In Ungarn wurde die geplante Internetsteuer verhindert

Vom Netz auf die Straße

In Ungarn musste die Regierung Viktor Orbáns nach anhaltenden Massenprotesten den Plan für eine Internetsteuer zurücknehmen. Das Internet ist für viele zum Raum für Gegenöffentlichkeit geworden.

Es waren die größten Proteste in Ungarn seit 2012. Am 26. und 28. Oktober gingen in Budapest etwa 100 000 Menschen gegen die geplante Internetsteuer auf die Straße, am 30. Oktober wurde landesweit in mehreren Städten demonstriert. Die ungarische Regierung wollte die private Internetnutzung mit etwa 50 Cent pro Gigabyte besteuern, was besonders die ärmeren Bevölkerungsgruppen empfindlich treffen würde. Seit Beginn der Proteste stellte die Regierung für private Nutzerinnen und Nutzer eine Deckelung von 700 Forint (etwa 2,25 Euro) pro Monat in Aussicht und beschwichtigte, der Großteil der Steuer sei ohnehin von den Internetanbietern zu entrichten, doch die Protestierenden forderten die völlige Streichung. Die EU-Kommission bezeichnete die Internetsteuer als inakzeptabel, die scheidende EU-Kommissarin für die Digitale Agenda, Neelie Kroes, unterstützte die Proteste. Andere Kritiker erklärten, die Steuer sei technisch überhaupt nicht durchführbar.
Inzwischen hat Orbán die Pläne »in dieser Form« zurückgenommen. Zuvor hatte die Regierung mit immer neuen Erklärungen gekontert: So sagte Regierungssprecher Zoltán Kovács (Fidesz) dem ZDF, die Steuer sei nötig, um das von der EU geforderte Defizitziel von drei Prozent einzuhalten. Der Europaabgeordnete von Fidesz und stellvertretende Vorsitzende der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP), József Szájer, sagte ungarischen Medienberichten zufolge, es sei Unsinn, die Internetsteuer als Angriff auf die Internetnutzung zu betrachten, »denn dass wir die Lebensmittel nicht umsonst bekommen, wäre dann ein Angriff auf die Freiheit des Essens«. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende von Fidesz, Antal Rogán, erklärte im Parlament, die Internetsteuer sei für den Ausbau des Internets gedacht.
Tatsache ist, die ungarische Regierung braucht Geld – die Verschuldung beträgt 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts – und versucht, neue Einnahmequellen zu erschließen. So sollen in Ungarn, wo der Mehrwertsteuersatz als höchster in Europa bereits 27 Prozent beträgt, ab 2015 nicht nur das Internet, sondern auch Seifenartikel, Shampoo, Duschgel und Waschmittel extra besteuert werden. Zur Internetsteuer kündigte Orbán eine »Nationale Konsultation« für Januar 2015 an, die Pläne sind noch nicht vom Tisch.

Warum konnte ausgerechnet die Internetsteuer solche Massen mobilisieren? Sie kommt in einer Zeit der Korruptionsskandale. Anfang Oktober haben die USA Einreiseverbote wegen Korruptionsverdachts gegen sechs Regierungsfunktionäre ausgesprochen, der neue Außenminister Péter Szíjjártó und andere Spitzenpolitiker von Fidesz erwarben Luxusimmobilien, ohne das entsprechende Einkommen nachweisen zu können, und Ungarn isoliert sich zunehmend in der Außenpolitik. Die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst; die Internetsteuer war offenbar für viele der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Besonders junge Menschen sind aufgewacht und verteidigen das Internet als Symbol der Freiheit und ihr Bekenntnis zu europäischen Werten. Doch das erklärt noch nicht alles.
Bei den Massenprotesten von 2012 ging es um das Mediengesetz und die Pressefreiheit, wichtige Themen für die Budapester Intellektuellen, die jedoch in der Provinz nur schwer zu kommunizieren waren. Damals hatte die Regierung den längeren Atem und die Proteste verpufften, womit die Regierung auch jetzt wieder gerechnet hatte: Der Regierungsbeauftragte Szilárd Németh (Fidesz) erklärte, die Steuer werde auf jeden Fall eingeführt und die »beleidigten« Protestierenden würden irgendwann nach Hause gehen. Nur ist die Situation 2014 anders gelagert als 2012.
Die ungarische Gesellschaft ist politisch und weltanschaulich tief gespalten und blockiert; die Innenpolitik von Fidesz baut seit 2010 darauf auf, diese Gräben systematisch zu vertiefen, die eigenen Anhänger zu begünstigen und den gesellschaftlichen Unmut über Regierungsmaßnahmen auf die politischen Feinde, die Linken und Liberalen, abzulenken. »Politik« wird dabei als Gezänk der Opposition diskreditiert. Die Nation hingegen ist bei Fidesz und Jobbik in einer überpolitischen, sakralen Sphäre angesiedelt, sie steht für Wahrheit im Gegensatz zur diskreditierten Politik der Gegner, die als Ideologie, Lüge und Manipulation betrachtet wird. Die Parteien der demokratischen Opposition wiederum haben dem keine gleichermaßen große, übergreifende Idee entgegenzusetzen, sie waren 2014 keine wählbare Alternative. Zivilgesellschaftliche Proteste sind für viele nicht mehr interessant, sobald politische Parteien beteiligt sind; man fühlt sich instrumentalisiert und bleibt zuhause, denn für »Politik«, die diversen diskreditierten Clans, will man nicht mehr auf die Straße gehen. Im Superwahljahr 2014 wählten viele daher lieber gar nicht, statt der demokratischen Opposition ihre Stimme zu geben. Dazu kommt, dass sich im heutigen Ungarn nicht politisch exponieren will, wer etwas zu verlieren hat, etwa Angestellte im öffentlichen Dienst. Gleichzeitig haben viele Menschen in Ungarn, wenn sie nicht zum neuen privilegierten Fidesz-Bürgertum gehören, das Gefühl, »denen da oben« macht- und alternativlos ausgeliefert zu sein. Soziale Missstände, die vor allem sogenannte Randgruppen betreffen (Roma, Arme, Obdachlose), werden nicht als strukturelle, gesamtgesellschaftliche Probleme betrachtet und mobilisieren keine Massen: So werden aus der Großstadt Miskolc derzeit Roma vertrieben. Sie suchen in der Schweiz um Asyl an. Auch die vor kurzem erfolgte Stürmung von Budapester NGOs durch die Polizei löste keine größeren Proteste aus.

Man könnte sagen, in der Öffentlichkeit ist Politik zur Privatsache geworden. Jedoch wird die politische Apathie in der Öffentlichkeit und an den Wahlurnen im Internet kompensiert: Dort ist eine vielfältige Gegenöffentlichkeit entstanden, an der sich die Bürgerinnen und Bürger sehr aktiv beteiligen. Sie sind zu aktiven virtuellen Bürgern geworden, die sich in der virtuellen Freiheit des Internet über Politik und die Regierung austauschen, zu dem sie als private Nutzer Zugang haben. Genau das will die Regierung nun besteuern. Die Internetsteuer ist deshalb ein so explo­sives Thema, weil sie an diesem neuralgischen Punkt von Politik und Privatsphäre ansetzt.
Von der Internetsteuer wären alle ungarischen Internetnutzer, einigen Quellen zufolge 70 Prozent der Bevölkerung, unabhängig von ihrer politischen Einstellung unmittelbar betroffen. Gemeinsamer Protest ist plötzlich keine Frage einer einenden oder trennenden politischen Einstellung mehr; die Proteste mobilisieren Menschen, die sich eigentlich als unpolitisch begreifen. Dieser Protest kann die gesellschaftlichen Gräben offenbar für kurze Zeit außer Kraft setzen, man demonstriert gemeinsam, jenseits und unabhängig von der diskreditierten Sphäre der Parteipolitik. Ein Gefühl von Einigkeit und Zusammenhalt über ideologische Grenzen hinweg für eine größere, umfassende Idee war in der gespaltenen ungarischen Gesellschaft in dieser Form seit Jahren nicht mehr zu haben.
Wie nachhaltig diese Proteste sein werden, ist derzeit noch nicht abzusehen. Es ist zu hoffen, dass durch die Proteste neue Akteure die Bühne betreten und sich neue zivilgesellschaftliche Gruppen entwickeln, die die Proteste weiterführen. Wichtig ist es, den Protestierenden auch aus dem Ausland zu signalisieren, dass sie in Europa wahrgenommen und unterstützt werden.