Die Folgen des Kriegs in Mali

Afrikas vergessener Konflikt

Der Krieg in Mali ist seit über einem Jahr vorbei, doch noch immer leben Zehntausende Flüchtlinge in Burkina Faso.

In den dürren Büschen haben sich verwehte schwarze Plastiktüten verfangen, vor der roten Erde sehen sie aus wie Tausende verendende Krähen. Die Tüten können das Flüchtlingslager von Dori verlassen, die Bewohner nicht. Seit mehr als 700 Tagen ist Ahmid ag Abdullahi in Dori, zwei Tagesmärsche von der malischen Grenze entfernt. Er ist einer von etwa 10 000 Tuareg, die sich in den unwirtlichen Sahel-Streifen im Norden Burkina Fasos gerettet haben.
Wäre das Leben des jungen Manns nach Plan verlaufen, würde er bald beginnen, in einer Grundschule in Timbuktu Französisch, Mathematik und Sport zu unterrichten. Stattdessen verbringt er seine Tage auf den 180 Hektar des Camps, bewacht von burkinischen Soldaten, die darauf achten, dass niemand das Lager verlässt.
Zwischen den Zelten sind Ziegen und Rinder festgebunden, 10 000 Tiere haben die Flüchtlinge mitgebracht. Es riecht nach Viehmist, verbranntem Holz und Plastik. Jetzt, am frühen Nachmittag, spielen Kinder zwischen den Soldaten Fußball, unter einem Wellblechdach sitzen Dutzende Männer in blauen, grünen oder orangenen Tagelmusts, den meterlangen Schleiern, die den Sand der heißen Böen von ihren Gesichtern fernhalten. Die Menschen hier sind der Bodensatz eines Krieges, der in ihrem Namen begonnen wurde und der sie schließlich ihre Existenz gekostet hat.
»Wir sind liberal«, sagt ag Abdullahi, die Tuareg seien »keine Fanatiker«, darauf legt er Wert. Doch religiös ist auch ag Abdullahi. Fünfmal am Tag betet er, heute steht nur noch das Abendgebet aus. Damals hat er für den Aufstand gebetet. Es war der 17. Januar 2012, die Radiosender berichteten, dass die Nationale Bewegung für die Befreiung des Azawad (MNLA) zu den Waffen gegriffen hatte, die die Wirren des Libyen-Konflikts nach Nordmali gebracht hatten. Es war der dritte Aufstand der Tuareg seit der Unabhängigkeit Malis vor 50 Jahren. Die kleine Rebellenarmee tötete einige Dutzend Soldaten der Regierung und erklärte ein Gebiet für unabhängig, dreimal so groß wie Deutschland, bewohnt von gerade mal einer guten Million Menschen: Azawad. Ag Abdullahi wusste, dass er nicht länger in Timbuktu bleiben konnte.
»Die Rebellion war nötig«, sagt ag Abdullahi, »schau dich um«, er deutet auf die Menschen rings um sich: »Fast keiner von denen kann Französisch. Kaum einer kann lesen oder schreiben.« Über Analphabetismus spricht ag Abdullahi oft: »Seit 50 Jahren sind wir unabhängig, doch die Malier haben uns Gesundheit, Entwicklung und vor allem Bildung verweigert. Deswegen brauchen wir die Unabhängigkeit.« So reden hier alle.

Tatsächlich sind nur ein Drittel der Menschen in dem Gebiet, das die MNLA Azawad nennt, Tuareg. Und nur eine Minderheit identifiziert sich mit dem Ziel der Unabhängigkeit einer allein kaum lebensfähigen Region. Auch die von den Separatisten aufgestellte Behauptung, der Norden Malis sei durch böswillige Vernachlässigung der Regierung in Bamako ungleich schlechter dran als der Rest des Landes, ist empirisch zweifelhaft.
Als ag Abdullahi floh, waren die Kämpfer der MNLA noch weit im Osten Malis, Timbuktu hingegen lag in Reichweite der malischen Armee. »Es war klar, dass sie kommen und gegen uns kämpfen würde«, sagt ag Abdullahi. Er bestieg einen Bus in Richtung Burkina Faso. »Am Anfang war es schlimm, wir saßen direkt hinter der Grenze, es gab fast nichts«, erzählt er. Nach einiger Zeit eröffnete das UN-Flüchtlingswerk UNHCR die ersten Lager, darunter in Dori. In den darauffolgenden Monaten kamen dort über 100 000 Menschen unter. Das UNHCR konnte dabei auf Strukturen zurückgreifen, die noch vom vorigen Aufstand im Jahr 2007 übrig geblieben waren.
Damals wie heute kamen die Flüchtlinge in ein Gebiet, in dem die lokale Bevölkerung immer wieder in existenzielle Nöte gerät – bedingt durch eine unselige Kombination aus wachsender Bevölkerungszahl, häufiger auftretenden Dürren und ausgelaugten Böden. Der plötzliche Zustrom Zehntausender Menschen birgt Konfliktpotential: Die vielen Flüchtlinge treten in Nahrungskonkurrenz zu den Tieren der Einheimischen, die ohnehin belasteten Grundwasserressourcen werden noch mehr beansprucht.
Die Hilfsorganisationen versuchten in Dori nach Kräften die Not zu lindern: Nahrungsmittel wurden nicht nur an die Flüchtlinge verteilt, sondern auch an die Bewohner der umliegenden Dörfer. Als im vergangenen Jahr das Wasser knapp wurde, ließ das UNHCR insgesamt 13 neue, große Brunnen in der Umgebung des Lagers bohren, mit denen auch die umliegenden Dörfer versorgt werden. Bislang konnten Konflikte zwischen der lokalen Bevölkerung und den Flüchtlingen so vermieden werden.
»Am Anfang dachten wir, wir könnten nach einem Monat zurück«, sagt ag Abdullahi. Doch die Nachrichten aus der Heimat waren schlecht. Elektrizität gibt es in Dori bis heute nicht, mit Sonnenkollektoren luden die Flüchtlinge Batterien auf. Im Radio verfolgten sie, wie »die Fanatiker« den Tuareg ihren »gerechten Krieg« entrissen, so sehen es viele hier in Dori, und ihn in einen mörderischen Feldzug für einen Gottesstaat verwandelten. Immer mehr Menschen kamen nach Dori, sie flüchteten jetzt nicht nur vor der Armee, sondern auch vor den Jihadisten, die sich im Norden Malis zu den neuen Herrschern aufgeschwungen hatten. Das riesige Gebiet war für sie leichte Beute. Sie entwaffneten die Tuareg-Miliz und führten die Sharia ein. Sie zwangen die Männer, zu kämpfen und die Frauen, sich zu verschleiern. Berichte von Steinigungen und Schauprozessen, in denen Dieben die Hände abgehackt wurden, gingen um die Welt. In Mali wuchs schnell die Angst, das ganze Land könne den Jihadisten zum Opfer fallen.
Im Lager von Dori gibt es keine Sharia, dafür einen Platz im Zelt, sechs Liter Wasser pro Person und Tag, elf Kilo Getreide und Bohnen im Monat und 3 500 westafrikanische Francs, umgerechnet etwa sieben Euro. Ansonsten gibt es wenig. Das Leben besteht aus Fußballspielen, Anstehen für Wasser und Hüten der Tiere. Zwei Jahre Uni hätten ag Abdullahi noch gefehlt, gern würde er sie in Burkina Fasos Hauptstadt Ouagadougou beenden. Doch eine Arbeit oder eine Ausbildung dürfen die Flüchtlinge nicht aufnehmen.
»Wir waren sehr froh über die Intervention der Franzosen«, sagt ag Abdullahi. Um zu verhindern, dass die Islamisten das ganze Land an sich reißen und auch die Hauptstadt Bamako einnehmen, befahl Frankreichs Präsident François Hollande die Operation Serval. Am 11. Januar 2013, fast genau ein Jahr nach Beginn des Tuareg-Aufstands, gingen die Armeen Frankreichs und Malis in die Offensive. In wenigen Wochen eroberten sie die wichtigsten Städte des Landes von den Jihadisten zurück.

Doch für die Tuareg war das Leid damit keineswegs vorüber. »Die Franzosen haben die malische Armee zu uns gebracht«, sagt Amastan, ein Mann mittleren Alters, der während der Herrschaft der Jihadisten ausgeharrt hatte und erst floh, als diese besiegt waren. »Die Armee kam im Schlepptau der Franzosen, sie hat Menschen verschleppt und Geiseln genommen. Einzelnen wurden die Arme angezündet, es gab Folter; sie haben geplündert, Juwelen und Geld geraubt«, erzählt er. »Die Begründung war immer, dass sie Waffendepots suchten. Tatsächlich aber wollten sie sich für den Aufstand rächen und die Franzosen haben sie gewähren lassen. Im Camp hier in Burkina Faso fingen die Kinder an zu schreien, wenn sie Uniformierte sahen«, sagt er. Zur französischen Intervention habe es keine Alternative gegeben, doch die Franzosen hätten nicht das Recht durchgesetzt. »Wie kann man von Frieden sprechen, wenn wir nicht nach Hause können?«
Menschenrechtsorganisationen haben die Vorfälle in den Monaten nach der Operation Serval untersucht und bestätigen Berichte über Gräueltaten und Racheakte der malischen Armee – unter Tolerierung ihrer französischen Alliierten.
Doch aus späteren Phasen gibt es keine solchen Berichte, auch nicht über Racheakte an den vielen, die bereits zurückgekehrt sind. Umgerechnet 70 Euro will das UNHCR künftig jedem bezahlen, der wieder nach Mali geht. Doch die Organisation betont, dass sie noch nicht für eine Rückkehr wirbt. »Es ist klar, dass nicht alle bald zurückkehren werden«, sagt Angele Djohossou vom UNHCR in Burkina Faso. »Es ist für sie noch nicht sicher. Der Bedarf an Hilfe ist deshalb noch immer enorm.« Die EU-Kommission hat seit Beginn der Krise Geld bereitgestellt, doch vor allem die Mittel, um auch die Versorgung der Einheimischen zu garantieren, werden langsam knapp.
»Wir müssen das Camp wohl noch mindestens bis 2016 offen halten«, sagt Zigane Noel von der Hilfsorganisation Oxfam. Er ist für einen Teil der Versorgung der Bewohner des Camps zuständig und ihn plagen Geldsorgen. 2013 benötigte er 1,2 Millionen Euro und bekam sie von internationalen Gebern. Für 2014 bräuchte er eine Million, doch bislang hat er nur Zusagen für 500 000 Euro. Die Budgets der Hilfsorganisationen werden von der gigantischen humanitären Krise in Syrien fast vollständig absorbiert. Eine gewisse Aufmerksamkeit wird noch der Zentralafrikanischen Republik zuteil, die Lage in Mali hingegen ist nach dem Sieg über die Islamisten in die Reihe der vergessenen Konflikte Afrikas getreten. »Wir brauchen dringend mehr Unterstützung«, sagt Zigane Noel.
Ag Abdullahi wünscht sich vor allem, endlich wieder studieren zu können. Burkina Faso möchte er verlassen, so schnell es geht. »Die Regierung ist gut, sie drängt uns nicht zur Rückkehr,« sagt er. »Wir sind den Burkinabés sehr dankbar, aber nichts wiegt die Heimat auf.«