Obdachlose in Los Angeles werden zu Künstlern

Die Lebenskünstler von Skid Row

Der Stadtteil Skid Row mitten in Los Angeles gilt als Elendsviertel. Nirgendwo sonst in den USA leben so viele Obdachlose auf so engem Raum. Armut, Drogenmissbrauch, Krankheit und Verwahrlosung sind hier überall sichtbar. Ein Kultur­projekt hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Armen in Skid Row ihre Menschenwürde zurückzugeben, sie zu motivieren – und zu Künstlern zu machen.

Eine Bläserkapelle, deren fröhliches Scheppern des Liedes »Sweet Georgia Brown« an Hochzeiten in New Orleans erinnert, dazu ein paar ungelenk Tanzende in ärmlicher Kleidung, andere, die regenbogenfarbene Transparente mit Gesichtern darauf hochhalten, und ein paar Zuschauer: Die zweite vom Los Angeles Poverty Department (LAPD) organisierte Parade »Walk the Talk« marschierte im Mai durch Skid Row – die größte Obdachlosengemeinde Nordamerikas. Auf dem Weg hielten die Teilnehmer an sieben verschiedenen Stationen, um eigene Kunst wie kleine Gemälde, Pergamente oder Fotos zu zeigen und um in mit Musik und Tanz untermalten Reden an die Geschichte von Skid Row zu erinnern. Bei Podiumsdiskussionen sprachen sich die Teilnehmer gegen die Gentrifizierung des Viertels aus, gegen Racial Profiling und soziale Diskriminierung.
Das LAPD ist die erste Kulturinitiative, die sich fast ausschließlich aus Obdachlosen zusammensetzt. Seit nunmehr fast 30 Jahren ermöglicht sie den Bewohnern von Skid Row, Kunst zu schaffen oder Aufführungen zu organisieren, die sich unmittelbar aus der eigenen Armut und den prekären Lebensbedingungen ergeben. Organisiert werden interdisziplinäre Kunstprojekte, Basketballturniere, Lesungen eigener Gedichte in Bibliotheken, Theater- und Tanzstücke und vieles mehr. Viele Projekte thematisieren das marode US-Gesundheitssystem, Rassismus oder medizinische Stigmatisierung. »Krankenhaus« zum Beispiel ist ein zusammen mit dem niederländischen Kollektiv Wunderbaum entworfenes Theaterprojekt, das in Form einer fiktiven Generalprobe die Klischees von Krankenhausserien ironisiert und dabei das an der freien Marktwirtschaft orientierte Gesundheitswesen kritisiert.
Das Akronym LAPD spielt auf das Los Angeles Police Department an, doch engagiert sich die Gruppe gegen polizeiliche Maßnahmen zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit. Sie wurde 1985 von dem Künstler John Malpede gegründet. Er habe sich einfach auf Skid Row eingelassen, erzählte Malpede in einem Gespräch mit dem Schriftsteller Sam Bloch. Eigentlich wollte er ein Buch über Obdachlosigkeit schreiben, dann sei das LAPD geradezu »über ihn gekommen«.

Skid Row befindet sich in Downtown Los Angeles. Auf etwas weniger als einem Quadratkilometer leben hier fast 20 000 Menschen. Von diesen sind etwa drei Viertel ehemalige Obdachlose, Veteranen, Drogensüchtige, Häftlinge sowie psychisch oder physisch Erkrankte. Mehr als 3 500 Obdachlose schlagen auf den Straßen und in Hauseingängen des Viertels abends ihre Zelte oder Pappkartonlager auf oder schlafen direkt auf dem Asphalt. Manche verirren sich bis vor die glänzenden Büroeingänge der Hochhäuser nur ein paar Blocks weiter, schieben ihre mit Habseligkeiten beladenen Einkaufswagen bis dicht an die Fensterscheiben des noblen Restaurants Bar Amà oder holen sich einen gratis Cupcake bei »Big Man Bakes« ab.
Die Kunst des LAPD soll die Träume, Hoffnungen und Rechte der Skid-Row-Bewohner widerspiegeln und ihnen trotz Drogensucht, psychischen Problemen und Armut neue Würde verleihen. Daher versteht das LAPD Skid Row nicht als »Endstation des sozialen Abstiegs«, wie das Viertel oft bezeichnet wird, sondern als »Recovery Community«. »Wir vergeben hier keine Urteile wie: lebenslänglich obdachlos oder drogensüchtig. Wir glauben, dass Menschen sich verändern. Das LAPD verurteilt nicht, sondern fördert gegenseitige Anteilnahme«, heißt es auf der Website der Organisation. Die durch Drogenmissbrauch und Gewalt Traumatisierten in Skid Row sollen – so erhofft es sich das LAPD – aktiv an der positiven Gestaltung ihrer Nachbarschaft mitwirken und sich in ihrem Viertel auch einfach erholen können.
Während der jährlichen »Walk the Talk«-Parade tragen viele Menschen bunte Schilder mit Porträts darauf. Sie zeigen ehemalige Aktivisten aus Skid Row oder Menschen, wie etwa Robert Sundance von den Sioux, die in Skid Row clean geworden sind. Auch Diane Berry ist auf einem der bunten Portraits abgebildet. Nach ihrem Entzug begann sie, in einem kleinen Hotel zu arbeiten und wurde dann die erste weibliche Hotelmanagerin von Skid Row. Mittlerweile organisiert sie den jährlichen »Marathon Anonymer Kokainkonsumenten«. »Ich suchte mir die ersten Gäste des Hotels selbst aus. Einmal im Monat aßen wir gemeinsam, grillten in Gladys Park und musizierten«, erinnert sie sich. Andere, wie der aus Korea stammende Mr. Lee, ein ehemaliger Musikethnologe der University of California, eröffnete in Skid Row einen Gemischtwarenladen, das Pärchen Lucy and Tony Stallworth gründete einen Karaokeclub. Im Viertel gibt es außerdem einen Fotoclub, ein Kaffeehaus und ein Kino, das umsonst Filme zeigt. Jeden Mittwoch werden hier auch Scheine verteilt, mit denen Kranke einen Arzt aufsuchen können.
Die christliche Hilfsorganisation Union Rescue Mission kündigt auf einem roten Wäschewägelchen eine »Hygienefahrt« an. Drei Wochen lang wird die Mission Hygieneartikel wie Shampoo, Zahnbürsten, Rasierer und Seifen an Obdachlose und Bedürftige in Skid Row verteilen. Im Innenraum des Wagens wird mit farbigen Kollagen aus Polaroids, Zeitungsausschnitten, Stickern und gemalten Bildern die Geschichte von Skid Row erzählt, auch jene der Legalisierung der freien Vergabe von desinfizierten Injektionsnadeln. In einem Gespräch mit der Zeitschrift Tha Reel Hapz kritisierte Jeff Page, Mitglied des LAPD und erster Obdachloser im Stadtrat von Los Angeles, die seiner Meinung nach überholten, an Selbstanklage und möglichst schnellem Entzug orientierten Suchtbekämpfungsprogramme, die lange vor den modernen Drogen wie Crack, LSD und Crystal Meth entstanden seien.

Im September wird das LAPD mit der Produktion des Theaterstücks »Phoenix in den Diamanten« beginnen. Das Stück soll das kreative Potential ausloten, das psychische Krankheiten haben können. Für Oktober ist ein Kunstfestival geplant. Ein Wochenende lang werden Bewohner von Skid Row eigene Kunstwerke ausstellen und Stücke aufführen. Bis dahin sollen auch alle Kunstwerke der vergangenen fünf Jahre archiviert werden. Die Mitglieder des LAPD verstehen sich als »Artivists«, als Künstler, die Kunst verwenden, um damit die so­zialen Probleme ihrer Community anzusprechen. Für John Malpede erinnert »Walk the Talk« daran, dass soziale Visionäre hier in Skid Row eine Umgebung schaffen, in der trotz allen Elends auch Gutes passiert. Angesichts der jüngst entstandenen Luxusappartements und In-Restaurants in der Umgebung und vor dem Hintergrund deutlich ansteigender Kriminalitäts- und Todesraten ist davon auszugehen, dass die immer wieder angekündigte Gentrifizierung von Skid Row nicht ad acta gelegt, sondern bloß aufgeschoben ist. Zudem zieht das große Angebot an Hilfsdiensten weiterhin viele Obdachlose aus der Stadt an, was wiederum den Unmut der Stadtregierung dem Viertel gegenüber erregt. Budgetkürzungen im kalifornischen Gefängniswesen führen außerdem zu einer schnelleren Entlassung der Insassen, von denen viele dann auch auf den Straßen von Skid Row sind.
Die meisten Probleme des ärmsten Viertels der Westküste kann ein Kulturprojekt wie das LAPD selbstverständlich nicht lösen, doch mit seiner kreativen Mikropolitik gibt es den Armen ein Stück ihrer Menschenwürde zurück, und nichts könnte das so gut demonstrieren wie die jährliche »Walk the Talk«-Parade.