenden als Einheimische, (...) weil sie sozialrechtlich von vielen Integrationsangeboten ausgeschlossen werden«.
Hamburg hat deshalb das Winternotprogramm aufgestockt. »Wir haben aus den vergangenen Wintern gelernt und haben von Anfang an deutlich mehr Plätze zur Verfügung gestellt als in anderen Jahren«, sagt der Hamburger Sozialsenator Detlef Scheele. Mit den Schlafstellen verbunden ist eine zusätzliche Anlaufstelle für osteuropäische Obdachlose.
Im Sommer aber ist die Hamburger Linie eine andere. Vor wenigen Wochen löste der Bezirk Altona ein Obdachlosenlager am Nobistor auf. Eine mehrseitige, auf Deutsch verfasste juristische Allgemeinverfügung wurde in den Grünanlagen am Nobistor verteilt. Darin wurden die Betroffene aufgefordert, den Platz innerhalb von zwei Tagen zu räumen. Vor allem Bulgaren und Rumänen hatten dort ein Lager errichtet, in dem rund 60 Menschen mehrere Wochen in Zelten und Autos campierten. Allein die Ankündigung einer Räumung habe dazu geführt, dass die obdach­losen Familien mit ihren Kindern weggezogen seien und nun »nach wie vor kein Dach über dem Kopf haben«, sagte der Chef der Hamburger Diakonie, Dirk Ahrens. »Wir brauchen keine Räumungen, sondern kurzfristig weitere Unterbringungsmöglichkeiten für Obdachlose.«
In Berlin nimmt man sich gleichwohl an Hamburg ein Beispiel. Hier ist die Curvybrache am Spreeufer im Berliner Stadtteil Kreuzberg, auf der viele Roma leben, akut von der Räumung bedroht.