Die Folk-Compilation »Troubadours«

Wo das Leftfield liegt

Man muss eine Menge Woody Guthrie hören, bis Mike Nesmiths psychedelische Country-Operetten erklingen. Die umfangreiche Compilation »Troubadours« bildet die Geschichte der amerikanischen Folk-Musik von den Zwanzigern bis in die Sieb­ziger ab.

Die Geschichte der amerikanischen Folk-Musik muss nicht neu ­geschrieben werden. Es gibt ihn nicht, den geheimnisvollen Unbekannten, dem der Ruhm des Pioniers zusteht, oder den großen Verkannten, der in Wahrheit das Genre revolutioniert, das Troubadourwesen urbanisiert und das Lied der Folks elektrifiziert hat. Nein, die Ehre gebührt, daran ändern auch die 278 Songs auf 12 CDs nichts, die das auf den großen bibliophilen Wurf abonnierte Label Bear Family unter dem Titel »Troubadours – Folk And The Roots Of American Music« auf den Markt bringt, keinem anderen als dem jüdischen Jungen aus Minnesota, der beim Newport Folk Festival 1965 der versammelten Folkloristengemeinde einen Elektroschock verabreichte, als er seine Gitarre unter Strom setzte und mit einer kompletten Rockband die Konventionen des feierlich begangenen gemeinsamen Singens zu einfacher Gitarrenbegleitung über den Haufen warf. Bob Dylan, der noch dazu besser aussah als der Rest, mit seinem Jew­fro zu schwarzer Sonnenbrille und Polka-Dot-Shirt anstelle der üblichen Arbeiterverkleidung aus kariertem Flanell. Mit sechs Songs ist Dylan auf »Troubadours« vertreten, darunter »Blowing in the Wind«, die Evergreens aus den frühen Tagen vor dem elektrischen Sündenfall, der ihm den meistkommentierten Zwischenruf der Popgeschichte einbrachte: »Judas!« rief ein Zuschauer am 17. Mai 1966 in der Free Trade Hall zu Manchester. Dylans Replik: »I don’t believe you, you’re a liar«, und dann zu seiner Band: »Play it fucking loud!« Es folgte »Like a Rolling Stone«, fucking loud.
Die Revolutionierung des amerikanischen Songwesens durch die Elektrifizierung wird auf dieser Anthologie ausgespart, und das, obwohl sie bis in die mittleren Siebziger reicht mit John Denver, Townes Van Zandt und Mickey Newbury. Dieser eigenwillige Umgang mit der historischen Wahrheit mag dem Titel der Sammlung geschuldet sein: Der Troubadour ist ein Dichter, Komponist und Sänger höfischer Lieder im Mittelalter, ein Solitär, der sich selbst begleitet, in der Regel mit der akustischen ­Gitarre. Er – seltener: sie – singt mit klarer Stimme Lieder, die im günstigen Fall zu Folksongs werden, nachgesungen von anderen – oral folk history. Klassischerweise singen Folk-Musiker am Lagerfeuer, bei Kundgebungen, Demonstrationen, folglich dürfen die Songs nicht zu elaboriert sein, das Setting nicht zu kompliziert, Troubadoure brauchen keine Steckdose. Die Lieder werden von den werktätigen Massen adaptiert, so will es die hegemoniale Geschichtsschreibung der Folkmusik, die auch hier als Geschichte einer Folk-Bewegung erzählt wird. »Auf dem Höhepunkt der Großen Depression waren viele amerikanische Komponisten ernsthafter Konzertwerke Mitglied im Kollektiv der Komponisten oder diesem zumindest eng verbunden. Diese Organisation war der Kommunistischen Partei angeschlossen. Ziel des Kollektivs war es, ein Grundlagenwerk der Volksmusik zu schaffen, das die Arbeiterklasse ansprechen sollte.« Mit dieser im volkspädagogisch-technokratischen Ton der vierziger Jahre gehaltenen Erklärung beginnt das Kapitel über Earl Robinson.
Unter den Mitgliedern des Composer’s Collective war der 1910 in Seattle geborene Robinson »jener Komponist, der am erfolgreichsten Volksausdrucksweisen in seine Arbeit einfließen ließ«. »Volksausdrucksweisen« sind mit Vorsicht zu genießen, hier aber kommt das Übersetzungsproblem hinzu. Der amerikanische Begriff »Folk« bezeichnet etwas anderes als »Volk« im Deutschen, so wie der amerikanische Begriff »Race« als politisch-soziologische Kategorie etwas anderes meint als das deutsche Wort »Rasse«. Weiter in der Folk-Folklore der Linernotes: »Im Sommer 1936 wurde Earl Robinson Leiter von Camp Unity, einer kommunistischen Erholungs- und Erziehungseinrichtung 50 Meilen nördlich von New York City.« Die Gegend um die Catskill Mountains wurde auch »Borscht Belt« genannt, war sie doch ein beliebtes Ferienziel New Yorker Juden, wie es in »Dirty Dancing« dargestellt wird. Die bedeutende Rolle linker Juden in der amerikanischen Folk-Bewegung wird in der Anthologie »Troubadours« nicht eigens betont, ist aber offenkundig. Weiter Folk-Folklore: »Alfred Hayes, der Schauspieldirektor des Lagers, zeigt Robinson ein Gedicht, das er kürzlich geschrieben hatte und dem Singer-Songwriter und Märtyrer der ›Wobblies‹, Joe Hill, gewidmet hatte.« (Wobblies sind die Mitglieder der Industrial Workers of the World.) »Robinson nahm sich eine Gitarre und entwickelte innerhalb von 40 Minuten eine Melodie, die zu Hayes Zeilen passte. Noch am selben Tag trug Robinson ›Joe Hill‹ einer Runde am Lagerfeu­er vor.«
Der Authentizismus der hier suggerierten Zeitzeugenschaft am Lagerfeuer korrespondiert mit dem treuherzigen Verismus vieler Folk-Songs und dem nicht zu erschütternden Glauben an die Kraft des gesungenen Wortes. So gesehen ist diese Sorte Folk das musikalische Pendant zum sozialistischen Realismus in der Kunst. 1940 nimmt Earl Robinson sein Klagelied über Joe Hill auf, die Begleitung ist simpel genug für Gitarrenanfänger, leicht nachzumachen. Fast 30 Jahre später präsentiert Joan Baez »Joe Hill« beim Festival in Woodstock und stellt den Song in den Kontext der Proteste gegen den Vietnam-Krieg. An Earl Robinsons schlichtem Arrangement ändert Baez nichts, das Lied bleibt cantabile. Mit ihrer glockenklaren Jungfrauensirene trifft die Sängerin den Sound des reinen Herzens und repräsentiert die Unschuld der Folk-Bewegung bei einem Festival, das dominiert wird von ästhetisch wie sonisch ganz anderen Antworten auf die Politik der USA in Vietnam: Sly & The Family Stone mit ihrer drogeninduzierten Funk-Rock-Emanzipationsekstase, Jefferson Airplane mit ihrem Aufruf, zu den Waffen zu greifen, Country Joe McDonalds F-U-C-K und die E-Gitarren-De(kon)struktion der US-Hymne durch Jimi Hendrix.
Die Geschichte der politischen Folk-Musik erzählt die Anthologie wertkonservativ und traditionslinks, das zeigt schon die Auswahl der Protagonisten. Joan Baez ist mit sieben Songs vertreten, Woody Guthrie mit elf, und Pete Seeger, der Mann, der beim Newport-Festival angeblich mit einer Axt die Stromzufuhr zu Dylans E-Gitarre unterbrechen wollte, bekommt gleich 15 Lieder. Diese Auswahl spielt Popskeptikern in die Hände, die genervt sind von der notorischen Dylan-Vergötterung. Und den Romantikern, die einen Phil Ochs für genialer und sträflich unterschätzt halten. Solche Romantiker finden auch, dass der SC Freiburg schöner Fußball spielt als der FC Bayern. »Glotzt nicht so romantisch«, hätte Brecht gesagt, von dem Dylan nicht nur diesen klugen Rat übernommen hat.
»Die Geschichte der US-amerikanischen Singer-Songwriter« verspricht das Booklet. Tatsächlich werden viele kleine Geschichten zu einem Puzzle arrangiert, zum Patchwork der Minderheiten einer »zusammengewürfelten Nation«, wie Dave Samuelson in den Linernotes formuliert. Leider macht er die Nation gleich zum Subjekt und unterstellt ihr eine »Suche nach Identität«, wo diese Sammlung doch im Gegenteil den Nachweis liefert, dass das Einwanderungsland USA seine Identitäten schneller wechselt als Lady Gaga ihre Kostüme. Auch die ewige Rede von den »Wurzeln« darf nicht fehlen, dabei sind hier Luftwurzeln am Werk. Das Loblied des »Authentischen« wird gesungen, dabei kann man anhand dieser Anthologie wunderbar nachzeichnen, wie Songs Flügel bekommen, wie der kulturelle Transfer, sei es aus dem alten Europa, aus der Karibik oder aus Südamerika, der Musik neues Leben einhaucht, wie die kulturindustrielle Zurichtung und Verbreitung ihr eben nicht nur Substanz raubt, sondern auch neue Möglichkeiten eröffnet.
Vor allem die ersten vier der zwölf CDs sind eine Fundgrube skurriler Artefakte; der Begriff Folk ist nicht mehr als eine Klammer für all den Kram, den die weird folks so singen, wenn der Tag lang und der Fusel okay ist.
Da erfährt man, dass The Weavers sich nach Gerhart Hauptmanns »Die Weber« benannt und »1948 beim Hootenanny am Erntedankwochenende auf der Irving Plaza gespielt ­haben«. Und was singen sie? »Die mitreißende Fassung eines israelischen Soldatenliedes, ›Tzena Tzena Tzena‹, in hebräischer Sprache.« Man trifft Ernie Lieberman, der mit Irwin ­Silber das einflussreiche Label Hootenanny begründet hatte. Lieberman, Jahrgang 1930, war ein »Red Diaper Baby«. Rote Windelkinder nannte man damals Sprösslinge von Kommunisten, die im Sommer in linke Ferienlager verschickt wurden. Ermutigt von Irwin Silber, formiert Liebermann 1950 »eine aus Weißen und Schwarzen (Frauen und Männern) bestehende Gesangsgruppe«, Duncan/Lieberman/Sanders/Smith. Und was singen sie? ›Die Gedanken sind frei‹, das bekannte deutsche Lied aus dem 19. Jahrhundert (…). Die Schallplatte wurde vor allem über linke Buchläden vertrieben und verkaufte sich 1952 etwa 1 200 Mal.« Die Gateway Singers, drei weiße Folk-Musiker und eine afroamerikanische Sängerin, reimen 1957 »sklerosis« auf »psychosis« und »credo« auf »libido«, »The Ballad Of Sigmund Freud«, nicht ohne Jung und Adler.
Da ist also noch ein weites, heute weitgehend versunkenes Leftfield jenseits der Union Boys mit ihren Solidaritätsliedern, jenseits von Woody Guthries Dustbowl-Soziodramen und Pete Seegers Frage, wo denn all die Blumen hingekommen sind – übrigens vorgetragen mit einer »nach knarrenden Dachsparren klingenden Tenorstimme«, so die Linernotes in ihrer speziellen Lakonie, von der man nicht so recht weiß, ob sie dem Sportreporterjargon entlehnt ist, einen auf hard boiled macht oder sich einer eigenwilligen Übersetzung verdankt. Ein Leftfield jenseits der ins Protestantische lappenden Folk-Folklore tut sich auf, ein kosmopolitisches Leftfield, in dem Juden und Afroamerikaner gemeinsame Sache machen, in der Bürgerrechtsbewegung und im Popgeschäft, sowas von antiauthentisch, dass es eine Freude ist. Überhaupt ist die Freude an »Troubadours« umso größer, je weniger troubadourisch gesungen wird, je kunstvoller, je kul­tur­industriell vergifteter  und vermischter, unreinrassiger und hybrider, popistischer und konstruierter die Musik daherkommt.
Da freut man sich über Mike Nesmiths psychedelische Country-Operetten. Der Mann war ein Monkee, also Mitglied der ersten Casting-Band ever. Man freut sich über Harry Nilsson, der fünfteste aller Beatles und sein gewissermaßen antifolkiges »One«.
Das letzte Wort hat Joni Mitchell. Einen einzigen Song darf sie beisteuern, die Frau, die bis heute immer wieder in einem Atemzug mit Joan Baez genannt wird, wo sie doch die Ein­zige der hier Versammelten ist, die Dylan das Wasser reichen kann, men & women. »Both sides now« haben sie ausgewählt, 1969 Mitchells größter Erfolg im Folk-Fach. Danach wird Mitchell idiosynkratisch, too much for ordinary folks.

Various Artists: Troubadours – Folk and the Roots of American Music 1–4. Bear Family/Delta Music