Myanmar ist ein Land im Umbruch, doch es gibt noch politische Gefangene

Myanmars langer Weg zur Normalität

Seit der »Safran-Revolution« 2007 und dem politischen Wandel 2011 befindet sich Myanmar politisch und gesellschaftlich im Umbruch. In diesem Jahr sollen erstmals freie Wahlen stattfinden, doch viele bleiben skeptisch. Oppositionelle, die lange im Gefängnis saßen, erzählen von ihren Erfahrungen und Erwartungen.

Auf der Straße laufen etwa 30 kleine Mädchen in ihren rosafarbenen Roben im Gänsemarsch hintereinander her. Die Köpfe kahl rasiert, wie bei allen buddhistischen Nonnen, und fein säuberlich aufgereiht, von groß nach klein, schlendern sie einem offenen Kastenwagen hinterher, von dem aus einer großen Musikbox buddhistische Gesänge erklingen. In der einen Hand halten sie eine große Schale, in der anderen einen roten Schirm, um sich vor der heißen Sonne zu schützen.
Es ist zehn Uhr morgens und die ausgedrückten Zigaretten im Aschenbecher haben sich bereits zu einem kleinen Hügel aufgetürmt, als die Mädchen am Büro der AAPP vorbeilaufen, die Spenden aus der Nachbarschaft in ihren Schalen verstauen und dabei singen. AAPP steht für Assistance Association for Political Prisoners – Hilfsvereinigung für politische Gefangene. Viele der Anwesenden, die auf der Terrasse vor dem Büro sitzen, rauchen.
»Solange es in Burma politische Gefangene gibt, kann es keine nationale Versöhnung geben«, steht auf einem großen Banner über dem Büroeingang im Stadtteil Tamwe in Yangon. Alle ehemaligen Häftlinge nennen das Land Burma und nicht Myanmar, wie die Militärgeneräle vor 25 Jahren das Land umgetauft haben und es heute offiziell heißt. Es ist aber nicht der Name, an dem sie sich stören, sondern der illegitime Akt der Umbennung. Es ist ein Zeichen der Missbilligung der neuen, alten Regierung, die allen anwesenden Männern auf der Terrasse viele Jahre ihres Lebens geraubt hat.
»1999 bin ich aus Angst vor einer weiteren Inhaftierung nach Thailand geflohen. Dort habe ich mit ehemaligen politischen Gefangenen gesprochen, was wir tun können«, sagt Bo Kyi, ein kleiner, unscheinbarer Mann, mit sanftem Händedruck. »Wir haben dann die Hilfsvereinigung für politische Gefangene gegründet und uns an die internationale Gemeinschaft gewandt, um Druck auf die burmesische Regierung auszuüben, alle politischen Häftlinge zu entlassen.«
Am 23. März 2000 gründete Bo Kyi gemeinsam mit zwei Freunden die AAPP im nordthailändischen Mae Sot, einer Kleinstadt unweit der burmesischen Grenze. Die vorangegangene Dekade hatte er fast durchgehend in burmesischen Gefängnissen verbracht, bevor ihm die Flucht gelang. Hier leben viele Exilburmesen, die vor dem repressiven Militärregime geflohen sind.

»Ich war in meinem letzten Studienjahr an der Universität von Yangon und hatte mich bei der 8888-Uprising-Bewegung engagiert«, sagt Bo Kyi; so wurden die friedlichen Demonstrationen genannt, die am 8. August 1988 begannen. Nach einem Vierteljahrhundert auf dem »birmanischen Weg zum Sozialismus«, unter dessen Prämisse der damalige Staatschef, Ne Win, Burma komplett isolierte, die Wirtschaft verstaatlichte und schon kleinste Proteste im Keim erstickte, war im Sommer 1988 die Demokratie zum Greifen nahe. Doch nur einen Monat nach Beginn des friedlichen Volksaufstandes in Yangon, der sich innerhalb weniger Tage auf das ganze Land ausweitete, wurden die Demonstrationen vom Militär blutig niedergeschlagen. Schon die Teilnahme am Protest war Grund genug, verhaftet zu werden. Die Festnahmen waren willkürlich – eine Machtdemonstration des Militärs, das während der Demonstrationen auch in die Menge schoss. Menschenrechtsgruppen zufolge starben während des Aufstandes rund 3 000 Menschen. Im Anschluss verhängte General Saw Maung das Kriegsrecht und das Militär übernahm die Macht.
Bo Kyi wurde im März des darauf folgenden Jahres nach einem Studententreffen verhaftet. Er habe gegen das Versammlungsrecht verstoßen, das jegliche Versammlung von mehr als vier Personen unter Strafe stellt. »Nein, dass ich verhaftet wurde, war kein Pech, sondern Glück. Ich bin nicht während der Demonstration gestorben. Einige meiner Freunde sind damals gestorben«, erzählt Bo Kyi mit einem sarkastischen Grinsen auf dem Gesicht. Zweimal wurde er in den neunziger Jahren verurteilt. Über sieben Jahre saß er in verschiedenen Gefängnissen.
Es dauert nicht lange, bis man merkt, dass die Inhaftierungen bei ihm Spuren hinterlassen haben. Mehrfach während des Gespräches zuckt sein rechter Arm, während er gleichzeitig die Hand zur Faust ballt und ungelenk mit dem Oberkörper nach vorne zuckt. Alle politischen Gefangenen wurden während ihrer Inhaftierung vor allem psychisch, aber auch physisch gefoltert. »Das Gefängnis zermürbt dich. Wir waren in winzigen Zellen täglich 23 Stunden und 40 Minuten eingesperrt. Wir durften nicht lesen und nicht lernen. Das burmesische Militär hat nicht meinen Körper getötet, sie haben versucht meinen Verstand zu töten«, erzählt Bo Kyi. Immer wenn er es schaffte, ein Blatt Papier oder ein Taschentuch in seine Zelle zu schmuggeln, schrieb er. Lange Sätze, kurze Sätze, fiktive Artikel – auf Burmesisch und auf Englisch, damit er es nicht vergisst. Er las seine Texte so oft, bis er sie auswendig konnte, dann aß er das Papier, damit die Aufseher es nicht fanden. Er habe viel Papier gegessen, erzählt Bo Kyi, bevor sich sein Körper ein weiteres Mal kurz verkrampft.
»Die Regierung lügt. Der Präsident hat in seiner Rede gelogen«, sagt Bo Bo, während er gemeinsam mit einer Handvoll ehemaliger Häftlinge auf der Terrasse des AAPP-Büros sitzt. Entgegen seines Versprechens hat Präsident Thein Sein Ende 2013 nicht alle politischen Gefangenen entlassen. Jeden Monat veröffentlicht die AAPP die aktuellen Zahlen aller Inhaftierten und Angeklagten auf ihrer Homepage. Mehr als 80 politische Häftlinge sitzen derzeit in burmesischen Gefängnissen. Das sind 50 neue Häftlinge im Jahr 2014, einer Zeit, in der es laut Regierungserklärung keinen einzigen politischen Gefangenen mehr geben sollte. Hinzu kommen etwa 100 weitere politische Aktivisten, die auf ihr Urteil warten.

Bo Bo trägt ein beigefarbenes Hemd, einen schwarz-rot karierten longyi, den landestypischen Wickelrock, und kaut Betelnuss, die man hier an jeder Straßenecke für ein paar Cent kaufen kann. Die kleingehackte Nuss kann als sanfte Volksdroge bezeichnet werden. Sie wird in Betelblättern eingewickelt, die mit gelöschtem Kalk bestrichen und je nach Vorliebe verschieden gewürzt werden. Die Wirkung ist ein allgemeines Wohlbefinden, eine Rötung der Zähne und erhöhter Speichelfluss, wie man es an den roten Spuckresten auf den Straßen Yangons sehen kann. Bo Bo lacht viel, während sich die Männer unterhalten. Und wenn er lacht, sieht man seine dunkelroten Zähne.
»Nachdem Aung San Suu Kyi 1991 den Friedensnobelpreis gewonnen hatte, gingen wir auf die Straße und forderten, sie und alle anderen politischen Gefangenen freizulassen. Im Anschluss wurde ich verhaftet und zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt«, erzählt Bo Bo, der eigentlich Aung Myint Kyaw heißt. Der 43jährige saß nach seiner Verurteilung durch ein Militärgericht zweieinhalb Jahre im Insein-Gefängnis in Yangon, bevor er nach Myingyan in Zentral-Burma verlegt wurde, wo er sechs weitere Jahre einsaß. 1999 wurde er vorzeitig entlassen. Ob er als ehemaliger Studentensprecher auf einer Liste des Militärgeheimdienstes stand, weiß Bo Bo nicht, aber er vermutet es. Knapp drei Jahre nach seiner Entlassung wurde er – diesmal unter dem Vorwand des illegalen Holzbesitzes – erneut verhaftet, tagelang verhört und schließlich zu zwei weiteren Jahren Haft verurteilt.
Nach der Entlassung folgte der schwere Schritt zurück in die Gesellschaft. Das wichtigste war es, schnell einen Job zu finden. Aber wie fast alle ehemaligen Häftlinge hatte auch Bo Bo nach über einem Jahrzehnt im Gefängnis auf dem Arbeitsmarkt keine Chance mehr. »Von den zwölf oder 13 Unternehmen, bei denen ich mich um einen Job beworben hatte, hat sich nach dem Vorstellungsgespräch kein einziges bei mir zurückgemeldet, weil ich ein ehemaliger politischer Gefangener war. Sie hatten einfach zu große Angst«, sagt Bo Bo über seine ersten Versuche, Arbeit zu finden, um seine Familie versorgen zu können. Kein Unternehmen möchte in irgendeiner Form mit ehemaligen politischen Gefangenen in Verbindung gebracht werden. Ein weiteres Problem liegt darin, dass viele der ehemaligen Häftlinge während ihres Studiums inhaftiert wurden und dieses nicht zu Ende bringen können. Ohne Abschluss findet man in Myanmar nur schwer eine Anstellung.
Bo Bo fuhr für einen Freund Taxi. Er habe sich während seiner Gefangenschaft nicht radikalisiert, sondern sei bis heute stets seinen Prinzipien und Idealen treu geblieben. Eine demokratische Gesellschaft wünsche er sich. Dafür steht er und dafür ist er ins Gefängnis gegangen. Seine politischen Überzeugungen brachten ihn immer wieder in Konflikt mit der Regierung. Keine zwei Jahre später drohte bereits die nächste Verhaftung. Bo Bo musste seinen Job als Taxifahrer wieder aufgeben. »2007 habe ich an der Revolution teilgenommen. Viele meiner Freunde und Kameraden wurden verhaftet. Ich bin geflohen, habe mich über ein Jahr lang außerhalb Yangons versteckt und bin schließlich 2008 nach Thailand gegangen.«

Im August 2007 zog es zuerst die Mönche und Nonnen der buddhistischen Klöster auf die Straßen Ranguns. Studenten und politische Aktivisten folgten wenige Tage später. Der Auslöser für die Proteste waren die exorbitante Benzin- und Gaspreiserhöhung durch die Militärjunta. Der eigentliche Grund war das repressive Regime. Die Bevölkerung wollte sich nicht länger von der Junta unterdrücken lassen. Die Proteste erlangten internationale Aufmerksamkeit. Der Widerstand, der wegen der dunkelroten Roben der Mönche als »Safran Revolution« bezeichnet wurde und wie die vorherigen Protestwellen das ganze Land erfasste, wurde vom Militär brutal niedergeschlagen. Wie viele Demonstranten dabei starben, ist bis heute nicht geklärt. Hunderte Teilnehmer wurden verhaftet. Bo Bo gelang die Flucht ins thailändische Mae Sot, wo er für die von Exilburmesen gegründete Nachrichtenagenturen Burma Vision Network und Democratic Voice of Burma arbeitete.
Dann kam der plötzliche Wandel im April 2011. Myanmar öffnete sich, die Militärjunta gab sich einen zivilen Anstrich. Gewerkschaften wurden genehmigt, die Pressezensur wurde gelockert, langjährige Sanktionen wurden aufgehoben, internationale Unternehmen siedelten sich Schritt für Schritt wieder an und Präsident Thein Sein begnadigte hunderte politische Häftlinge. An das Datum ihrer Entlassung können sich alle ehemaligen politischen Gefangenen erinnern, als sei es ihr Geburtsdatum. So auch Shell, der mit Bo Bo 2007 gemeinsam an der Safran Revolution teilgenommen hatte.
Am 13. Januar 2012 wurden etwa 300 politische Gefangene während einer Ansprache des Präsidenten im staatlichen Radio begnadigt. »Ich war einer von ihnen«, sagt Shell, während er mit seinem Taxi durch Yangon fährt. Wäre er nicht begnadigt worden, hätte er bis 2019 im Gefängnis sitzen müssen. Nach seiner vorzeitigen Entlassung stand er vor den gleichen Problemen wie Bo Bo und alle anderen ehemaligen Häftlinge. »Einigen fällt es zwar leichter, aber für die meisten der ehemaligen Häftlinge ist es sehr schwer, sich in der Gesellschaft wieder zurechtzufinden. Deshalb haben wir ein Beratungsprogramm ins Leben gerufen. Wir helfen bei psychischen Problemen und unterstützen Betroffene bei der Jobsuche. 2014 haben wir 30 ehemaligen Häftlingen einen Job vermittelt. Das macht sie sehr stolz. Arbeit bedeutet Würde. Und sie wollen ihre Würde zurück haben«, sagt Bo Kyi. Während der Fahrt durch Yangon spürt man, dass auch Shell stolz auf seinen Job ist. Mit der Unterstützung der Hilfsvereinigung für politische Gefangene hat er mit Bo Bo und einem gemeinsamen Freund die Firma »Golden Harp Taxi Services« gegründet. Seit 2012 kann man sie für Taxifahrten durch die Hauptstadt buchen.
»Nach dem Politikwechsel haben sich hier im März 2012 viele ehemalige Studenten, Häftlinge, Mitglieder der 88er-Bewegung und viele andere Aktivisten versammelt, um der toten Demonstranten zu gedenken. Nächstes Jahr im März werden wir uns hier wieder alle treffen, um ihnen Respekt zu zollen«, erklärt Shell, als er am West­ufer des Inya Lakes steht. Hier eskalierte die Situation bei den Demonstrationen im August 1988. Shell raucht eine Zigarette nach der anderen, während er die damalige Situation beschreibt. Am nördlichen Ende der Pyay Road stand das Militär, am südlichen die Polizei. Im Osten liegt der Inya Lake. »Die meisten Teilnehmer versuchten, westlich durch die engen Gassen der Stadtteile Hlaing und Kamayut zu fliehen, andere sprangen in den See, um einer Verhaftung zu entgehen und aus Angst davor, von einer Kugel getroffen zu werden«, erinnert sich Shell. Wenig später geht die Fahrt weiter Richtung Downtown, zur bekannten Shwedagon-Pagode und der weiter südlich gelegenen Sule-Pagode. Shell zeigt die wichtigsten Schauplätze der Demonstrationen, erklärt dazu die jüngere Zeitgeschichte, von der 88-Bewegung bis zur »Safran Revolution«.
»Golden Harp« hat es geschafft, sich einen festen Kundenstamm aufzubauen, unter ihnen viele NGOs und internationale Unternehmen. Touristen fahren sie inzwischen seltener. Gleichzeitig sind sie Mikrokreditgeber und arbeiten mit der AAPP zusammen, um ehemaligen politischen Gefangenen nach ihrer Entlassung den Einstieg in den Alltag zu erleichtern. »Wir sparen jeden Monat Geld, manchmal bekommen wir von Kunden auch Spenden. Wenn wir 500 000 Kyat (500 Dollar, Anm. d. Red.) gespart haben, können wir sie einem ehemaligen politischen Gefangenen geben, der auch fahren möchte. Dann kann er sich ein Taxi mieten und hat ein Jahr lang Zeit, das geliehene Geld wieder zurückzuzahlen«, erklärt Bo Bo das Kreditsystem von »Golden Harp«. Acht ehemalige Häftlinge haben seit der Gründung ihres Kleinunternehmens die Hilfe in Anspruch genommen und fahren jetzt Taxi in Rangun. Andere haben mit dem Mikrokredit ein kleines Geschäft eröffnet.

2015 soll es in Myanmar erstmals seit Jahrzehnten wieder freie Wahlen geben, doch erst vor wenigen Tagen wurde die Wahl erneut verschoben. Ein festes Datum gibt es für den Urnengang bisher nicht. Um die Wahlen frei und fair gestalten zu können, müsste außerdem die Verfassung geändert werden. Noch stehen dem Militär 25 Prozent der Sitze im Parlament zu und nur die restlichen 75 Prozent stehen überhaupt zur Wahl. Bo Bo begrüßt den Wandel Myanmars, hält sich mit seiner Freude aber bedeckt. Er glaubt erst an freie Wahlen, wenn er seinen Zettel in die Wahlurne wirft: »Wir sind auf dem Weg zur Demokratie, aber Burma muss sich weiter wandeln. Die Regierung hat ihre Kleidung geändert, aber nicht ihre Denkweise.« Auch Bo Kyi bezeichnet die politische Lage in Myanmar als entspannter als noch vor wenigen Jahren und betont zugleich, dass es noch viel zu tun gebe: »Um die Menschenrechtssituation zu verbessern, müssen die politischen Häftlinge frei gelassen werden. Wenn sich die Menschenrechtslage nicht verbessert, werden wir niemals Frieden und Stabilität bekommen. Und ohne Frieden und Stabilität gibt es keinen Fortschritt.«