Die internationale Dimension der Flüchtlingskrise im Nordirak

Bitte hinten anstellen

Immer mehr Menschen fliehen vor dem Terror des Islamischen Staats über die türkische Grenze. Die Flüchtlingskrise ist ein internationales Problem, dem sich Europa stellen muss. Die deutsche Debatte darüber zeigt, dass für diese Menschen noch keine Lösung in Sicht ist.

25 Tage hat es gedauert, bis am vergangenen Freitag die erste Lieferung deutscher Waffen bei den Kurden im nordirakischen Erbil eintraf. Bereits am 1. September hatte die Bundesregierung den entsprechenden Beschluss gefasst, doch die Bundeswehr hatte so ihre Probleme mit dem Versand der Panzerfäuste, Gewehre und Munition an die Peshmerga. Schneller war das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen, das UNHCR: Bereits am Mittwoch, einen Tag vorher, hatte es den ersten Transport mit Hilfsgütern ins südtürkische Adana geschickt. Seither sind weitere Flugzeuge mit Schlafmatten, Decken und Kochgeschirr in der Region eingetroffen. Denn die Flüchtlingskrise hat sich dort ebenso schnell zugespitzt wie die militärische.
Im vierten Jahr nach Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien spricht die EU von der »größten huma­nitären Katastrophe der Welt« mit »unermesslichen« Folgen. 10,8 Millionen Menschen sind auf Hilfe angewiesen, 6,4 Millionen davon im eigenen Land. 4,7 Millionen Menschen halten sich laut der EU in schwer zugänglichen Landesteilen auf, davon rund 241 000 Menschen in Gebieten, die von Truppen belagert werden. Die übrigen drängen sich in den Nachbarländern.

Nach den Offensiven des Islamischen Staats (IS) flohen in den vergangenen Wochen mehr Menschen in Richtung Türkei. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan spricht von 1,5 Millionen syrischen Flüchtlingen in seinem Land, das UNHCR von rund einer Million. Jeder Fünfte lebt in einem der 22 Camps, die es bereits für sie gibt, in diesen Tagen werden zwei neue errichtet. Syrerinnen und Syrer dürfen sich 90 Tage ohne Visum im Land aufhalten. Danach bekommen sie keinen offiziellen Flüchtlingsstatus, sondern dürfen als »Gäste« im Land bleiben. Die Registrierung durch die türkischen Behörden läuft in einem dreistufigen Verfahren: Am Anfang steht ein »Sicherheitscheck«, bei dem offenbar bei Geheimdiensten abgefragt wird, ob es sich um kurdische Milizionäre oder Jihadisten handelt. Danach erfolgt die eigentliche Erfassung und schließlich eine ärztliche Untersuchung.
Die Lager sind offen. Anders als die Aufnahmeländer nach den Krisen in Mali, Somalia und ­Libyen verzichtet die Türkei bislang darauf, die Flüchtlinge zu internieren. Doch die Lage ist heikel. Die YPG, die Miliz der kurdischen Partei PYD auf der syrischen Seite, ist eng mit der PKK verbandelt – noch immer Erzfeind der Türkei. Und die politische Aufwertung, die diese in den vergangenen Wochen erfahren hat, ist der Regierung in Ankara in höchstem Maße suspekt (s. Seiten 4/5).
»Kurdische Flüchtlinge mussten tagelang warten, um in der türkisch-kurdischen Grenzstadt Suruç in Sicherheit gelangen zu können. Zeitgleich hindern türkische Sicherheitskräfte mit Gewalt kurdische Demonstrantinnen und Demonstranten daran, über die Grenze zu gelangen, um bei der Verteidigung von Kobanê mithelfen zu können«, berichten Mitarbeiter der Organisation Medico International.
Kobanê ist der kurdische Name der Stadt Ain al-Arab, die auf drei Seiten von den Jihadisten umschlossen ist. Aus der Region sind viele Flüchtlinge über die türkische Grenze geflüchtet. Dort campieren sie »in den Parks und auf der Straße. Sie verweigern die Aufnahme in die staatlichen Flüchtlingscamps der türkischen Regierung, da diese in ihren Augen nicht der Hilfe, sondern der Kontrolle dienen«, heißt es weiter in einem Bericht von Medico International.
144 000 Flüchtlinge sollen in der vergangenen Woche über die Grenze gekommen sein, hat das UNHCR gemeldet. »Die türkischen Behörden spielen mit den Zahlen. Das entspricht nicht der Rea­lität«, sagt Dervis Cimen vom Kurdischen Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit in Frankfurt. Er glaubt, dass die Türkei die Lage als ganz besonders dramatisch hinstellt, um eine Offensive gegen die PKK in Syrien zu legitimieren. Die ganzen vergangenen Monate habe die Türkei stillschweigend geduldet, dass über ihr Territorium Nachschub für den IS nach Syrien gelangt ist. »Das zeigt, dass es Erdoğan nicht um die Bekämpfung der Jihadisten geht«, sagt Cimen. »Die Türkei hat andere Interessen.«
Der Korrespondent der FAZ in Suruç, Michael Martens, ist genau diesem Verdacht nachgegangen. Am Montag berichtete er, dass die Kurden mit dem, was »wie eine gigantische Verschwörungstheorie klingt«, zumindest »zum Teil recht haben könnten«. Tatsächlich, so schreibt er, gebe es in Suruç und Umgebung »zwar hier und da einige Zelte, in denen Flüchtlinge campieren, und auf dem Hauptplatz des Ortes, wo die islamische Hilfsorganisation IHH unentgeltlich Essen ausgibt, wimmelt es von Menschen, allerdings von Hunderten, nicht Tausenden oder gar Zehntausenden.«
Die Flüchtlingszahlen, die vom UNHCR weitergegeben werden, hat dieses nicht selbst erhoben, sondern von der türkischen Regierung übernommen. Es gebe »keinen Grund, den türkischen Behörden nicht zu glauben«, sagt eine Sprecherin des Flüchtlingswerks dazu.

Doch egal, ob Erdoğan die Zahlen übertrieben hat oder nicht – dramatisch ist die Lage in jedem Fall. Das wirft die Frage auf, ob und in welchem Umfang die Flüchtlinge von anderen Ländern aufgenommen werden müssen. »Die meisten Menschen wollen so schnell wie möglich zurück«, sagt ein Sprecher des UNHCR. »Das ist seit Jahrtausenden ihre Heimat und sie werden sich deswegen gar nicht erst weiter entfernen als nötig.«
Der Zentralrat der Yeziden in Deutschland hingegen drängt seit Monaten auf eine möglichst umfassende Aufnahme von Yeziden aus der Region in Deutschland. Die Angehörigen dieser reli­giösen Minderheit gelten den Jihadisten als »Ungläubige«. Amnesty International geht davon aus, dass der IS sich ihre Ausrottung zum Ziel gesetzt hat.
Außerhalb Europas, etwa im Kaukasus, gibt es bislang, soweit bekannt, keinerlei Regungen, Flüchtlinge aufzunehmen. In Deutschland wurde die Diskussion über ein Aufnahmekontingent schon im Juni geführt, wenige Tage nach der Einnahme Mossuls durch den IS. CDU und CSU haben diese Forderungen von Beginn an politisch zu instrumentalisieren gewusst. Es gebe die »drängenden Probleme« von Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel, als der Bundestag über die Einstufung von Serbien, Mazedonien und Bosnien als »sichere Herkunftsländer« debattierte. »Deshalb müssen wir überlegen, wie können wir denen, die am meisten Hilfe brauchen, wirklich helfen.« Ähnliche Töne kamen vom Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg: »Wir müssen den wirklich Verfolgten helfen, deshalb muss die schnellere Abschiebung in sichere Herkunftsländer möglich sein.« So wurden die irakischen und syrischen Flüchtlinge gegen die Roma aus dem Balkan ausgespielt – und das mit Erfolg: Mitte September stimmte der Bundesrat der Asylrechtsverschärfung zu.

Wer glaubte, damit sei der Weg freigemacht worden für eine großzügige Aufnahme von syrischen und irakischen Flüchtlingen, hat sich geirrt. Thüringens Innenminister Jörg Geibert (CDU) hält das »normale Asylverfahren für irakische Flüchtlinge« für »den besseren Weg« als eine organisierte humanitäre Aufnahme: Man stelle fest, dass ein Kontingent »verwaltungsmäßig sehr schwerfällig abwickelbar ist über Auswärtiges Amt und Deutsche Botschaft«, sagte er der Nachrichtenagentur DPA. Es stelle sich die Frage, ob man sich auf Kontingentflüchtlinge verständige oder ob man sage, »wir zeigen eine große Bereitschaft zur Aufnahme der Menschen aus dieser Region«. Mit anderen Worten: Wer will, kann ja versuchen, auf eigene Faust herzukommen.
Auch Sachsens Innenminister Markus Ulbig (CDU) winkte ab: »Sachsen nimmt nach Kräften Asylbewerber auf, und viele Menschen kümmern sich. Aber keinem Flüchtling ist geholfen, wenn wir uns durch neue Forderungen überfordern.« Die saarländische Innenministerin Monika Bachmann (CDU) schließlich lehnte ein Kontingent für IS-Verfolgte mit der Begründung ab, die »Flüchtlingssituation« im Irak könne »nicht allein durch die Bundesrepublik Deutschland bewältigt werden« – als ob das irgendjemand verlangt hätte.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) schließlich ließ durchblicken, dass die Hauptaufgabe aus seiner Sicht darin besteht, die Flüchtlinge im Irak zu versorgen. Es gehe »nicht um Aufnahmekontingente, sondern um Hilfe vor Ort«, sagte auch Mecklenburg-Vorpommerns Innenminister Lorenz Caffier (CDU).
Doch auch die lässt auf sich warten. Im Libanon etwa wurden 1,1 Millionen Flüchtlinge registriert. Nur 40 Prozent der Summe, die die Hilfsorganisationen für Lebensmittel, Wasser, Medizin und Zelte brauchen, sind bislang zugesagt. In Jordanien zählte das UNHCR bislang 618 000 Flüchtlinge, das Land bräuchte in diesem Jahr etwa eine Milliarde Dollar, um sie zu versorgen. Nur etwas mehr als die Hälfte wurde bislang bewilligt. Insgesamt beziffert das UNHCR den Fehlbedarf für die Versorgung der Flüchtlinge im Jahr 2014 auf 1,7 Milliarden Dollar.