Dirk Braunstein im Gespräch über die Protokolle von Adorno-Seminaren 

»Eine Historisierung ist wünschenswert«

Dirk Braunstein, der an der Edition der Protokolle zu Theodor W. Adornos ­Seminaren ­arbeitet, spricht über die Geschichte der Lehre am Institut für ­Sozialforschung, über eine vergessene Soziologie des Lachens und über die ­unberechtigte Angst vor der Museali­sierung kritischer Theorie.

Dirk Braunstein hat unter anderem in Bochum und Köln studiert und arbeitet derzeit als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung der Frankfurter Goethe-Universität im Rahmen eines von der Gerda-Henkel-Stiftung geförderten Projekts an der Herausgabe sämtlicher erhaltener Sitzungsprotokolle zu den Seminaren Theodor W. Ador­nos. 2011 erschien seine Dissertation »Adornos Kritik der politischen Ökonomie« im Transkript-Verlag.

Im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Goethe-Universität bist du mit der Edition der Sitzungsprotokolle zu Adornos Seminaren zwischen 1949 und 1969 befasst. Wie umfangreich ist das Projekt, und wie ist die Idee für das Vorhaben entstanden?
Adorno hatte es sich zur Gewohnheit gemacht – möglicherweise hat er das von Horkheimer übernommen –, zu jeder abgehaltenen Seminarsitzung ein Protokoll von einem Studenten oder einer Studentin anfertigen zu lassen, das war obligatorisch. Später haben dieses Verfahren auch viele andere aus dem Umfeld des Instituts übernommen, Jürgen Habermas zum Beispiel, aber auch Karl Heinz Haag. Adorno hat das offenkundig schon vor seiner Emigration so gehandhabt, Rolf Tiedemann hat beispielsweise in den Frankfurter Adorno-Blättern das Protokoll zu dem letzten Seminar publiziert, das Adorno vor dem Krieg abgehalten hat, über Walter Benjamins Trauerspiel-Buch. Das erste Protokoll nach Adornos Rückkehr aus der Emi­gration behandelt ein Seminar über Kant und datiert vom November 1949, es wurde von Hermann Schweppenhäuser verfasst. Aus der Zeit zwischen 1949 und 1969 haben sich etwa 480 Protokolle zu rund 50 Seminaren erhalten, das heißt zu jeder abgehaltenen Seminarsitzung liegt, sofern es nicht abhanden gekommen ist, ein Protokoll vor. Die Protokolle sind in der Regel drei bis vier Seiten lang, sie stammen von etwa 330 Verfassern. Sie befinden sich entweder im Archiv der Frankfurter Goethe-Universität oder, als Teil des Horkheimer-Nachlasses, im Archivzentrum in Frankfurt. Adorno hat nach seiner Rückkehr nach Deutschland zunächst nur philosophische Seminare abgehalten, später, da er einen Lehrstuhl zu Philosophie und Soziologie innehatte, auch soziologische. Die philosophischen Seminare fanden formal gemeinsam mit Horkheimer statt, aber Horkheimer war nicht immer und seit den sechziger Jahren immer seltener anwesend. Auf die Protokolle bin ich im Zuge meiner Dissertation gestoßen, in der ich auch auszugsweise aus ihnen zitiere.
Lassen sich im Laufe der Jahre Veränderungen in der Gestaltung der Protokolle erkennen, in denen sich Veränderungen des Seminarbetriebs spiegeln?
Zu Beginn, in den fünfziger Jahren, folgen die Protokolle einem sehr strengen Schema und behandeln weniger den Seminarverlauf als den Inhalt der jeweils besprochenen Lektüre. Spä­ter lässt sich dann beobachten, dass immer stärker Beiträge der Teilnehmer und Kritik am Seminar, die während der Sitzungen geäußert wurde, Eingang finden. So enthält ein Protokoll aus den sechziger Jahren über ein Seminar zur autoritären Persönlichkeit den Hinweis, es sei kritisiert worden, wie zurückhaltend die Diskussion gewesen sei, während doch der Gegenstand angesichts der damaligen Verschärfung der Hochschul- und Beamtengesetze sehr aktuell sei. Im Vorfeld der Studentenbewegung in den späten Sechzigern nehmen solche Diskussionen breiteren Raum ein. Ich denke an ein Protokoll, das vermerkt, Adorno habe auf die Frage, wie er zum sogenannten Radikalenerlass stehe, geantwortet, seine Haltung dazu sei aus seinen Schriften unmittelbar ersichtlich. Er hat also Partei ergriffen, ohne sich mit einer Offenbarung seiner politischen Meinung hervortun zu wollen.
Historisch interessant sind sicher auch die Biographien der Protokollanten.
Dieser Aspekt ist einer der schwierigsten bei der Arbeit. Ich muss für die Herausgabe der Protokolle sämtliche Rechte bei den Protokollanten einholen. Besonders kompliziert ist es – sofern die Verfasser nicht akademisch bekannt geworden sind –, die aktuellen Adressen herauszufinden. Wir arbeiten mit Einwohnermeldeämtern zusammen, um herauszufinden, wo die jeweiligen Ansprechpartner heute leben. Einige Protokollanten sind inzwischen verstorben, von ihnen müssen wir gegebenenfalls Angehörige ermitteln. Inzwischen haben wir mehr als 100 Adressen noch lebender Verfasser zusammengetragen. Denen schicken wir einen Briefvertrag und ein Schreiben zu, in dem wir um Zustimmung zur Edition der jeweiligen Protokolle bitten. Bisher gibt es nur Zusagen, einige Adressaten antworten auch sehr ausführlich und kommentieren das Projekt. An den Kommentaren lässt sich wiederum ablesen, in welchem Maß sich damalige Protokollanten vom Denken der kritischen Theorie entfernt haben. Einer der ehemaligen Protokollanten schrieb mir in seiner Antwort, die Protokolle seien heute als Zeugnis einer didaktischen Katastrophe zu lesen, weil Adorno und Horkheimer sich oft einen Großteil der Sitzung lang damit beschäftigt haben, einen einzigen Satz etwa aus Hegels »Logik« zu kommentieren. Aus heutiger Sicht erscheint das vielleicht unpädagogisch, aber mir geht es bei dem Vorhaben eigentlich darum, gerade die Qualität dieses Vorgehens vor Augen zu führen, bei dem man gleichsam zusehen kann, wie sich der Akt des Denkens entfaltet. Zu Beginn, als die Seminare noch im Institut für Sozialforschung stattfanden, wo heute gar keine mehr abgehalten werden, trug die eher private Atmosphäre zur Fruchtbarkeit dieses Verfahrens bei, es passten kaum mehr als 30 Leute in einen Raum. In den Sechzigern, als die Veranstaltungen in den Universitätshörsälen stattfanden und Adorno eine Berühmtheit geworden war, änderte sich auch die Struktur der Seminare, sie gewannen einen öffentlicheren Charakter.
Welchen Zweck hatten die Protokolle für die Seminarteilnehmer, und welche Funktion erfüllten sie für Adorno?
Zunächst dienten sie als Information für Teilnehmer, die die Sitzung versäumt hatten, und als Gedächtnisstütze, sie lagen für alle Teilnehmer einsehbar im Institut aus und wurden in der jeweiligen Folgesitzung verlesen, was inklusive der Diskussion darüber oft einen Großteil der Sitzungen beanspruchte. Zum anderen sind Protokolle zu einigen Seminaren erkennbar in Adornos Arbeit eingeflossen, am deutlichsten lässt sich das an den Protokollen zu einem Hegel-Seminar zeigen, die Adorno im Zusammenhang mit seiner Arbeit an den »Drei Studien zu Hegel« zur weiteren Bearbeitung hat abtippen lassen. Man sollte diese Bedeutung aber nicht überbewerten, es gibt auch zahlreiche Protokolle zu Seminaren, die in keinerlei Zusammenhang mit Adornos übriger Arbeit standen. Besonders auffallend ist diese Diskrepanz bei Max Weber: Es gibt von Adorno, von einem Vortrag abgesehen, kaum Äußerungen zu Weber, jedoch sind Protokolle zu vier Seminaren über Weber erhalten, darunter ein zweisemestriges, in denen Adorno sich in einer Intensität mit Weber beschäftigt hat, die ihn offenbar selbst überraschte. Als Marcuse seinen eigenen Aufsatz über Weber Adorno zuschickte, hat dieser ihm begeistert geantwortet, Marcuses Überlegungen stimmten auf erstaunliche Weise mit Überlegungen während seines eigenen Weber-Seminars überein, und angeboten, ihm die Sitzungsprotokolle zuzuschicken. Es gibt auch Protokolle über ein Seminar Schellings »Weltalter«, vielleicht ist das durch Habermas angeregt worden, der ja über Schelling promoviert hat.
Lässt sich Genaueres über die späteren Lebenswege der Protokollanten sagen?
Etwa 20 Prozent von ihnen haben später akademische Karrieren gemacht – was ein ungewöhnlich hoher Anteil ist –, andere haben später außerhalb der Universität etwa als Berufssoziologen gearbeitet. Systematische Erhebungen darüber, welchen beruflichen Werdegang die Protokollanten später einschlugen, habe ich bisher nicht angestellt, weil es zunächst darum geht, bei ihnen die Rechte für die Herausgabe der Protokolle einzuholen. Denn die alleinigen Rechte liegen bei den Verfassern. Vielleicht muss das überhaupt noch einmal betont werden: Mein Projekt befasst sich nicht mit ­einem bisher unbekannten Teil von Adornos Nachlass, sondern mit Texten, die im Zusammenhang mit Adornos Lehrtätigkeit entstanden sind und die Hunderte teils heute völlig unbekannte Verfasser haben. Es gibt allenfalls eine schwache Autorisierung Adornos dadurch, dass die Protokolle als Arbeiten innerhalb seiner Seminare entstanden und teilweise von Adorno benotet worden sind, doch es handelt sich nicht um einen Teil von Adornos Werk. Andere, zeitgeschichtlich interessante Fragen wie die, ob der Anteil von Frauen unter den Protokollanten im Vergleich zur Anzahl von Frauen unter den Seminarteilnehmern höher oder geringer ausfällt, oder wie sich das Geschlechterverhältnis in den Seminaren zum übrigen geistes- und sozialwissenschaftlichen Lehrbetrieb jener Zeit verhält, kann ich nicht beantworten, denn dazu müsste ich neben den Protokollen die Teilnehmerlisten einsehen, was durch datenschutzrechtliche Bestimmungen verhindert wird. Außerdem sind das eher Fragen, die sich im Anschluss an meine Arbeit eröffnen, sie aber nicht unmittelbar betreffen.
Die Herausgabe von Adornos Vorlesungen in den vergangenen Jahren ermöglicht bereits einen wesentlich präziseren Einblick in den Zusammenhang zwischen seiner Lehrtätigkeit und seiner theoretischen Arbeit. Die Protokolle bieten nun einen fast wochengenauen Überblick über seine Lehre. Wird dadurch das Bekannte einfach noch einmal bestätigt, oder erschließen die Protokolle auch andere Arbeitsbereiche Adornos?
Ein wichtiges Ziel der Herausgabe der Protokolle ist die genaue Rekonstruktion des Arbeitszusammenhangs, in dem Adornos Texte entstanden sind – auch, um der Ansicht entgegenzuarbeiten, es handle sich bei seinen Schriften um einsame Schöpfungen außerhalb pragmatischer Entstehungskontexte. Auf der anderen Seite gibt es weiterhin Lücken. Zu einem Seminar über die Soziologie des Lachens etwa, über das Genaueres zu erfahren gewiss interessant wäre, um den Zusammenhängen zu Adornos Kunsttheorie nachzugehen, gibt es keine Protokolle. Für das Fehlen von Protokollen kann es verschiedene Gründe geben: Manche mögen einfach verschwunden sein, viele wurden sicher auch von Studenten entwendet, weil sie sich hervorragend zur Vorbereitung von Prüfungen eigneten.
Wie stellt sich das Klischee von der vermeintlichen Praxisfeindlichkeit kritischer Theorie angesichts der Seminarprotokolle dar?
Viele soziologische Seminare Adornos waren direkte Vorarbeiten zu praktischer Arbeit, etwa wurden Pläne dafür entworfen, welche Fragen welchen Zielgruppen im Rahmen empirischer Erhebungen gestellt werden sollten. Adorno hat hier auch manchmal ganz spontane Ideen für empirische Feldforschung entwickelt. Als der Tod Stalins 1953 gemeldet wurde, soll Adorno seine Studenten auf die Zeil, die Frankfurter Haupteinkaufsstraße, geschickt haben, um von den Passanten Stellungnahmen einzuholen. In welchem Maß Adornos theoretische Arbeit auf Empirie, auf konkreter Gegenstands­erfahrung und auf Alltagsbeobachtung beruht, wird oft nicht genug wahrgenommen.
Gerät der Versuch einer derart genauen Dokumentation alltäglicher Seminararbeit nicht auch in Gefahr, einer Historisierung oder Musealisierung der kritischen Theorie zuzuarbeiten?
Davor habe ich aus verschiedenen Gründen gar keine Angst. Zum einen versuche ich immer – und auch bei dieser Arbeit –, die Texte der kritischen Theorie als gegenwartsbezogene zu behandeln, als Texte also, die Aussagen über die unmittelbare Gegenwart machen, und nicht einfach nur als historische Dokumente. Zum anderen finde ich es wiederum durchaus hilfreich, wenn sich dabei herausstellt, dass sie Zeugnisse einer Zeit sind, die unwiderruflich vergangen ist. Die Hoffnung, durch kritische Theorie denkend in die gegenwärtige Gesellschaft einzugreifen, aus der heraus heute viele Linke sich die Zeiten des alten Instituts für So­zialforschung zurückwünschen, war ja schon zur Zeit Adornos und Horkheimers prekär. Dass bei vielen Linken das alte Institut für Sozialforschung zu einer Art theoretischer Keimzelle für die Entwicklung richtiger Praxis überhöht und dieser vermeintlich besseren Zeit hinterhergetrauert wird, ist insofern schon historisch falsch. Wenn eine solche editorische Arbeit dazu beiträgt, das Bewusstsein dafür zu schärfen, in welchem Maß sich der heutige Seminarbetrieb an den Universitäten vom damaligen unterscheidet, und wie vieles Schlechte sich umgekehrt seither erhalten hat, mag das die Frustration heutiger Akademiker verstärken, es fördert aber vielleicht auch einen historischen Realismus, der gerade vielen Linken vollständig abgeht. In diesem Sinne ist eine Histo­risierung kritischer Theorie, als Schärfung des Bewusstseins für die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen dem damaligen und dem heutigen gesellschaftlichen Leben, sogar wünschenswert.