Ein Konzertabend zu 50 Jahren »Der eindimensionale Mensch«

Den Gegner besiegen

Vor 50 Jahren erschien Herbert Marcuses »Der eindimensionale Mensch«. Ein Konzertabend widmet sich den Thesen und der Wirkungsgeschichte dieser ­bedeutenden systemkritischen Schrift.

Der eindimensionale Mensch wird fünfzig« – so lautet der Titel eines Theaterstücks von Thomas Ebermann, Kristof Schreuf, Andreas Spechtl und Robert Stadl­ober, das in dieser Woche Premiere feiert. Nicht nur ist das Buch »One-Dimen­sional Man: Studies in the Ideology of Advanced Industrial Society« von Herbert Marcuse vor 50 Jahren erstmals erschienen, nein, auch hat dieses Buch es erst möglich gemacht, den eindimensionalen Menschen benennen und begreifen zu können. Marcuses Buch ist heute ein Klassiker; bis vor kurzem allerdings waren alle deutschsprachigen Ausgaben vergriffen. Erst seit dem vergangenen Monat liegt wieder eine durchgesehene Buchausgabe vor.
Marcuses Buch galt in der Studentenbewegung der sechziger Jahre als unverzichtbare Lektüre, in den USA und in Deutschland wurde das Buch in Lesegruppen studiert, die Auftritte des Professors wurden frenetisch bejubelt und riefen Massenaufläufe hervor. Auch jene, die das Buch nicht gelesen hatten oder nicht verstanden, kamen angerannt, denn Marcuse-Vorlesungen waren ein Ereignis, ein Event, ein Spektakel. Man musste dort gesehen werden, wollte man als rebellischer Kopf gelten. Adorno und Horkheimer waren dagegen, obschon ebenso viel gelesen, als Personen weit weniger populär.
Mit Marcuse, so glaubten die begeisterten Studentinnen und Studenten, ließe sich verstehen, warum die Mehrheit der Leute in die Wertheim- und Hertie-Konsumpaläste drängte, während die Polizei eine Demonstration auf dem Berliner Kurfürstendamm niederknüppelte. Mit Marcuse ließ sich erklären, warum man sich selbst so unwohl in dieser Gesellschaft fühlte, obschon Deutschland doch längst von den Nazis befreit war, sich Rock, Pop und die Pille durchsetzten und einigen Nazis sogar der Prozess gemacht wurde. Inwieweit sie aber selbst solche eindimensionalen Menschen waren, das wollten sie lieber nicht wissen. Vielleicht erklärt das auch, warum Marcuses Theorie heute von vielen ehemaligen Achtundsechzigern so heftig abgelehnt wird.
Marcuse gab ihnen damals vor allen Dingen Hoffnung. Er war, bei all der nachvollziehbaren Verzweiflung, von der er schrieb, bei all seiner Hoffnungslosigkeit, selbst bereit zu glauben, dass die Studentenunruhen, die nach dem Erscheinen seiner berühmtesten Schrift in der Luft lagen, vielleicht doch etwas bewegen könnten. In seinem »Versuch über die Befreiung«, der 1969 auf Englisch erschien, war er tatsächlich von der Möglichkeit einer Veränderung überzeugt.
Marcuse hatte immer wieder Hoffnungen gehegt: 1898 in einem jüdischen Haushalt in Berlin geboren, war er 1918 im Soldatenrat in Reinickendorf tätig, verließ ihn aber resigniert, als er sah, wie sehr die Soldaten noch alten Strukturen verhaftet waren. Auch die SPD verließ er bald darauf. Nach seiner Promotion im Jahr 1922 arbeitete er zunächst im Buchgewerbe, bis er Ende der zwanziger Jahre seine Studien bei Edmund Husserl und Martin Heidegger fortsetzte. Doch schon bald wandte er sich Marx zu. Er emigrierte 1933 in die Schweiz, wurde Mitglied des Instituts für Sozialforschung, ging in die USA, hatte dort dann bald eine Stelle beim staatlichen Office of Strategic Services, wo er zunächst über Nazideutschland, dann über die Sowjetunion arbeitete. Erst 1954 erlangte er eine ordentliche Professur in Waltham (Massachusetts), dann wechselte er nach Kalifornien und ließ sich zugleich auf eine außerordentliche Professur an der Freien Universität in seiner Geburtstadt Berlin ein.
Er, der so viele Enttäuschungen, Entbehrungen und Niederlagen hatte erleben müssen und der so genau sah, wie gerade die »Freiheit« des Konsums das Denken der Menschen beschädigt – er nannte diesen Zustand »Hölle der Gesellschaft im Überfluss« –, er, der so eloquent über die »Große Verweigerung« schrieb, er nun sah plötzlich das Licht der Morgenröte: »Wahrscheinlich macht es den entscheidenden Charakter der Revolution des 20. oder des 21. Jahrhunderts aus, dass sie nicht primär aus Not geboren ist, sondern – sagen wir einmal – aus der allgemeinen Entmenschung, der Dehumanisierung, des Ekels an der Verschwendung und des Überflusses der sogenannten Konsumgesellschaft, dass deshalb die Hauptforderung dieser Revolution – zum ersten Mal eigentlich in der Geschichte – sein wird: eine wirklich menschenwürdige Existenz zu finden und ganz neue Lebensformen aufzubauen.«
Allerdings fürchtete er auch die Gewalt, die eine solche Revolution mit sich bringen konnte: »Es besteht gar kein Zweifel, dass im Verlauf revolutionärer Bewegung Hass entsteht, ohne den Revolution überhaupt nicht möglich ist, ohne den keine Befreiung möglich ist. Nichts ist entsetzlicher als die Liebespredigt ›Hasse nicht deinen Gegner‹. Im Verlauf der revolutionären Bewegung kann natürlich dieser Hass umschlagen in Grausamkeit, Brutalität und Terror. Die Grenze zwischen den beiden ist entsetzlicherweise außerordentlich flüssig. Ein Teil unserer Arbeit besteht darin, diesen Umschlag zu verhindern. Man kann einen Gegner besiegen, ohne ihm die Ohren abzuschneiden oder ohne ihn zu foltern.«
Für Ebermann, Schreuf, Spechtl und Stadl­ober ist es genau jener revolutionäre und zugleich vorsichtige Marcuse, an den sie anküpfen wollen. Ebermann betont in unserem Gespräch, wie oft er in den letzten Jahren, in denen viele seiner linken Kampfgenossen und -genossinnen sich plötzlich nur noch nach einer Zeit der Vollbeschäftigung und des staatlich gelenkten Marktes zurücksehnen, also nach einem vermeintlich krisenfreien Kapitalismus, die Worte Marcuses zitiert habe. Stadlober ist es wichtig, dass sich Marcuse – anders als Adorno – auch mit der Popkultur auseinander gesetzt hat und sich etwa, bei allem Abstand, für Bob Dylan begeistern konnte.
Dabei glorifizieren sie Marcuse keineswegs und werden auf der Bühne auch die Widersprüche in seinem Werk benennen. Gerade sie machten Marcuse so interessant, heißt es in dem umfangreichen Programmheft. Doch wie bühnentauglich ist der »eindimensionale Mensch«? Bei unserem Gespräch ist noch alles im Fluss, der Verlauf des Abends ist mehrfach geändert, das Programm umgeworfen worden. Es wird einige Songs geben, Ebermann wird nur recht kurz auf der Bühne sein, Spechtl und Stadlober wollen dagegen eine Art »Marcuse-Maschine« inszenieren. Zitate von Marcuse, aber auch von anderen Theoretikerinnen und Theoretikern werden durch eigene Texte ergänzt.
Im Programmheft gibt es ein Foto: Marcuse spricht in der Öffentlichkeit, vor ihm Dutzende Menschen, die ihm ein Mikrophon hinhalten – und auf einige der Gesichter sind nun die Gesichter der vier Stückemacher montiert. Vielleicht ist es ja das, was sie sein wollen – ein Marcuse-Verstärker, der ja immer auch ein Marcuse-Verzerrer ist.
Das kann gruselig werden, das kann ganz erbärmlich scheitern, das kann aber auch gelingen. Denn es geht den vier Machern keinesfalls darum, von der Bühne herab die wahre Lehre zu verkünden. Wem das zu pädagogisch oder zu wenig pädagogisch ist, der kann ja daheim als großer Verweigerer das Buch ­lesen.

Der eindimensionale Mensch wird fünfzig. Premiere: 9. Oktober, Graz, Steirischer Herbst. Tourneeplan siehe http://der-eindimensionale-mensch.com.

Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Herausgegeben von Peter-Erwin Jansen. Aus dem Englischen von Alfred Schmidt. Verlag zu Klampen, Springe 2014, 296 Seiten, 24 Euro