Französische Jihadisten beim IS

Von der Wiese in die Wüste

In einem Enthauptungsvideo der Organisation »Islamischer Staat« wurde ein französischer Staatsbürger identifiziert.

Und sie tun es doch! Ein Satz wurde in diversen französischen Medien in den letzten Tagen wiederholt auf ironische Weise zitiert, nachdem sich herausgestellt hatte, dass mutmaßlich zwei französische Staatsbürger in dem jüngsten Enthauptungsvideo auftauchen, das die Organisation »Islamischer Staat« (IS) am vorvergangenen Sonntag im Internet publiziert hat. Darin ist zu sehen, wie Jihadisten insgesamt 18 Soldaten des syrischen Regimes sowie der US-amerikanischen Geisel Peter Kassig vor laufenden Kameras die Kehle durchschneiden.
Der Satz dazu lautet: »Jihadkämpfer wachsen nicht auf den normannischen Wiesen heran.« Ihn hatte die rechtsextreme Politikerin Marine Le Pen im Juni ausgesprochen und damit gemeint, dass das in den vergangenen beiden Jahren viel diskutierte Jihadisten- und mögliche künftige Rückkehrerproblem ein reines »Ausländer-« und »Zuwanderungsproblem« sei.
Nun stellt sich heraus, dass Jihadisten eben manchmal doch in normannischen Wiesenlandschaften aufwachsen. Denn mit zweifelsfreier Sicherheit identifiziert werden konnte einer der beiden mutmaßlichen französischen Staatsbürger, die in dem IS-Video mit unverhülltem Gesicht zu sehen sind. Es handelt sich um den 22jährigen Maxime Hauchard. Er wuchs in dem Kleinstädtchen Bosc-Roger-en-Roumois mit 3 200 Einwohnern in der Normandie auf, das rund 30 Kilometer südlich der Regionalhauptstadt Rouen liegt.
Nichts prädestinierte den als schüchtern beschriebenen jungen Mann, zum Jihadkämpfer zu werden. Im Jahr 2011 radikalisierte er sich im Eiltempo und zunächst weitgehend allein, dank diverser Lektüre aus dem Internet. Allenfalls frequentierte er eine neun Kilometer entfernte kleine Moschee, nachdem er aus den meisten muslimischen Gemeindehäusern der Umgegend hinauskomplimentiert worden war. Im darauffolgenden Jahr besuchte er sieben bis acht Monate lang eine Koranschule im westafrikanischen Mauretanien, kehrte jedoch enttäuscht zurück, denn in seinen Augen erschien dort alles zu schlapp und langweilig. Im August 2013 brach er nach Syrien auf, um am Bürgerkrieg teilzunehmen. Dort legte er sich den Kriegsnamen Abu Abdallah al-Faransi zu. Am Montag dieser Woche forderte Marine Le Pen für Hauchard »die Guillotine«.

Generell scheinen die Anwärter für den Aufbruch in den »Glaubenskampf« einem von zwei unterschiedlichen Profilen zu entsprechen. Auf der einen Seite handelt es sich um einen Prozess, der mit dem Beitritt zu Sekten jeglicher Art verglichen werden kann. Zum anderen finden sich aber auch Sadisten und psychopathische Gewalttäter, die nur eine vordergründige Legitimation ihrer Taten suchen. Im September wurde etwa ein anderer französischer Staatsbürger in Syrien verortet, Salim Benghalem, den die USA beschuldigen, ebenfalls Morde im Auftrag des IS begangen zu haben. Über ihn wurde bekannt, dass er 2001 wegen eines Mordversuchs festgenommen und später zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt worden war. Nach seiner Haftentlassung setzte er sich alsbald nach Syrien ab. Über ihn sagte sein früherer Anwalt Léon Lef Forster aus, er habe nie Ansätze von Religiosität gezeigt, aber auch keine irgendwie ideologische Feindschaft gegen die Mehrheitsgesellschaft artikuliert. Anscheinend handelt es sich bei seinem neuen Engagement vor allem um eine Rechtfertigung, seine kriminellen Neigungen ungehindert auszuleben.
In jedem Fall ist eine Veränderung des Profils der Jihad-Kandidaten im Vergleich zu den ersten Kämpfern aus Frankreich, die sich vor 20 Jahren auf ein solches ideologisches Vorhaben beriefen, zu beobachten. Damals handelte es sich fast ausschließlich um junge Männer arabisch-nordafrikanischer Herkunft. Man denke etwa an die Gruppe um Khalid Kelkal – er wurde 1995 im Umland von Lyon von der Polizei erschossen –, die mit bewaffneten Islamisten in Algerien in Verbindung stand und Anschläge in Frankreich verübte. Diese Jihadisten hatten in ihren Familien eine muslimische Sozialisation erfahren und sich später, auch infolge von Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen, verstärkt über diese Identität definiert und sich gewissermaßen in diese hineingesteigert. Im Falle von Khaled Kelkal, der nach einem ersten Gefängnisaufenthalt wegen Kleindelikten dem deutschen Soziologen Dietmar Loch ein ausführliches Interview gegeben hatte, das nach seinem Tod von Le Monde veröffentlicht wurde, war dies offensichtlich. Diese Zeiten sind längst vorbei, und die Anziehungskraft des Jihadismus ist nunmehr in ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen feststellbar, auch wenn es sich um überschaubare Gruppen und nicht um eine Massenbewegung handelt. Es gibt keinen Archetyp mehr, dem ein durchschnittliches Profil entsprechen würde.
20 bis 25 Prozent der in jüngster Zeit identifizierten Jihadisten sind innerhalb der vergangenen Jahre konvertierte Franzosen ohne muslimischen familiären Hintergrund. Und bei denen, die einen Migrationshintergrund haben, ist nicht regelmäßig ein biographischer Bruch infolge von Diskriminierungserlebnissen auszumachen, aber auch kein traditionalistisches muslimisches Umfeld. Zahlen des Fernsehsenders France 2 zufolge kommen zehn Prozent der französischen Jihadkandidaten aus muslimischen und 80 Prozent aus atheistischen Familien. Auch wenn diese Angaben insofern überzogen erscheinen, als der Begriff »atheistisch« hier wohl auf Familien ausgedehnt wurde, die keine religiösen Rituale praktizieren, so liegt doch auf der Hand, dass keine Kontinuität zu traditionellen religiösen Vorstellungen der Elterngeneration feststellbar ist.
Die größten Kontingente »westlicher« Jihadisten in Syrien und im Irak stellen derzeit, gemessen an der jeweiligen Bevölkerungszahl, Frankreich und Belgien. Aber auch Deutschland ist ein relativ wichtiges Herkunftsland für Jihadisten im Nahen Osten. Die Zahl der aus Deutschland stammenden Kämpfer hat am Wochenende Innenminister Thomas de Maizière von bislang angenommenen 400 auf 550 korrigiert. Unter den Jihadisten befinden sich auch Konvertiten, wie etwa Silvio K., der deutschstämmige »Terrorist vom Bodensee«. Er wuchs in beschaulichen Verhältnissen im süddeutschen Überlingen auf, zog später nach Essen und Solingen und wurde dort bei der Salafistengruppe Millatu Ibrahim aktiv, die 2012 verboten wurde. Über ein jihadistisches Trainingslager in Libyen reiste er weiter nach Syrien, von wo er unter anderem zu Mordanschlägen auf Angela Merkel aufrief.

Unter den außereuropäischen Ländern ist vor allem Tunesien ein wichtiges Rekrutierungsland für Jihadisten. Im Nahen Osten sollen sich rund 3 000 Staatsangehörige aus Tunesien aufhalten, unter ihnen auch viele junge Frauen im Jihad el-niqa, im »geschlechtlichen Glaubenskampf« zwecks Erbauung der Kämpfer. Aber auch aus Malaysia, Indonesien und den Philippinen kommt eine wachsende Zahl von IS-Rekruten.
Unterdessen macht der Journalist Omar Youssef Suleiman in der libanesischen Onlinezeitung Raseef 22 mit einer ganz anderen Perspektive auf sich aufmerksam. Infolge der Verunsicherung vieler Muslime, die sich erschreckt von den Praktiken des IS distanzieren und mit ihnen auf keinen Fall in Verbindung gebracht werden wollen, sieht er »eine Welle des Atheismus« in den arabischsprachigen Ländern aufkommen. Denn wo bislang viele kritische oder säkulare Muslime nur die Art und Weise, die muslimische Religion zu praktizieren, in Frage gestellt hätten, stellten sie nunmehr deren historische Grundlagen auf den Prüfstand.