Besetzte Häuser in São Paulo

Recht auf Innenstadt

Mehr als eine Million Menschen in São Paulo sind obdachlos. Gleichzeitig stehen Hunderttausende Wohnungen leer. Für viele Familien bleibt die Besetzung von Wohnraum die einzige Alternative, um nicht in die Favelas verdrängt zu werden. Ein Besuch bei einigen der mittlerweile 80 besetzten Häuser im Zentrum der Stadt.

Eine Klappe geht auf. Zwei Augen blicken hinter der Holzwand hervor. Die Klappe schließt sich wieder und eine Tür öffnet sich. »Herzlich willkommen im Cine Marrocos«. Douglas Gomes hat kindliche Gesichtszüge und einen akkuraten Kurzhaarschnitt. Der 38Jährige ist einer der Sprecher der Obdachlosenbewegung Movimento sem-teto São Paulo (MSTS), die seit vergangenem Jahr mehrere Gebäude im Zentrum von São Paulo besetzt hält. Das Cine Marrocos befindet sich im Herzen der Innenstadt, direkt gegenüber dem altehrwürdigen Opernhaus Teatro Municipal. Zwei riesige Banner an der Fassade begrüßen die Besucherinnen und Besucher schon von weitem. Eine bemalte Holzwand sperrt das Gebäude von der Straße ab.
»Hier zahlen wir nur einen Bruchteil des Preises, den wir woanders im Zentrum zahlen würden. Wir wollen keinen Gewinn machen, sondern nur für unser Recht auf Stadt kämpfen«, sagt Douglas, während er die weißen Marmorstufen zum Eingang des Hauses hochsteigt. Im verfallenen Vorraum des ehemaligen Kinos lässt sich der Glanz einstiger Tage erahnen. Riesige Spiegel hängen an den Wänden, von denen der rote Putz abblättert. Unter der stuckverzierten Decke sieht man antike Lampen. In der Mitte des mit Mosaik gefliesten Raumes steht ein zerfallener Springbrunnen, der von vier mannshohen Säulen umgeben ist. In einer Ecke verstaubten Sofas.
Der riesige, schlecht beleuchtete Kinosaal, in dem einst über tausend Besucher Platz fanden, steht heute leer. Die Wände sind großflächig mit Graffiti besprüht. Im Vorführraum oberhalb der Logen liegen alte Filmrollen und Manuskripte verteilt. »Das Gebäude stand zehn Jahre lang völlig leer – deshalb haben wir beschlossen, es zu besetzen«, sagt Douglas, der in einem anderen besetzten Haus der MSTS auf der gegenüberliegenden Straßenseite wohnt. Im November 2013 brachen sie die Tür des Gebäudes auf, 120 Familien zogen in das alte Kino und die darüber liegenden, leerstehenden Bürogebäude. Mittlerweile leben fast 2 000 Menschen in den vier Flügeln des Gebäudes mit jeweils 13 Stockwerken. Das Cine Marrocos ist damit die größte Hausbesetzung im Zentrum der Stadt.
Mit dem antiken Fahrstuhl geht es in den sechsten Stock. Hier kümmert sich Aline Almeida de Santos in einer geräumigen Wohnung um ihre 85jährige Nachbarin. Die 21jährige stammt, wie die meisten ihrer Nachbarn, aus den Randgebieten der Millionenstadt. »Vorher habe ich weit weg, in der Peripherie gewohnt. Ich konnte mir aber die Miete nicht mehr leisten, deshalb kam ich hierher«. So wie de Santos geht es in São Paulo Hunderttausenden.

Die Mieten in São Paulo sind allein zwischen 2006 und 2014 um 134 Prozent gestiegen. Dieser Prozess macht auch vor der Peripherie nicht halt. Immer mehr Familien landen auf der Straße. Laut Schätzungen haben rund 1,2 Millionen Paulistanos kein Dach über dem Kopf. Demgegenüber stehen Hunderttausende Wohnungen leer. Laut einer Studie des staatlichen Statistikinstituts IGBE gibt es alleine im Zentrum mehr als 40 000 leerstehende Wohneinheiten. Programme wie das von der Bundesregierung initiierte »Minha Casa, Minha Vida« (mein Haus, mein Leben) können das Wohnungsdefizit nicht auffangen. Die Teilnahme an einer Besetzung ist für Tausende Familien die einzige Option. Anfang der neunziger Jahre sind zahlreiche Besetzerorganisationen entstanden, mittlerweile gibt es über 80 besetzte Häuser im Zentrum São Paulos.
Die Innenstadt von São Paulo hat in den vergangenen Jahrzehnten viel Wandel miterlebt. Zwischen den fünfziger und den achtziger Jahren war sie der kommerzielle und kulturelle Mittelpunkt der Metropole. Unzählige Kinos, Theater und Bürogebäude waren hier angesiedelt. Obwohl das Zentrum nie viel Wohnraum zur Verfügung stellte, war es stets das Herz der Stadt. Mit der fortschreitenden Segregation und dem Abwandern des Handels in die Einkaufszentren wurde der Verfall des Zentrums Anfang der achtziger Jahre eingeleitet. Als Folge standen Tausende Gebäude leer. Der Ruf des »gefährlichen und hässlichen Zentrums« hat sich bis heute gehalten. In den vergangenen Jahren rückte die Innenstadt jedoch wieder ins Interesse von Investoren. Die eingeleitete »Revitalisierung« drängt die Armen immer weiter an den Stadtrand.
Die Geschichte des Cine Marrocos steht beispielhaft für diese Entwicklung. Im Jahre 1952 wurde das selbsternannte »beste und luxuriöseste Kino Südamerikas« von arabischen Einwanderern eröffnet. Künstler und Designer aus der ganzen Welt verwirklichten den architektonischen »Traum aus Tausendundeinenacht«. Lange Zeit waren das Kino und die angeschlossene Bar einer der wichtigsten Treffpunkte der High Society von São Paulo.
Mit dem Niedergang der Innenstadt musste auch das Kino schließen. Für kurze Zeit öffnete es als Pornokino wieder. Zehn Jahre lang stand das Gebäude leer, ehe es die MSTS im vergangen Jahr in Besitz nahm. Ein Großteil der heutigen Bewohner lebte vorher in Favelas oder auf der Straße, 20 Prozent sind Ausländer. »Unsere Türen sind für alle offen«, sagt Douglas.

Mussango Kasongo Blaze und Souze Kishala kamen vor fünf Jahren aus Angola nach São Paulo. Die beiden leben in einem spärlich eingerichteten Zimmer im achten Stock, mit Blick auf die pulsierende Einkaufsstraße 24 de Maio. »São Paulo ist sehr teuer. Die Besetzung hilft uns mit allem«, sagt Blaze, der als Mechaniker arbeitet. Von afrikanischen Freunden haben sie von der Besetzung erfahren. »Viele von uns leben auf der Straße, deshalb will ich auf jeden Fall hier bleiben«, meint Kishala.
Während in den unteren Stockwerken überwiegend Familien und ältere Menschen wohnen, leben im vierten Stock des Vorderhauses Schwule, Lesben und Transsexuelle. »Nicht, weil wir das trennen wollen, sie wollen es lieber so haben«, bekräftigt Douglas. Der 26jährige Orias Antonio de Carvalho Neto lebt hier seit November vergangenen Jahres, als er aus dem Bundesstaat Goiás nach São Paulo kam. Nach mehreren persönlichen Krisen landete er in einer Obdachlosenunterkunft. »Ich bin hierhergekommen, weil die Bedingungen dort schrecklich waren und ich für meine Rechte kämpfen will.«
Die Regeln und Vorschriften im Haus sind klar und werden den Bewohnern mit Schildern vor Augen geführt. Alkohol und Drogen sind tabu. Gewalt wird nicht geduldet und mit dem Ausschluss geahndet. Die Kinder müssen in die Schule und die Teilnahme an den Sitzungen und Treffen der Bewegung ist für alle Besetzer Pflicht. Für die improvisierte Strom- und Wasserversorgung zahlen die Familien, wer jedoch keine Mittel hat, um für die Grundversorgung aufzukommen, muss nichts zahlen. »Als ich hierher kam, konnte ich nichts zahlen, aber ich durfte trotzdem bleiben«, sagt Carvalho Neto.
Alle fünf Häuser der MSTS haben in den vergangenen Monaten Räumungsbefehle erhalten. Das Verhältnis zum Bürgermeister Fernando Haddad von der Arbeiterpartei PT ist problematisch. »Wir haben etliche Male versucht, bei der Stadtverwaltung einen Termin zu bekommen, aber nie hat das geklappt«, sagt Douglas. Geraldo Alckmin, Gouverneur des Bundesstaates São Paulo und einer der wichtigsten Politiker der rechtsliberalen PSDB, habe nach der zweiten Anfrage einen Gespräch zugestimmt und dort Versprechen an die Bewegung gemacht. Die Folge: Im jüngsten Wahlkampf unterstützte die MSTS den Aécio Neves (PSDB).
»Sie haben ihre Seele verkauft«, kritisiert Maria do Planalto. Die 58jährige mit den blondierten Haaren ist Sprecherin der FLM (Wohnungskampfbewegung) und seit 27 Jahren Mitglied der Gruppe. »Sie haben Geld von der PSDB erhalten und ihr Ideale verraten.« Maria ist Leiterin des besetzten, ehemaligen Fünf-Sterne-Hotels Lord Palace in der Rua Helvetia, keine 15 Gehminuten vom Cine Marrocos entfernt.
Heute wohnen 902 Menschen in dem zwölfstöckigen Gebäude im zentralen Stadtteil Santa Cecília. Aus einem anderen besetzten Haus in der Innenstadt waren sie vor drei Jahren gewaltsam vertrieben worden. Die meisten Bewohnerinnen sind alleinerziehende Mütter. »Die Frauen sind die treibende Kraft unseres Kampfes«, betont Maria. »In unserer Besetzung gibt es keinen Unterschied zwischen Mann und Frau. Die Männer müssen genauso putzen und kochen wie die Frauen.«
Nach Protesten wurde das Gebäude in den Masterplan der Stadt aufgenommen und eine Legalisierung der Wohnverhältnisse steht bevor. Die Hoffnung der Bewohnerinnen und Bewohner, bald in ihrem eigenen Zuhause zu wohnen, könnte sich nun endlich erfüllen. Für die FLM wäre dies ein wichtiger Sieg. Die Angst vor einer Räumung ist jedoch weiterhin groß. Am Ende entscheide nämlich eine »rechte, korrupte Justiz, die soziale Anliegen oft hinten anstellt«, sagt Maria.

Die progressive brasilianische Verfassung von 1988 sieht vor, dass Häuser eine soziale Funktion erfüllen müssen und Eigentümer auch enteignet werden können, wenn dies nicht der Fall ist. In der Praxis wird dies jedoch häufig ignoriert. So stehen in São Paulo Tausende Häuser leer, damit sie später zu einem höheren Preis weiterverkauft werden können. Die Verbindungen zwischen Justiz und Investoren sind ein offenes Geheimnis. Maria betont: »Es reicht uns nicht, Wohnungen bereitzustellen, wir müssen auch die Immobilienspekulation thematisieren und bekämpfen.«
In den vergangenen Jahren wurden etliche Häuser der FLM geräumt, zuletzt am 16. September. Nach Anordnung von Gouverneur Geraldo Alckmin (PSDB) verschaffte sich die Militärpolizei gewaltsam Zugang zu einem nie in Betrieb genommenen Hotel, in dem über 800 Menschen wohnten und warf die Bewohnerinnen und Bewohner auf die Straße. Nach der Räumung kam es zu Straßenschlachten, der Verkehr in der Innenstadt kam fast vollständig zum Erliegen. Die Zeitungen titelten am nächsten Tag: »Das Zentrum stand still.«
»Wir haben die ganze Zeit Angst, geräumt zu werden. Gerade für die Kinder ist es besonders schwer«, sagt Damiana Gregorio Pinto, die mit ihren zwei Söhnen in einem kleinen, schlechtbeleuchten Zimmer im vierten Stock wohnt. Die Frau mit dem traurigen Gesichtsausdruck hat einen typischen Weg hinter sich. Aus dem armen Nordosten Brasiliens kam sie nach São Paulo. Jahrelang wohnte sie in einer Holzhütte am östlichen Stadtrand. Irgendwann konnte sie sich die steigende Miete nicht mehr leisten. Sie lernte Maria kennen, »die heute mehr als eine Mutter« für sie ist. Im Jahre 2009 trat Pinto in die FLM ein und besetzte mit anderen Familien ein Haus auf der Avenida Ipiranga im Zentrum der Stadt. Nach neun Monaten wurde das Haus gewaltsam von der Polizei gestürmt und Pinto landete mit ihren Söhnen auf der Straße. »Wenn mein neunjähriger Sohn an die Räumung und die Zeit danach zurückdenkt, fängt er immer an zu weinen.«.
Die Besetzung im ehemaligen Lord Palace Hotel gibt ihr Hoffnung: »Hier sind wir wie eine große Familie. Alle helfen sich untereinander«, sagt die alleinerziehende Mutter. Neben einem Dach über den Kopf bietet die Bewegung den Besetzerinnen und Besetzern eine ganze Reihe von kulturellen Veranstaltungen und Bildungsangeboten: Montags gibt es Capoeira, donnerstags Theaterkurse und für die Kinder und Jugendlichen finden auch regelmäßig Kurse statt.
»Ich mag das Zentrum sehr. Hier gibt es alles für mich und meine Kinder«, erzählt Pinto. »Viele Leute meinen, dass wir Arme in der Favela wohnen müssen. Aber warum sollen wir denn nicht auch in der Innenstadt wohnen dürfen?« Die Vorurteile der »guten Gesellschaft« gegen die Besetzerinnen und Besetzer sind immer noch sehr groß.
Aus diesem Grund haben einige der besetzten Häuser angefangen, ihre Türen für Kunstprojekte, Kulturveranstaltungen und Partys zu öffnen. »Die Veranstaltungen hier sind das beste Mittel, um den Leute von außerhalb zu zeigen, was eine Besetzung wirklich ist«, sagt Douglas von der MSTS. Seit einigen Monaten finden schrille Elektropartys im Cine Marrocos statt. Die Feiern, die oft mehr als 2 000 Gäste anlocken und nicht selten erst am Nachmittag des folgenden Tages enden, ziehen vor allem die Hipster- und Künstlerszene der Stadt an. Der DJ und Partyveranstalter Paulo Tessuto bezeichnet seine Party auch als »politisches Projekt«. Die Einnahmen der Veranstaltungen werden mit den Besetzern geteilt. Wer ein Kilo Lebensmittel oder Bücher für die Bewohnerinnen und Bewohner mitbringt, zahlt nur den halben Eintrittspreis.
Die Veranstalter der bunten Feste verstehen sich auch als Gegenbewegung zur kommerzialisierten Clubkultur der Stadt. Die soziale Exklusion zieht sich nämlich bis in das Nachtleben. Eintrittspreise von 50 Euro sind nicht unüblich in der Stadt, die als Partyhauptstadt Lateinamerikas gilt. Immer mehr Kollektive organisieren daher alternative preiswerte Partys und Konzerte. »São Paulo ist eine extrem ungleiche Stadt. Wir wollen helfen, diese Realität zu verändern«, erklärt Tessuto, der die heute stadtbekannte Capslock-Party ins Leben gerufen hat.
Trotz gut gemeinter Versuche der Partyszene werden nur grundlegende Reformen helfen, armen Familien dauerhaft einen Platz im Zentrum zu verschaffen. Die Besetzungen sind Ausdruck einer verfehlten Stadtpolitik und führen allen, die es sehen wollen, die Ungleichheit der brasilianischen Gesellschaft vor Augen. Gleichzeitig bieten die besetzten Häuser heute vielen Familien eine reale Alternative.
Maria hat nach 27 Jahren des Widerstandes, wie etliche andere Besetzer, ihren Traum von einem eigenen Zuhause erkämpfen können. »Solange Tausende meiner Mitstreiter immer noch kein Zuhause haben, werde ich weitermachen«, sagt sie beim Abschied am bewachten Eingang des einstigen Luxushotels. »Denn erst mit einem warmen Essen im Magen und einem Dach über dem Kopf kann sich etwas verbessern«.