Hartz IV und die Kontrollgesellschaft

Wie wir leben müssen

Hartz IV und die Linke in Zeiten der Selbst­optimierung.

Zu den theoretischen Deutungsmustern des Sozialen, die sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts soweit etabliert hatten, dass sie auch von weiten Teilen der Linken rezipiert wurden, gehört das poststrukturalistische Schema, wonach historisch wie systematisch mit der Entfaltung der Moderne eine Souveränitätsgesellschaft in eine Disziplinargesellschaft übergeht und sich dann schließlich mit der Postmoderne sukzessive die Disziplinargesellschaft zur Kontrollgesellschaft verwandelt. Dieser Transformationsprozess kann, wenn man dem Deutungsmuster einmal folgt, gerade für das soziale Verhältnis von Staat und Individuum heute als abgeschlossen betrachtet werden. Seinen machtvollen, für einen Teil der Bevölkerung spürbar brutalen Ausdruck findet das in den mit dem Namen Peter Hartz verbundenen Regulationsmaßnahmen, insbesondere dem Arbeitslosengeld II beziehungsweise Hartz IV.
Die Einführung von Hartz IV vor zehn Jahren bedeutet eine Zäsur, die sich allgemein in verschiedenen Umbrüchen innerhalb des Kapitalismus geltend macht, nicht nur in der Bundesrepublik und in Europa, sondern mehr oder weniger weltweit. Ideologisch formiert sich dabei das, was als Neoliberalismus bezeichnet wird: Prinzipien, die weit über die unmittelbare ökonomische Verwertungslogik hinaus das Alltagsleben der Einzelnen erfasst haben. An Hartz IV wird das insofern signifikant, als dass mit den Richtlinien zum ALG-II-Bezug sich vor allem ein Zwang zur Selbstsorge geltend macht; die Kontrollgesellschaft bezeichnet das in nuce, weil mit Hartz IV die Lebens- und Überlebenschancen an die Eigeninitiative der Einzelnen delegiert werden. Faktisch sind damit die Reste eines noch klassischen liberalen wie sozialdemokratischen Prinzips gegenseitiger Hilfe aufgekündigt: Selbstverantwortung wird eingefordert, nicht als Moment der Aufklärung, sondern als unverhohlen deklarierte Eingliederungsmaßnahme, begleitet von erpressten Vereinbarungen und Erklärungen, die zu unterschreiben sind. Der letzte Schein von Handlungsautonomie ist überblendet von der verwalteten Welt, in der das Individuum auf behavioristische Rollen festgelegt und versachlicht wird.
Die Kontrollgesellschaft setzt auf Selbstoptimierung. Der Zwang zur Selbstsorge, wie ihn die Hartz-IV-Maßnahmen abverlangen, ersetzt die Fürsorge, eine beinahe noch gemeinschaftliche Idee, die einst der Sozialhilfe zugrunde lag. Tatsächlich lässt sich Sozialhilfe als typische Institution der Disziplinargesellschaft beschreiben. Es galt das Ideal der Menschenwürde, wozu einmal auch gehörte, nach Vorschrift ein paar Schuhe, ordentliche Kleidung, Wohnraum, Möbel dazu, ein Radio und einen Fernseher zu haben. Es ging darum, Not zu lindern – und sei es auch nur, um sie aus dem Blickfeld zu nehmen, die Armut in die Peripherie abzuschieben. Zur Hochzeit der wohlfahrtsstaatlichen Sozialhilfe gehörte ja auch im Großmaßstab der soziale Wohnungsbau, insbesondere in der Erschließung der Stadtrandgebiete.
Dass vom Schuh bis zum Fernseher alles verordnet wurde, ist damals als Entmündigung kritisiert worden. Gleichzeitig halfen Broschüren wie der »Sozialhilfe-Leit(d)faden«, in solidarischen Aktionen dem Amt möglichst viel abzuluchsen. Sozialhilfe – dafür sorgte der Staat, zu dem es gerade durch die Individualisierungsschübe der späten siebziger und frühen achtziger Jahre ein gespaltenes, eher auch ablehnendes Verhältnis gab. Selbstverwirklichung hieß, sich im Privaten einzurichten. Auf Sozialhilfe angewiesen zu sein, bedeutete eine Abhängigkeit, die verpönt war. In den neunziger Jahren änderte sich das, die politische Loyalität wird stabilisiert, nicht zuletzt durch die Verschmelzung von Neoliberalismus und Sozialdemokratie als Neue Mitte.

Die Ideale der Selbstverwirklichung wurden vom Siebziger-Jahre-Partykeller-Hedonismus endgültig entkoppelt, die Zeiten, in der das prosperierende Kleinbürgertum rauschende Feste feierte, waren vorbei; in den neunziger Jahren gaben jetzt ausgerechnet Linke, als Poplinke, die kulturellen Muster vor, nach denen sich jeder ein bisschen Lifestyle gönnen durfte. Damit war die Individualisierung endgültig in der Linken angekommen, das »linke« Individuum demokratisch integriert, wurden Klassensolidarität und konkrete Utopie als nicht mehr zeitgemäß verabschiedet.
Fundamental änderte sich somit das Theorie-Praxis-Verhältnis: »Links-sein« ist fortan keine Haltung mehr, die bestimmt, ob man im emphatischen Sinne »Genosse« ist oder nicht, sondern eine »theoretische« Meinung, die mitnichten etwas mit der je persönlichen Alltagspraxis zu tun zu haben braucht; dass das Private das Politische sei und umgekehrt, gilt ab jetzt nur noch in Bezug auf die symbolische Ordnung des jeweiligen Privatismus und dient dem Schutz der Befindlichkeit, die zugleich zur »politischen Waffe« verdreht wird. Ohnehin ist auch das, was im weitesten Sinne »links« heißt, im Potpourri der Meinungen nivelliert. Die Kontrollgesellschaft lässt es auch gar nicht mehr zu, als Subjekt zu agieren, geschweige denn als revolutionäres Subjekt.
In Zeiten von Hartz IV heißt das: Wer als Linker vorstellig werden muss, um ALG II zu bekommen, macht das eben nicht als politisches Subjekt, als Kommunist, als Teil einer emanzipatorischen Bewegung etc., sondern schlechterdings wie alle in der Warteschlange: als Kunde, wie es im Jargon heißt. Entscheidend liegt dem zugrunde, dass es eben vorrangig nicht um den Geldbezug, also die finanzielle Sicherung des Lebens geht, sondern um Zuweisung von als »Arbeit« klassifizierten Beschäftigungsmaßnahmen.
Dass das alte Arbeitsamt seiner Arbeitsvermittlungsfunktion nur unzureichend nachkam, war ja der Ausgangspunkt der »Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt«, die von Peter Hartz Anfang des Jahrtausends geleitet wurde. Hartz – der sich später noch wegen Veruntreuung von Firmengeldern gerichtlich zu verantworten hatte, es also mit Recht und Gesetz selber nicht sehr genau nahm – entwarf einen Katalog, mit dem nun »Arbeit« als Grundlage der Gesellschaft ideologisch restituiert und damit quasi die Kontrollgesellschaft auf ein verrechtlichtes Leistungsprinzip verdichtet werden konnte. Dass auch für die nur kleinschrittigste Veränderung der Welt die Abschaffung der Arbeit notwendig ist, verflüchtigte sich zur spinnerhaften These irgendwelcher Altmarxisten; die sozialökonomische Annahme vom Ende der Arbeitsgesellschaft, die seit den sechziger Jahren von so unterschiedlichen Soziologen wie Amitai Etzioni, Daniel Bell oder Andre Gorz vertreten wurde, galt spätestens mit der New Economy als überholt und wird bis heute in den allgemeinen, aber auch »linken« Debatten weitgehend stillschweigend ignoriert.
Mit gutem Grund wurde der alte Arbeiterbewegungsmarxismus, überhaupt die revolutionäre Fixierung auf die Imagination eines klassenbewussten Proletariats, auch wegen der damit verknüpften Mystifikation der Arbeit beziehungsweise des (männlichen, weißen, heroischen) Arbeiters kritisiert. Gleichzeitig scheint es, als sei das Kind mit dem Bade ausgeschüttet worden: offenbar hat sich die nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus vollends in diverse, widerstreitende Fraktionen zerspaltene Linke auf einen neuen Marsch durch die Institutionen begeben – es ist kein Marsch mehr, der auf Utopie hinauswill, sondern gleichsam ein Fluchtweg, um der eigenen Ohnmacht zu entkommen. Kollektive Bewegung ist diese Linke nur noch in der Phantasmagorie einer Multitude. Die bescheuerte Idee, die einige in den neunziger Jahren hatten, dass nämlich die Konzepte der Selbstsorge – alles hübsch mit Foucault und »Gender Trouble« zur Ästhetik der Existenz verbrämt – irgendwie auch tauglich seien, um sich immer mal wieder neu zu erfinden, um damit der Macht ein ebenso machtvolles, subversives Schnippchen zu schlagen, blamiert sich spätestens beim ersten Termin bei der Hartz IV-Sachbearbeiterin, der man irgendwie plausibel machen muss, warum das, was man macht, einen mittelfristig aus der Arbeitslosenstatistik verschwinden lässt.

Die noch in den neunziger Jahren euphorisch verteidigten Konzepte der Selbstsorge realisierten sich in zahlreichen Biographien als energische Varianten der bürgerlichen Individualisierung unter postbürgerlichen Bedingungen. Von den klassischen politischen Organisationen wie Gewerkschaften, Parteien, Vereinen und größeren Gruppenzusammenhängen (zum Beispiel die bundesweite Antifa) hat man sich in der Linken zwar nicht nominell verabschiedet (die Rückbindung funktioniert allerdings auch hier als individuelle Strategie etwa über Stipendien der Partei- und Gewerkschaftsstiftungen), gleichwohl spielen solche Organisationen theoretisch wie praktisch heute in der – radikalen, emanzipatorischen – Linken keine Rolle mehr. Eine Alternative dazu gibt es keine, die Gruppen entstehen – wenn überhaupt – punktuell und temporär; Strukturen und Situationen gibt es ebenso keine, weder praktisch noch theoretisch meldet sich hier Bedarf an (obwohl ja die Regale gefüllt sind mit meterweise Literatur über Strukturalismus, Situationismus und irgendwelchen Quatsch-Forschungen über Empowerment-, Performance-, Öffentlichkeits- und Aneignungsstrategien).
Wo es doch soziale Kämpfe gibt, müssen die individuellen Interessen erst einmal in kollektive Interessen übersetzt werden; dafür scheint es aber selbst bei größter Gefahr kaum Anlass zu geben. Solidarität entsteht hier meist nur in sehr fragilen Formen. Beharrliche Politik ist Sisyphos-Arbeit, wie man etwa an der FAU in Berlin nachvollziehen kann. Drastisch für das Scheitern der Linken spricht nicht nur, dass bis heute gegen Hartz IV und ähnlichen Zumutungen kein hinreichender Widerstand organisiert werden konnte, sondern mehr noch, dass es auch kaum Unternehmungen gibt, einen solchen Widerstand zu organisieren – obwohl ja viele, die sich irgendwie der Linken zuordnen würden, auf Hartz IV und ähnliche Leistungen angewiesen sind. Die Klassenfrage wird praktisch nicht gestellt; theoretisch ist sie bestenfalls Thema akademischer Untersuchungen.

Die Kontrollgesellschaft setzt auf Selbstoptimierung. Hartz IV zu beziehen, heißt heute weniger vom Staat abhängig zu sein, als vielmehr auf Kosten der anderen, namentlich »der Steuerzahler« zu leben. Dieser Generalverdacht, dass jeder Bezug von Hartz IV irgendwie Betrug der Allgemeinheit ums hart erarbeitete Geld sei, gehört mit zur Realideologie der Kontrollgesellschaft; in den Anordnungen an Mitarbeiter beim Hartz IV-Amt ist das programmatisch festgehalten.
Der einzige irgendwie mit Widerständigkeit zusammengebrachte Gegenentwurf verdichtet den Individualismus, auch in der Linken: Das Leben wird als prekär beschrieben. Nur dem Anschein nach bezeichnet »prekär« etwas Kollektives; im Gegenteil – als Selbstzuschreibung verlängert sich hier der übliche Idiotismus (den Hans-Christian Dany jüngst in seinem fulminanten Essay »Morgen werde ich Idiot!« als Anpassungsleistung beschrieben hat). Anders als beim einfachen, stumpfen Elend behält sich das prekäre Leben eine Aus- und Aufstiegsoption vor; als sei nicht Leben überhaupt im Kapitalismus prekär, folgt man der Ideologie der Kontrollgesellschaft bereits in dem Glauben, dass die prekäre Existenz nicht von Dauer ist. So kann man sich einbilden, dass ALG II nur eine Art Überbrückungsgeld ist auf dem Weg zur kreativen Selbstverwirklichung, die einem am Ende doch die sichere Position in der Mitte der Gesellschaft bescheren soll. Für die, die weiterhin auf Hartz IV angewiesen sind, bleibt Mitleid.
Der Schatten einer Utopie, wie wir leben wollen, ist längst überstrahlt von der Doktrin, wie wir leben müssen, nach der in der verwalten Welt so etwas wie Hartz IV selbstverständlich auch für die sich so nennende Linke funktioniert, aller Gewissheit und Klarheit zum Trotz, dass Hartz IV abgeschafft werden muss – wie überhaupt alles.