Die antiimperialistische Linke und der »Islamische Staat«

Gegen IS und Amerika

Gegen den »Islamischen Staat« zu sein, versteht sich auch für ausgemachte Antiimperialisten von selbst. Doch ihr Antiamerikanismus wiegt schwerer.
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Irgendwie hatte niemand mit ihnen gerechnet. Sie schienen aus dem Nichts zu kommen. Am 5. Juni begann der »Islamische Staat«, der sich damals noch Isis nannte, seinen Angriff auf Mossul. Nach nur wenigen Tagen hatten die Jihadisten die Millionenstadt eingenommen und schon am 11. Juni auch die Stadt Tikrit. Und so ging es weiter. Heute kontrollieren sie große Teile des Irak und Syriens und alle fragen sich: Wie konnte der Islamische Staat so schnell, so überraschend erfolgreich werden?
Natürlich gibt es keine monokausale Erklärung, es handelt sich um ein Zusammenspiel vieler Faktoren. Vor allem aber war der Coup von langer Hand geplant und konnte nur deshalb gelingen, weil ehemalige Offiziere Saddam Husseins gemeinsame Sache mit Isis machten. Die Ba’athisten hatten nach dem Sturz des Diktators 2003 vor allem gegen die Amerikaner gekämpft, waren jedoch, als sich der Krieg im Irak zu einem zwischen Sunniten und Schiiten entwickelte, weiterhin im Untergrund in militärischen Zellen organisiert geblieben. Sie sahen nun ihre Zeit gekommen: Zeit für Vergeltung. Dieses Zusammenspiel einstiger Anhänger Saddams und des Isis war der Schlüssel zum Erfolg.
An der Spitze des IS stehen Iraker. Einem Bericht der New York Times zufolge haben ein Drittel der 25 Anführer unter Saddam Hussein als Offiziere gedient. Die Führung über die militärischen Operationen des IS im Irak hat demnach Fadel al-Hayali inne, ein ehemaliger Offizier Saddam. Auch Adnan al-Sweidawi, Chef des IS-Militärrats, war ein hoher Militär unter Hussein. Die beiden Stellvertreter des selbsternannten Kalifen Abu Bakr al-Baghdadi sollen ebenfalls hohe Offiziere in der Armee Saddams gewesen sein.

Bekanntlich kommt es immer wieder zu Querfronten von Linken und Islamisten, die nach wie vor bestehende Allianz des »sozialistischen« ­Venezuela mit dem klerikalen Iran ist da nur ein, wenn vermutlich auch das relevanteste, Beispiel, ein anderes ist Solidarität nicht weniger Linker mit der Hamas bei der »Mavi Marmara«-Flo­tille 2007 oder bei den jüngsten Protesten zum Gaza-Krieg. In gewisser Weise handelt es sich auch beim Bündnis von alten Ba’athisten und dem IS um eine solche Querfront. Denn schließlich verstand sich der Ba’athismus selbst als arabisch-sozialistische Bewegung; immerhin wurde die Ba’ath-Partei finanziell von der Sowjetunion unterstützt und die DDR, speziell das Ministerium für Staatssicherheit, war am Aufbau des irakischen Geheimdienstes beteiligt. Zugegebenermaßen braucht es schon sehr viel Phantasie, um die Ba’ath-Partei als »links« zu beschreiben.
Die Geschichte geht aber weiter. Als die USA 2003 den Irak-Krieg begannen und recht schnell auch ihr Ziel erreichten, Saddam Hussein zu stürzen, kam es täglich zu Terroranschlägen gegen das US-Militär, aber auch gegen irakische Zivilisten, die Uno, das Rote Kreuz und »Kollaborateure«, die nach Ansicht der Kämpfer die irakische Sache verrieten und mit den Besatzern zusammenarbeiteten. Dieser Terrorismus wurde von vielen Linken in Deutschland als »Widerstand« verklärt und begrüßt. Die Unterstützung ging sogar so weit, dass Teile der deutschen Friedensbewegung Geld sammelten für den Terror. »Zehn Euro für den Irakischen Widerstand« nannte sich die Kampagne (Jungle World 52/2003).
Man könnte also sagen, dass, wenn der IS militärisch von Ba’athisten geleitet wird und die Friedensbewegung in Deutschland Geld für den ba’athistische Untergrund gesammelt hat, die Friedensbewegung geholfen hat, den IS aufzurüsten. Das ist natürlich eine polemische Überspitzung. Es wird sich nur um ein paar Hundert oder Tausend Euro gehandelt haben, die da tatsächlich zusammengekommen sind, also völlig unerheblich für das Kriegsgeschehen dort. Dazu kommt: Die linken Antiimperialisten wollten sicherlich nicht bewusst eine religiös fanatische Bewegung unterstützen, sondern solidarisierten sich eben in erster Linie mit den Ba’athisten, auf die sie linke Widerstandsphantasien projizierten. Hauptmotiv der linken Unterstützer des irakischen Terrors war aber ihr Antiamerikanismus, der sie über alle Widersprüche zu ihren Bündnispartnern hinwegsehen ließ.

Ein anderes Beispiel für die linksjihadistische Querfront: Die Antiimperialistischen Zellen (AIZ) verübten in den Jahren 1992 bis 1996 eine Reihe von Brand- und Sprengstoffanschlägen in Deutschland. Im Februar 1996 wurden die beiden einzigen Mitglieder, Bernhard Falk und Michael Steinau, verhaftet. Beide konvertierten im Gefängnis zum Islam, Bernhard Falk ist heute ein sehr ak­tiver Salafist und bekennender al-Qaida-Sympathisant. Er betreibt die sogenannte Gefangenenhilfe, die sich für inhaftierte Salafisten einsetzt. Seit langem plädiert er dafür, dass Muslime einen »islamischen Staat« bekommen oder besser noch ein Kalifat. Aber auch wenn er auf Fotos mit dem erhobenen Zeigefinger posiert, wie das gerade beim IS populär ist, so grenzt er sich doch vehement vom Islamischen Staat ab. »Wir brauchen einen islamischen Staat, aber nicht Isis.« Und er meint: »Die Muslime in aller Welt distanzieren sich von der Art und Weise, wie Isis die Yeziden/Kurden angreift.« Mit dem Islamischen Staat wollen sich also nicht einmal die radikalsten Linksjihadisten oder Antiimperialisten gemein machen.
Es wird spannend zu beobachten sein, wie sich die antiimperialistischen Linken angesichts des Terrorfeldzugs des IS weiterhin positionieren werden. Nun, da die Kurden der PKK/YPG im Mittelpunkt stehen, die schon immer als linke nationale Befreiungsbewegung von diesen deutschen Linken hofiert wurden, fällt die Positionierung gegen den IS leicht. Wenn sich die Kämpfe in andere Gegenden verlagern werden, wo nicht Kurden die Opfer des IS-Terrors sind, könnte das In­teresse dieser Linken genauso schnell wieder abklingen, wie es aufgekommen ist. Zumal die internationale Koalition gegen den IS von den USA angeführt wird. Das passt natürlich nicht ins antiimperialistische Weltbild und stiftet bereits jetzt wachsende Verwirrung. Der versucht man mit eindeutiger Solidarisierung mit der kurdischen PKK/YPG zu entkommen. Und so wird im antiimperialistischen Lager der radikalen Linken derzeit mal wieder Geld für Waffen gesammelt, diesmal für die PKK. »Wir wollen hier Geld sammeln, um die militärische Verteidigung eines fortschrittlichen Gesellschaftsentwurfes im Nahen Osten zu unterstützen«, heißt es im Aufruf. Diese Kampagne folgt der Logik, dass man einerseits die Kurden gerne unterstützen, anderseits die Intervention der USA nicht gutheißen möchte. Im Kampagnenaufruf wird sie einfach geleugnet: »Die Weltöffentlichkeit sieht zwar mit Sympathie auf Rojava, konkrete Unterstützung für die kämpfenden Kurden gibt es aber nicht.«
Bereits mehr als 30 000 Euro sollen zusammengekommen sein. Dagegen gibt es nichts einzuwenden. Es ist auf den ersten Blick sogar ganz löblich, weil es zu zeigen scheint, dass Linke bereit sind, sich im Kampf gegen den Jihadismus zu engagieren. Und natürlich sind die Kurden derzeit die fortschrittlichste lokale Konfliktpartei. Andererseits ergibt die Geldsammlung für die Kurden nur dann einen Sinn, wenn deren Kampf von der US-geführten Anti-IS-Koalition unterstützt wird. Denn ohne diese Hilfe können die kurdischen Kämpfer nicht dem IS standhalten. 30 000 Euro sind nicht schlecht, aber viel mehr als ein paar weitere Kalaschnikows wird man davon nicht kaufen können. Die schweren panzerbrechenden Waffen, die die Kurden fordern, sind auf diesem Weg nicht zu beschaffen. Die US-Intervention wird, ebenso wie offizielle Waffenlieferungen an die Kurden, von der antiimperialistischen Linken jedoch abgelehnt. Am Ende ist die Abneigung gegen den westlichen Imperialismus eben doch größer als die Solidarität mit den Kurden.

Die Bundestagsabgeordnete Christine Buchholz von der Linkspartei brachte dies mit ihrem Plakat auf den Punkt, das in den vergangenen Wochen durch die sozialen Netzwerke gereicht wurde. »Solidarität mit dem Widerstand in Kobanê. US-Bombardement stoppen!« stand darauf. Zur Erklärung führte sie aus: »Unter dem Boden des Iraks lagern die zweitgrößten Erdölreserven der Welt, um die Staaten und Unternehmen wetteifern. (…) Dieser Wettlauf um das Öl erklärt, warum sich so viele Staaten im Irak militärisch engagieren.« Zwar gab es scharfe Kritik an Buchholz, doch sie vertritt damit die Parteilinie. In einem Gastbeitrag im Tagesspiegel schrieb Oskar Lafontaine unter der Überschrift »Gegen den globalen Interventionismus von USA und Nato!«: »Wer heute US-geführte Militäreinsätze in der Welt mit eigenen Truppen oder mit Waffenlieferungen unterstützt, lässt sich in eine US-Außenpolitik einbinden, die seit (sic!) dem Zweiten Weltkrieg eine Blutspur mit Millionen Toten um den Erdball gezogen hat.« Er erklärte weiter, es gehe der US-Außenpolitik nur um die »Sicherung von Rohstoffen und Absatzmärkten«. Seine Wortmeldung wurde von zahlreichen Genossinnen und Genossen begrüßt. Und der Parteivorstand, das höchste Gremium der Linkspartei, folgte der Linie. Am Sonntag beschloss er, »die Interventionspolitik der westlichen Großmächte« abzulehnen. Nur die Mitgliedversammlung des Kreisverbands Freiburg scherte aus und befürwortete in einer Stellungnahme die Luftschläge gegen den IS.
Die antiamerikanischen Reflexe wirken noch grotesker, wenn man bedenkt, dass von der Vergabe der Öllizenzen im Irak vor allem China und Malaysia, Russland, Norwegen, Südkorea und Großbritannien profitierten, insgesamt aber nur zwei Lizenzen an amerikanische Firmen gingen. Rechnet man dagegen, was der Irak-Krieg die USA gekostet hat, an Geld, an Menschenleben, an Ansehen in der Welt, so erweist er sich als enormes Minusgeschäft.

Die Verwirrung bei linken Antiimperialisten wurde bereits zu Beginn des Aufstands gegen das Regime Bashar al-Assads in Syrien Anfang 2011 deutlich. Damals positionierte sich die Linkspartei ebenso paradox wie jetzt Christine Buchholz mit ihrem Plakat. Man unterstütze die Opposition gegen Assad, hieß es, allerdings sei das Wichtigste, zunächst die Gewalt zu beenden und mit Assad zu verhandeln. Das war das genaue Gegenteil dessen, was die Aufständischen wollten, mit denen man sich angeblich solidarisierte, nämlich den gewaltsamen Sturz des Diktators. Nicht wenige antiimperialistische Linke, die heute für die PKK auf die Straße gehen, haben sich nicht nur nicht verhalten zum seit nunmehr über drei Jahren andauernden Gemetzel in Syrien. Im Gegenteil: Wenn sich antiimperialistische Linke äußerten, dann stellten sie sich zumeist – mehr oder weniger direkt – hinter Assad. Der Ba’athist galt als Teil einer antiimperialistischen Front gegen den Westen. Auch Hugo Chávez unterstützte natürlich seinen »Bruder«.
Die jetzt so umjubelte PKK beziehungsweise die PYD arbeitete ebenfalls mit Assad zusammen. Früher schon, als Abdullah Öcalan in Syrien po­litisches Asyl genoss, aber auch jüngst, als man eine faktische Partnerschaft einging und die PYD regimekritische Demonstrationen in den kurdischen Gebieten unterdrückte. Und Assad gilt zwar als eher säkularer Herrscher, ist aber gleichzeitig auch wichtigster Bündnispartner des ganz und gar nicht säkularen Iran; auf Assads Seite kämpfen Verbände der Hizbollah und iranische Revolutionsgardisten. Wolfgang Gehrcke, ein weiterer Politiker der Linkspartei, verfasste gerade ein Positionspapier »Gegen neue Kriege und Gewalt im Nahen Osten«, worin es heißt, ein »Bündnis säkularer Kräfte und Bewegungen«, das den »weiteren Vormarsch gewaltorientierter islamistischer Kampfformationen wie des ›Islamischen Staats‹« stoppen wolle, müsse »die Assad-Präsidentschaft in Syrien einbeziehen«. Die Sanktionen müssten aufgehoben und »neue Verhandlungen unter Einbeziehung des Iran begonnen werden«.
All das zeigt, dass die Begründung für die leidenschaftliche Kurdensolidarität, nämlich mit der PKK eine fortschrittliche, säkulare Bewegung zu unterstützen, nur vorgeschoben ist. Wer die mit der PKK/YPG koordinierte US-Intervention ablehnt, kann seine Solidarität mit den Kurden nicht ernst meinen. Und wer sich nicht auch gegen den Iran und das mit ihm verbündete Regime Assads stellt, der ergreift damit nur Partei in der konfessionellen Blockkonfrontation zwischen dem Iran und Saudi-Arabien. Fortschrittlich ist daran nichts.