Ohne Dialoge wäre Christopher Nolans »Interstellar« vielleicht besser

Bis sich die Welten biegen

Für Christopher Nolan ist keine Leinwand groß genug. Ob sein Weltraumepos »Interstellar« zum »2001« unserer Zeit wird, wüsste er selbst nur zu gern.

Abgekämpft sehen sie aus, als hätten sie Schwerstarbeit verrichtet. »Das muss erst einmal verdaut werden«, sagt eine Frau im Foyer. Jemand nickt zustimmend, viel geredet wird nicht. Die meisten sind sprachlos, plattgewalzt von der Bildgewalt des eben durchlebten Weltraumspektakels, bewegt von der ergreifenden Geschichte. Beinahe drei Stunden lang ist »Interstellar«, der jüngste Film des Regisseurs, Drehbuchautors und Produzenten Christopher Nolan. Zeit genug, den Kinosaal ein ums andere Mal heftig erbeben zu lassen. Die Sitze ruckeln, der Boden vibriert, die Lautstärke lässt die Kinogäste zusammenzucken. Auf der riesigen Leinwand des Imax wechseln sich Bilder vollkommener Erhabenheit und finsterer Katastrophe ab.
Die Menschheit hat ihre Chance vertan. Am Horizont zieht schon der nächste biblische Sandsturm auf, um die Erde mit Staub zu überziehen. Die Lebensmittel werden knapp, wer als Letzter verhungert, wird als Erster ersticken. Die Natur ist der Feind, was bleibt, ist nur der Mais, den Farmer auf riesigen Feldern anbauen. Cooper ist einer von ihnen, die Umstände haben den früheren Piloten der Nasa zum Landwirt gemacht. Er bastelt an seinem Maschinenpark, ab und an fängt er eine eigensinnig umherschweifende Drohne ein und zähmt sie. Ein bisschen ist der Ingenieur also auch ein Cowboy der nahegelegenen Zukunft, in der die Menschen ihre Technik wieder in den Griff bekommen. Dass Cooper schon bald dazu auserkoren wird, die letzte Rettungsmission der Menschheit anzutreten, davon weiß er noch nichts. Er wird seine Familie zurücklassen und sich auf eine ungewisse Reise begeben, deren Dauer nur vermutet werden kann.
Und dann, mit Beginn des zweiten Akts von »Interstellar«, setzt endlich der Größenwahn ein, den Fans Christopher Nolans so lieben. Eine Handvoll Astronauten, zu denen neben Cooper – gespielt von Matthew McConaughey, der seit seinem zweiten Karrierebeginn zum ersten Mal nichts Spektakuläres mit seinem Körper veranstaltet – auch die Wissenschaftlerin Amelia (Anne Hathaway) gehört, macht sich auf den Weg nach oben.
Nolan begann 2006 an »Interstellar« zu arbeiten. Um die physikalischen Gesetzmäßigkeiten der Welt, Relativitätstheorie, Quantenmechanik, Gravitation und was es da alles gibt, realistisch abzubilden, holte er sich wissenschaftlichen Beistand. Kip Thorne, ehemals Professor am renommierten California Institute of Technology, stand zur Verfügung. Vielleicht hatte Stephen Hawking gerade keine Zeit.
Nolan gilt als Perfektionist und zählt zu den wenigen Regisseuren des gehobenen Unterhaltungskinos, die trotz ihres Willens zum Blockbuster für ihre Handschrift kultisch verehrt werden. Quentin Tarentino gehört noch dazu, Paul Thomas Anderson ebenso. Mit »Memento« schuf Nolan einen Klassiker. Als der Film 2000 in die Kinos kam, war der Regisseur gerade 30 Jahre alt. Seine Batman-Trilogie, vor allem »The Dark Knight« (2008), ist so kühn wie durchdacht, Heath Ledger in seiner Rolle als Joker ein Meilenstein der Filmgeschichte. Der grandios verdrehte Heist-Movie »Inception« (2010) wurde ein weiterer. Nolans oft mühelos zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft springende Erzählungen spielten in den vergangenen 14 Jahren rund 3,5 Billionen Dollar ein. Sein großformatiges Kino voller wohlbekömmlicher Tiefgründigkeiten kommt gut an, trotz der emotionalen Kälte, die fast alle seiner Filme durchzieht. Für »Interstellar« stand ein Budget von rund 165 Millionen Dollar zur Verfügung, die Erwartungen an diesen Film sind hoch. Auch was das Künstlerische angeht.
Denn ehrgeizige Vergleiche scheut der Regisseur nicht. Dass »2001: Odyssee im Weltraum« ihn zutiefst beeindruckt habe, daraus hat Nolan, so wie jeder andere ambitionierte Science-Fiction-Regisseur, keinen Hehl gemacht. Selbst wenn es ihm noch immer schwerfalle, sich zu einer abschließenden Interpretation des Meisterwerks von Stanley Kubrick durchzuringen. Weite Strecken von »Interstellar« können als Hommage an den 1968 erschienenen Film gelesen werden, Nolan hat sich viel bei Kubrick abgeschaut. Allein, weder dessen nüchterner Blick noch der erkennbare Drang, etwas Vi­sionäres zu schaffen, gehören dazu. Gegen Kubricks genialisch inszenierte Version der Menschheitsgeschichte wirkt »Interstellar« wie das Kino eines versierten Technikers auf der Höhe der Produktionsmittel.
»2001: Odyssee im Weltraum« fiel damals bei so manchem US-amerikanischen Kritiker durch. Wer den Weltverbesserungssehnsüchten der Zeit nichts abgewinnen konnte, verurteilte den Film als psychedelischen Drogentrip. Das kann Nolan nicht passieren, mit Farben geht er in seinem Film sparsam um. »Interstellar« wird allenthalben aufgrund handwerklicher oder, noch schlimmer, physikalischer Unzulänglichkeiten polarisieren. So mancher Student der Naturwissenschaften wird es dem Film nicht verzeihen, dass McConaughey und Hathaway unbeschadet um ein schwarzes Loch herumeiern, das sie doch eigentlich in Stücke zerreissen müsste – eine triste Realität, in der von großen Science-Fiction-Filmen erwartet wird, sich an den Niederungen von Knoff-Hoff zu orientieren.
Wer vor der Autorität Kubricks erstarrt, wird zögern, »Interstellar« als Raumoper zu adeln. Der Begriff scheint eigens für »2001« reserviert zu sein. Tatsächlich aber gelingt Nolan eine solche, in der Raumschiffe und Gestirne ganz wunderbar zum kosmologischen Ballett aufspielen. »Interstellar« ist bildgewaltig, voller Schönheit, selbst der seit Kubricks Film inflationär verwendeten Videokommunikation wird dank der großartig spielenden Jessica Chastain ein besonderer Glanz verliehen. Und dass Nolan um die Wirkung täuschend echt sich biegender, Falten werfender Welten weiß, ist seit »Inception« hinlänglich bekannt.
Nicht nur die Bildsprache, auch das Technikdesign von »Interstellar« zählt zum Besten, was das Genre seit langem hervorgebracht hat. Die beiden Roboter in »Interstellar« sind einzigartig, sie werden mit Sicherheit gut altern. Damit hat ihre Gestalt, die an den Monolithen aus »2001« erinnert, nichts zu tun.
Es gibt Kinobetreiber, die planen, »2001« und »Interstellar« als Doppelrolle zu zeigen. Auch wenn sie andere Ziele verfolgen, im direkten Vergleich dürfte gerade die Überwältigungsästhetik von »Interstellar« deutlich zutage treten. Man muss sich nur vor Augen führen, was von »Interstellar« auf dem heimischen Laptop übrigbleiben würde: nicht viel. »Im Kino sehen wir, wie jemand eine Show abzieht. Ich fühle mich verantwortlich dafür, die bestmögliche Show zu bieten«, hat Nolan der New York Times gesagt. Wo Kubrick Györgi Ligeti einsetzte, arbeitet Nolan wieder mit dem ewigen Hans Zimmer zusammen. Sicher ist der Score des deutschen Filmmusikkomponisten vielfältiger ausgefallen, als man es von ihm gewohnt ist – allzu häufig bestand seine kreative Arbeit darin, selbst die harmloseste Kuschelszene klingen zu lassen, als würden ganze Kontinente in Flammen stehen. Trademark nennen das die einen, One-Trick-Pony die anderen.
Ein wirkliches Ärgernis sind nur die Dialoge in »Interstellar«. Daran kann selbst die Tatsache nichts ändern, dass alle tragenden Rollen mit der Crème de la Crème der Schauspielzunft besetzt wurden. In dieser Hinsicht hat sich Nolan kein Vorbild an Kubrick genommen, wahrscheinlich weil sich der moderne Blockbuster einige Kunstgriffe aus »2001« nicht erlauben kann. Kubricks Zukunftsversion ist in vielerlei Hinsicht eine Verlängerung des gegenwärtigen Alltagslebens, Menschen steigen in Weltraumhotels ab, führen Gespräche, wie sie banaler nicht sein könnten, Emotionalität bleibt an den glatten weißen Oberflächen nicht haften. Während der 1999 gestorbene Regisseur sich auf die Philosophie der Bilder verließ, geben in »Interstellar« sehr viele Schauspieler sehr viel gewichtiges Geschwätz von sich. Dass Nolan sich mehr als Kubrick für Zwischenmenschliches interessiert, kann ihm nicht vorgehalten werden. Ein paar ­weniger ins Leere gesprochene Allgemeinplätze hätten dem Film allerdings gutgetan. Nolan wäre der Größte, wenn sein nächster Film ein Geräuschfilm werden sollte. Es wäre großartig, sich allein seinen tollen Bildern und dem ohrenbetäubenden Krach hinzugeben.

»Interstellar« (USA 2014). Regie: Christopher Nolan, ­Darsteller: Matthew ­McConaughey, Anne Hathaway, Jessica Chastain. Start: 6. November