Deutschland, seine Hooligans und der Salafismus

Postnazismus und Partypatriotismus

Salafisten und Neonazis sind sich ähnlicher, als ihnen lieb wäre. Über die Dauerstellung allzu deutscher Denkweisen.

Die Exkursion in KZ-Gedenkstätten hinterlässt Eindrücke, die sich nur schwer und scheinbar unangemessen in Worte fassen lassen. Das Internet beherbergt etliche Bilder aus den früheren Konzentrationslagern, jedoch kann keines dieser Bilder den Besuch ersetzen, um das Ausmaß der institutionalisierten Massentötung nur annähernd zu begreifen.
In Zeiten, in denen ein Mitglied der Alternative für Deutschland (AfD) behauptet, die Gaskammern im KZ Dachau seien als »Täuschungsversuch« erst durch die Alliierten gebaut worden, kommt in Anbetracht der Wahlerfolge dieser Partei erneut die Frage auf, ob sich diese Positionen gesellschaftlich rekonstruieren lassen. Die Leugnung der tatsächlichen Existenz und Realität der Gaskammern trifft in Deutschland auf eine generelle Kultur des Vergessens und führt diese in eine weit absurdere Dimension.
Am 26. Oktober, am selben Tag, an dem in Köln fast 5 000 Hooligans »gegen Salafisten« demons­trierten, begab sich eine Gruppe von Studierenden auf eine Exkursion in die Gedenkstätte KZ Buchenwald und konnte mit Erschrecken feststellen, wie vielen Besucherinnen und Besuchern überhaupt eine Vorstellung fehlt, wie man sich an einem Ort des Gedenkens, der vor allem ein Tatort ist, verhält.
Ständig witzelnde und von Gelächter verzierte Gesichter formten sich in Kombination mit über das Gelände schreienden Personen zu einer makabren Satire. Als ein Mann seine tugendhafte Aufdringlichkeit so weit führte, dass er den Referenten der Gruppe zur Seite drängte, um »nur schnell ein Foto« vom Schriftzug des Tores zum Häftlingsgelände zu machen, wurde das Ausmaß des zum KZ-Tourismus verkommenden Unbewusstseins deutlich. Dieser Tourismus verneint nicht die Kultur des Vergessens, sondern bestätigt sie. In jeder erdenklichen Situation appelliert die Bundesregierung an »das Erinnern«, doch wird die Auseinandersetzung mit dem deutschen Tätervolk vergessen, das einen erheblichen Beitrag der systematischen Vernichtung leistete.
Möglicherweise üben Konzentrationslager heute gerade deshalb eine Anziehungskraft auf Menschen aus, die Zeitgeschichte vor allem als »Erlebnis« verstehen. Allein die Wortwahl des Erlebens ist dabei schon barbarisch, da diese Orte für das massenhafte Sterben stehen. Forderungen, die sich dafür aussprechen, KZs endlich abzureißen, um etwas weniger Menschenfeindliches aufzubauen, münden so in einem endlosen Zirkel der Zumutungen.
Die Frage, auf welchem gesellschaftlichen Boden diese politische Haltung fußt, muss also gestellt werden; dafür eignet sich der Rückblick auf diverse Ereignisse des vergangenen Jahres.

Xenophobie und Gesellschaft
Theodor W. Adorno beschreibt den autoritären Charakter von Fußballgefolgschaft besonders gut, indem er darauf hinweist, welche Affektmobilisierung sich gegen das vermeintlich Fremde entlädt. So formierte sich der identitäre Mob der »Hooligans gegen Salafisten« (Hogesa) aus dem Gefühl der Überlegenheit der Eigengruppe und sorgte für ein Zusammentreffen jeglicher Gruppierungen des rechten Randes, die ansonsten gerne für sich selbst sprechen und auftreten. Das gemeinsam zu konstruierende Feindbild »Salafist«, das in diesem Kontext auch beliebig »Schwuchtel«, »Jude«, »Ausländer«, »Schmarotzer« oder ähnlich heißen könnte, dient nur der Außendarstellung und entlockt dem einen oder anderen deutschen Bürger ein befürwortendes Dankeschön, da sich ja nun endlich mal wieder jemand traut, das zu sagen, was sich so viele denken. Es wäre nicht absurd anzunehmen, dass sich mög­licherweise genau im barbarischen Heraufbeschwören eines »Deutschlands der Deutschen« Affekte mobilisieren lassen, die dem deutschen Bürger immanent sind und seine Sehnsucht nach Identität und Volksgeist wieder aufleben lassen. Der Hang zum dörflichen Lynchmob hat zuletzt die »Bürgerwehr« im thüringischen Hildburghausen bewiesen, wo sich einige Wutbürger der Jagd auf »Rumänen«, die sie für den Anstieg der Kriminalität vor Ort verantwortlich machen, verschrieben haben. Diese von offensichtlich armen, verängstigten Bürgern für die Verteidigung von Volksinteressen gegründete Bürgerwehr unterscheidet sich charakterlich kaum von den hasserfüllten Fußballfaschisten von Hogesa.
Im Moment der Erkenntnis dieser Ähnlichkeit wird deutlich, wie nah sich Deutschtümelei und Nazismus tatsächlich stehen. Materialistisch betrachtet, offenbart sich die sedimentierte Geschichte, die in die derzeitige Gesellschaftsform wirkt, beim Auftreten bürgerlicher Lynchmobs deutlicher denn je.

Partypatrioten ebnen Weg
Das neue Sommermärchen zur WM 2014, das mit einem nationalen Ausbruch der Deutschlandzelebration und der Wiederentdeckung des Stolzes, deutsch zu sein, beendet wurde, ist gleichzeitig Teil des Problems und mitverantwortlich für einen derartigen Erfolg von Hogesa und ländlichem Selbstjustizkommando. Beim Beobachten durch die Straßen ziehender Fans, bekleidet in lächerlichster Deutschlanduniform, fällt gerne das ein oder andere »Heil«, nachdem jemand diesem den Weg mit einem vorangestellten »Sieg« geebnet hatte. Die Empörung darüber auch noch öffentlich kundzutun, führt dazu, dass sich pauschal alle Deutschlandfreunde als Nazis abgestempelt fühlen und den Kritiker in einer Rhetorik, die in der Praxis wahrscheinlich der Essenz des Lynchmobs nahe käme, an die Wand stellen und ihn mit dem Vorwurf der Intoleranz mundtot machen wollen – in Hogesa-Problemlösungsstrategie zum Beispiel mit einem geworfenen Fahrrad.
Mit Vorliebe werden die Kritiker, die nicht aus den eigenen Reihen stammen, sich also dem kollektiv ausgesprochenen Bekenntnis zur Nation entziehen, diffamiert. Welche anderen Kritiker sollte es auch geben? Bei Bier und Bratwurst fühlt sich alles familiär an und schafft Gemeinschaft, die ihren Mitgliedern bei reichlicher Bekundung des Interesses für den Sieg Deutschlands gerne ein Idiosynkrasiekredit vergibt und somit einen Ausrutscher wohlwollend verzeiht, solange er dem Gemeinschaftsgefühl nicht schadet.
Belustigen kann sich heutzutage jede Person, die sich in Zeiten von Großdemonstrationen oder global relevanten Ereignissen mit den »Kulturschaffenden« in Deutschland beschäftigt. Erst kürzlich unterzeichneten Kulturschaffende wie Nina Hagen einen Brief namens »Gaza Open Letter«, der mit tradierten Behauptungen wie »Freiluftgefängnis Gaza« oder der Aufrechnung palästinensischer Opferzahlen mit den Zahlen israelischer Opfer zu belustigen wusste.
Bezeichnend für diese kulturell so bedeutsamen Personen trat Martin Kesici, Gewinner der trostlosen Castingshow »Star Search«, auf. Als Teil der Kulturindustrie musste Kesici mit einem Facebook-Post erster Klasse sich seinen Fans mitteilen. Der mittlerweile gelöschte Post enthielt den Wortlaut: »Endlich gehen die Deutschen gegen die Salafisten auf die Straße. Wurde auch Zeit. Schönen Abend.« Damit reiht sich Kesici in beste Gesellschaft ein.
Ein fundamentales Problem ist, dass Kinder, denen ein differenziertes Denken und Kritisieren der Verhältnisse noch nicht möglich ist, in einem Deutschlandwahn erzogen werden. »Kulturschaffende« könnten Kindern als Vorbilder dienen. Wenn sich auf Schulhöfen in der Grundschule aber darum geprügelt wird, wer denn aus der besseren Nation kommt und warum einige Deutschland nicht feiern, obwohl sie »hier geboren sind«, so ist der Barbarei auch für die Zukunft kaum ein Hindernis in den Weg gelegt.

Das Problem heißt Salafismus?
In Zeiten zunehmender Popularität des Salafismus in Deutschland können die Meinungsbildner der deutschen Polittalk-Industrie die unzähligen Sendungen zum Themenkomplex Islamismus, in denen sich die Bandbreite von christdemokratischen Rechten über flüchtlingsausweisende Grüne, antisemitische Linksparteimitglieder und fundamentalistische Imame erstreckt, kaum noch bewältigen. Die dort geführten Debatten sind eigentlich allesamt identisch und austauschbar – von Erkenntnisgewinn zu sprechen, wäre eine Frechheit. Die Diskussionen und die auftretenden Personen bieten den bequem gebliebenen Medienkonsumierenden die Antwort auf alle Fragen. Entweder sei die christlich-abendländische Tradition durch unvereinbare Kulturdifferenzen bedroht oder der Salafismus die Reaktion auf gesellschaftliche Ausgrenzung und Diskriminierungserfahrungen. Über die Uneindeutigkeit des Begriffs »Salafismus« wird dabei nicht gesprochen.
Nimmt man den Demonstrationsvorwand der Hogesa in den Blick, stellt man fest, dass sich nazistische Hooligans und Islamisten, denen ein klerikaler Faschismus vorgeworfen werden kann, sich stärker ähneln, als ihnen wohl lieb ist. Ein antiquiertes Weltbild mit umfassender, hermetischer Weltanschauung, blankem Ressentiment gegen alles Westliche und insbesondere der Hass auf das »Jüdische«, sowie alles, was die eigenen Ansichten nicht teilt, sind ihnen gemein. Wer ihre Religion kritisiert, wird mit dem Vorwurf versehen, islamophob zu sein. Diese Verhaltensweise ist dem Islamismus keineswegs eigentümlich, lassen sich doch hier Parallelen zur Betroffenheit wahnhaft und selbstverschuldet unmündiger Deutschlandfreunde finden.
Eine materialistische Kritik am Islamismus wäre hingegen weit davon entfernt, auch nur in irgendeiner Weise eine Phobie zu erzeugen. Allzu gerne wird über den Islamismus am Beispiel des Islamischen Staats (IS) angemerkt, dass die Großzahl der Opfer der Islamisten selbst Anhänger des Islam sind. Dass diese hohe Opferzahl jedoch durch die geopolitische Lage des Islamismus bedingt ist und die Opferzahlen nichtmuslimischer Personen mutmaßlich ansteigen, sollte sich der Islamismus in andere Regionen verbreiten, überschreitet den Horizont der meisten, vor allem der unter dem Attribut »links« firmierender Gruppen.
Wären die Demonstrierenden von Hogesa tatsächlich interessiert, den Salafismus zu kritisieren, wäre ihre Kritik wohl kaum damit erledigt, laut grölend »Ausländer raus« zu skandieren. Es bleibt dem stolzen Deutschen wohl unerträglich, zu akzeptieren, dass ein beachtlicher Teil der Salafisten deutsche Konvertiten sind und nicht nur Pierre Vogel als Beispiel hierfür angeführt werden kann. Die deutsche Bevölkerung scheint wohl doch nicht ausschließlich völkisch und für ein deutsches Deutschland zu sein, sondern weiß ihren Wahn nach Identität auch in anderen attraktiven Weltanschauungen zu finden. Figuren wie Denis Cuspert, der früher als Deso Dogg in der Berliner Rap-Szene bekannt war, und heute auf den selbstverliehenen Namen Abu Talha al-Almani hört, scheinen nun eine beachtliche Rolle in der Mitgliederakquise des IS zu spielen. Das martialische Auftreten hegemonialer Männlichkeit gefällt dem ehemaligen Rapper.
Für die Frage nach den Ursachen des Islamismus mögen viele Journalisten und Thinktanks schnelle Antworten parat haben, der Komplexität der islamistischen Ideologie werden sie jedoch nicht gerecht. Die Gegenaufklärung und Ablehnung des westlichen »Imperialismus« ist jedoch bei Weitem nicht nur Resultat aus Mobbingerfahrungen im Kindergarten. Der Islamismus ist keine nonkonformistische Revolte, sondern vor allem Überzeugung. Es muss nicht betont werden, dass der Islamismus hierzulande bisher nicht das Ausmaß des Nahen Ostens angenommen hat, jedoch ist die Unterschätzung des tatsächlichen Potentials Gemeingut.
Als sich am 7. Oktober Anhänger des IS in Hamburg versammelten und Sympathisanten der kurdischen Befreiungsbewegungen mit Macheten und anderen exotischen Waffen angriffen, ließ sich das Potential dieser Strömung recht gut erkennen. Das Unverständnis der kapitalistischen Lebensverhältnisse und der Warenproduktion verbindet Salafisten und Neonazis miteinander, sind diese beiden Strömungen doch seit langer Zeit der Exportschlager in Sachen Antikapitalismus, auch wenn sie sich in Wut und Feindschaft gegenüberzustehen scheinen. Keines der beiden Krisenlösungsmodelle ist auch nur in geringster Form zu akzeptieren, sondern konsequent zu bekämpfen. Weder völkischer Nationalismus, noch klerikalfaschistischer Gottesstaat liefern eine Antwort auf den Kapitalismus.

Dystopischer Ausblick?
Sich darüber bewusst zu sein, dass reaktionäre Überzeugungen, ob völkisch oder islamistisch, als Phänomen der Moderne nicht von heute auf morgen aus der Welt geschafft werden können, ist sehr wichtig. Wenn Adornos Aufsatz »Erziehung nach Auschwitz« den kategorischen Imperativ so umformuliert, »dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts ähnliches geschehe«, muss vor allem der Nachsatz vergegenwärtigt werden.
Der Versuch, das Kapitalverhältnis aufzuheben und alles als »raffendes Kapital« titulierte zu vernichten, stellt eine Zäsur dar, die sich für eine emanzipatorische Politik vor allem dadurch auszeichnen muss, nicht hinter die Errungenschaften des Kapitalismus und damit direkt in die vorkapitalistische Barbarei zurückzufallen, und stattdessen über die Grenzen hinauszugehen. Angesichts der zunehmenden Abstraktion von Arbeit fällt es vermeintlichen Verlierern des Systems leicht, ein Feindbild anhand verschwörerischer Kategorien zu finden.
Es ist wichtig, dass der Blick für das »Gute im Menschen« nicht zum platonischen Fetisch, nicht zur Brille, durch die plötzlich alles gesehen wird, verkommt. Dezidierte und brutale Islamisten wie Nazis stellen jede Intervention zur Mündigkeit auf verlorenen Posten. Es gibt Menschen, die nicht mehr erreicht werden können. Bildungseinrichtungen sollten sich darauf verständigen, den kategorischen Imperativ nach Auschwitz zur absoluten Handlungsmaxime zu machen und alle Arbeit auf die Emanzipation aus der persönlichen Befangenheit auszurichten. Das Modell des Multikulturalismus scheitert in jeglicher Form und von jeglicher Seite an diesen gesellschaftlichen Voraussetzungen und bedarf stattdessen einer grundlegend kulturkritischen Perspektive.
In »Das Unbehagen in der Kultur« schreibt Sigmund Freud: »Es scheint nicht, dass man den Menschen durch irgendwelche Beeinflussung dazu bringen kann, seine Natur in die eines Termiten umzuwandeln, er wird wohl immer seinen Anspruch auf individuelle Freiheit gegen den Willen der Masse verteidigen.«
Vielleicht ist diese individuelle Freiheit der letzte Funke von Menschlichkeit in den Körpern von Nazis und Islamisten, den sie selbst durch ihre für sie wahrhaftig gewordene Ideologie unterdrücken. Es ist bekannt, dass der Mensch sich grade in Zeiten schlimmster Unterdrückung nicht sonderlich für Emanzipation begeistern kann.