Der Niedergang des DGB

Das Recht zum Pinkeln

Der DGB hat keine Strategie für die Zukunft und wird von vielen Mitgliedern allmählich als überflüssig angesehen.

Als IG-Metall-Bezirksleiter setzte Franz Steinkühler eine dreiminütige Pinkelunterbrechung für Akkordarbeiter in Baden-Württemberg durch – mit einem dreiwöchigen Streik. Die seinerzeit berühmte »Steinkühlerpause« wurde 1973 tarifvertraglich vereinbart. Der frühere Vorsitzende der größten DGB-Einzelgewerkschaft hat offenbar noch immer ein Faible für Arbeitskämpfe. Steinkühler ist einer der wenigen Prominenten, die sich mit dem Streik der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) solidarisch erklärt haben. Der heutige IG-Metall-Vorsitzende dagegen fällt dem Zugpersonal in den Rücken. Der Streik der Lokführer schüre »die Stimmung gegen die Gewerkschaften«, sagte Detlef Wetzel. Und der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann ist überzeugt, »dass die Gewerkschaften insgesamt einen großen Imageschaden erleiden«.
Dabei dürfte auch dank der beiden amtierenden Spitzenkräfte der deutschen Arbeiterbewegung mittlerweile noch dem letzten Stammtischbruder klar sein, dass die im DGB zusammengeschlossenen Gewerkschaften dem Arbeitskampf der Lokführer mindestens so feindlich gegenüberstehen wie der Bahnvorstand. Dass die GDL ihren bislang letzten Ausstand früher als geplant beendet hat, liegt am öffentlichen Druck, den auch die Funktionäre des DGB erzeugt haben. Die GDL gehört wie 42 weitere Beschäftigtenorganisationen dessen Konkurrenzverband Deutscher Beamtenbund (DBB) an.
Auch Steinkühler bekam seinerzeit den Unmut der Öffentlichkeit zu spüren, als er in den acht­ziger Jahren einen siebenwöchigen Ausstand für die Einführung der 35-Stunden-Woche anführte. Immerhin setzten die IG-Metaller 38,5 Stunden durch. 16 Wochen lang streikten Metallarbeiter 1956/57 für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall – für alle Beschäftigten. Der Bundestag reagierte mit einer entsprechenden Gesetzesänderung. So einen langen Atem hat die IG Metall längst nicht mehr, und die IG BCE, die Heimatgewerkschaft des DGB-Vorsitzenden Hoffmann, hatte ihn nie. Sie verfolgt traditionell einen ex­trem – wie es so schön heißt – sozialpartnerschaftlichen, also arbeitgeberfreundlichen Kurs.
Im Mai wurde Hoffmann zum Nachfolger von Michael Sommer gewählt. Es war Sommer, der gemeinsam mit den Arbeitgeberverbänden die Initiative für ein Tarifeinheitsgesetz ergriffen hatte. Die Idee: Nur noch die Gewerkschaft, die in einem Betrieb die meisten Mitglieder hat, darf Tarifverträge aushandeln. Streiken dürfen Arbeitnehmer in Deutschland nur, wenn Gewerkschaften sie in einer Tarifauseinandersetzung dazu aufrufen. Wer nicht verhandelt, darf also auch nicht in den Ausstand. Ohne das Recht, Tarifverträge auszuhandeln und dafür zu streiken, ist eine Arbeitnehmerorganisation machtlos. Hat der Vorstoß Erfolg, könnte das das Ende der kleinen Spartengewerkschaften bedeuten. Vor kurzem hat Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) den von DGB und Arbeitgebern gewünschten Gesetzentwurf zur sogenannten Tarifeinheit vorgelegt. Der Tarifkonflikt bei der Bahn erschien ihr offenbar als die ideale Kulisse für die Präsentation ihres Entwurfs.

Die vom DGB selbst angezettelte Lex Spartengewerkschaften spaltet nun den Dachverband. Denn innerhalb des DGB ist das Tarifeinheitsgesetz höchst umstritten. Noch im Mai hatten die Funktionäre beim DGB-Bundeskongress versucht, die widerstreitenden Positionen in einem Antrag zusammenzubringen. Nach langem Ringen verabschiedeten die Delegierten einen Antrag, in dem sie Angriffe auf die Tarifautonomie und das Streikrecht ablehnen. Aber sie verpflichteten den Bundesvorstand nicht, den zu diesem Zeitpunkt bereits angekündigten Gesetzentwurf kategorisch abzulehnen. Bei vielen Beobachtern entstand daraufhin das sicherlich nicht unbeabsichtigte Missverständnis, der DGB habe sich gegen das Tarifeinheitsgesetz ausgesprochen. Doch der Formelkompromiss sagt das nicht. Und der neue Vorsitzende bezieht eine eindeutige Position: »Wir brauchen eine Stabilisierung der Tarifeinheit«, sagte Hoffmann. »Wenn uns die Große Koalition dabei helfen will, nehmen wir das Angebot zur Hilfe natürlich an.«
Aufgabe des DGB ist der Satzung zufolge, die einzelnen Gewerkschaften »zu einer wirkungsvollen Einheit zu vereinigen«. Doch nach knapp einem halben Jahr im Amt hat Hoffmann den Dachverband mit acht Mitgliedern direkt in eine Zerreißprobe geführt. Die größten Blöcke im DGB bilden die IG Metall und die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, die zusammen zwei Drittel der Mitglieder stellen. Nachdem Nahles ihren Gesetzentwurf zur Tarifeinheit vorgelegt hatte, äußerten sich tagelang weder DGB noch die beiden größten Einzelgewerkschaften dazu. Sie suchten nach einer gemeinsamen Sprachregelung, vergeblich. Schließlich gab Verdi bekannt, eine Unterschriftenkampagne gegen das vom eigenen Dachverband mitinitiierte Tarifeinheitsgesetz anstoßen zu wollen. Der Verdi-Vorsitzende Frank Bsirske greift seine Kollegen an, die für den Entwurf eintreten: »Gewerkschafter können nicht die Hand reichen für einen solchen Eingriff ins Streikrecht.«
Aber genau das tun einige der im DGB organisierten Gewerkschaften, allen voran die IG Metall. Sie bestreitet, dass der Entwurf einen Angriff auf das Streikrecht darstellt. Auch die IG BCE befürwortet den Entwurf. Er sei ein »gutes Signal«, sagte der IG-BCE-Vorsitzende Michael Vassiliadis. Die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten ist hingegen dagegen. Die dem DGB angehörige GDL-Konkurrenz Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) ist ebenfalls gegen den Entwurf – weil er ihr nicht weit genug geht. Denn in dem Entwurf ist die Maßeinheit der Betrieb, was der EVG jedoch zu klein ist. Die Deutsche Bahn ist seit ihrer Umwandlung in ein privatrechtlich organisiertes Unternehmen ein äußerst zergliederter Konzern. Dort müsste künftig für 300 Betriebe die Mehrheitsgewerkschaft ermittelt werden, kritisierte der EVG-Vorsitzende Alexander Kirchner. Es könnten sogar noch mehr sein. Kirchner hätte lieber den Konzern als festgeschriebene Einheit, damit auch wirklich sichergestellt ist, dass die GDL chancenlos ist.

Die Auseinandersetzung wird den DGB weiter schwächen. Seine Kräfte schwinden ohnehin dramatisch. Er repräsentiert fast nur noch halb so viele Menschen wie vor zwei Jahrzehnten. Eine Trendwende ist nicht absehbar. Viele Beschäftigte fragen sich angesichts der für Geringverdiener nicht gerade geringen Gewerkschaftsbeiträge von in der Regel einem Prozent des Bruttogehalts im Monat, was ihnen eine Mitgliedschaft bringt. Die DGB-Gewerkschaften sind international für ihre arbeitgeberfreundliche Haltung bekannt. Immer wieder müssen Arbeitnehmer Reallohnverluste hinnehmen.
Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften sind in einer strukturellen Krise, aus der die Funktionäre keinen Ausweg finden. Anders als das Führungspersonal der schlagkräftigeren Spartengewerkschaften wie der GDL oder der Pilotenvereinigung Cockpit haben sie kein Konzept, wie sie ihre Organisationen erneuern und im 21. Jahrhundert kampffähig machen könnten. Stattdessen setzen sie auf längst überholte Führungsinstrumente. Wissenschaftler der DGB-nahen Hans-Böckler-Stiftung sehen das Tarifeinheitsgesetz sehr kritisch und haben ihre Position in diversen Publikationen eingehend begründet. Seit einigen Tagen sind ihre Texte zum Thema auf den Internetseiten der Stiftung nicht mehr abrufbar. Eine Weisung »von ganz oben« soll dafür gesorgt haben, heißt es. »Ganz oben«, das ist bei der Böckler-Stiftung der DGB-Vorstand.