Antisemitismus in Europa 70 Jahre nach Auschwitz

Das antisemitische Helfersyndrom

Die Juden und Europa 70 Jahre nach der Befreiung des KZ Auschwitz.

Die einzige Schlagzeile, die der bevorstehende 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz durch sowjetische Soldaten am 27. Januar 1945 aktuell hervorbringt, ist die Absage Wladimir Putins für die Veranstaltung in der Gedenkstätte. Immerhin ein Hinweis darauf, dass solche Jahrestage noch zu politischen Gesten taugen. Feierlich soll es zugehen an diesem 70. Jahrestag, an dem noch einmal über 100 Überlebende die Gedenkstätte besuchen werden, und salbungsvoll wird Verantwortung beschworen werden.
»Feierliche Erklärung« heißt auch der Sermon, den der Präsident des Europaparlaments Martin Schulz von sich gegeben hat: »Auschwitz war nicht der einzige, aber der zentrale Ort des organisierten Massenmordes des schlimmsten Zivili­sationsbruchs der Menschheitsgeschichte. ›Dieser Ort sei allezeit ein Aufschrei der Verzweiflung und Mahnung an die Menschheit‹, so steht es auf der Erinnerungstafel im Konzentrationslager geschrieben. Und das soll Auschwitz uns für immer sein: ›ein Aufschrei der Verzweiflung und der Mahnung‹. Die persönliche Schuld mögen die Täter mit ins Grab genommen haben. Aber die Verantwortung, die aus den Gräueltaten erwächst, ist eine gemeinsame Verantwortung der Völkergemeinschaft und sicherlich eine ganz besondere Verantwortung meines Volkes, der Deutschen.«

Der schlimmste Zivilisationsbruch begeht organisierten Massenmord und dennoch nehmen Täter persönliche Schuld, aber nicht Verantwortung mit ins Grab. Die Verantwortung trägt auch nicht die Volks-, sondern die Völkergemeinschaft, und eine ganz besondere die Deutschen; die gedrehte Achse des Satzes dient nur der Möglichkeit, »mein Volk« sagen zu können. Hier ist der Jargon des Gedenkens der letzten 30 Jahre in wenigen Sätzen so verdichtet, dass das Gesagte kaum noch einen Sinn ergibt, aber dennoch alle verstehen, was gemeint ist.
Doch leider sind die salbungsvollen Worte samt ihres verdrucksten Stolzes auf die ganz besondere deutsche Verantwortung nicht genug. »Wenn heute, 70 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz, Juden in Europa wieder um ihre Sicherheit fürchten und um ihr Leben bangen, dann muss uns das verstören und wachrütteln«, sagte Schulz vor dem Europäischen Parlament. Und was passiert dann, wenn die europäische Völkergemeinschaft endlich wach ist? »Jetzt müssen wir gegen die Angst zusammen stehen, uns nicht anstecken lassen von dem Hass etwa der Attentäter von Paris, nicht dem Hass mit noch mehr Hass begegnen, nicht auf Gewalt mit noch mehr Gewalt antworten, sondern ein wachsendes Misstrauen bekämpfen, die Freiheit aller verteidigen und die Würde eines jeden Menschen beschützen.« Wie von selbst formuliert der Präsident des Europäischen Parlaments das Programm des Appeasements. Die Botschaft lautet weder, die Todfeinde der Freiheit und der Juden unnachgiebig zu bekämpfen, noch die massenmörderische Ideologie zu verurteilen und ihr entgegenzutreten, stattdessen sollen wir »gegen die Angst zusammen stehen«: Pfeifen im Walde klingt wirkungsvoller.

Die feierlichen Worte verstellen den Blick auf die Wirklichkeit Europas, wo in Frankreich und Großbritannien die Juden auf gepackten Koffern sitzen, weil sozialdemokratische Regierungen im Zuge der Abschaffung staatlicher Transferleistungen auch die Rechtsgarantien für ihre Bürger zugunsten einer Selbstverwaltung von »communities« eingeschränkt und diese sich selbst überlassen haben. Es geht ja nicht zufällig wieder gegen den Juden, denn das ist der Feind beziehungsweise der Fremde, der das gemeinsame Dritte vertritt, auf das sich islamisierte Migranten und antirassistische Europäer auch ohne Worte verständigen können. In der Jungle World (3/15) wurde berichtet, dass es in den Tagen nach dem 7. Januar 2015 in Frankreich mehr als 50 Angriffe auf islamische Einrichtungen gegeben hat – allerdings ohne zu erwähnen, dass diese Zahl seit dem Sommer 2014 der wöchentliche Durchschnitt von antisemitischen Straftaten ist, begangen von zumeist islamisierten jungen Leuten. Im selben Artikel ist abermals auch von einem »jüdischen Supermarkt« die Rede und wird die allgegenwärtige Legende einer Geiselnahme weitergetragen, ohne zu sagen, was bekannt ist: dass der Attentäter vier Juden gleich zu Beginn ermordete und ankündigte, dass niemand über­leben werde. Es war diese Art der Berichterstattung in den französischen Medien von links bis rechts, die dazu beigetragen hat, die jüdischen Opfer und damit die antisemitische Motivation der Taten von Paris unsichtbar zu machen. Ganz im europäischen Interesse.
Die feierlichen Worte sind also nicht als hilf­lose Geste angesichts eines übermächtigen Feindes zu verstehen, sondern als Geste der Einladung an den Feind, den man sich übermächtig wünscht, um die eigene Untätigkeit begründen und die noch heimliche Sympathie überspielen zu können, die sich aufgrund der »historischen Verantwortung« bislang verbat: Der Versuch der französischen Regierung, die Teilnahme des is­raelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netan­yahu am rassemblement républicain am 11. Januar in Paris zu verhindern, entsprach dem neuen Verständnis dieser selbstauferlegten Verpflichtung, wie es sich spätestens seit der konzertierten antisemitischen Kampagne im Sommer vergangenen Jahres abgezeichnet hat. Es geht nicht mehr um den politischen Mehrwert, den die politischen Klassen Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens aus der Bekämpfung eines neuen Auschwitz’ irgendwo in der Welt ziehen wollen. Jene Verantwortung wird vielmehr heute verstanden als Verantwortung für das Judentum als Kultur, die gegen die Politisierung durch den Staat Israel und die Zionisten geschützt werden muss – nicht vor dem mörderischen Antisemitismus islamistischer Banden.

Als der französische Premierminister Manuel Valls eine dem Text nach konventionelle Rede hielt, die an die Wortwahl Schulz’ erinnert, diese jedoch in einem Ton der Empörung vortrug und stehende Ovationen aus allen Fraktionen der Nationalversammlung bekommen hat, wurde dieser Unterton deutlich: Es sei unerträglich, wenn Juden heute wieder um ihr Leben fürchten müssten, 70 Jahre nach Deportationen und Vernichtung; »wahrscheinlich haben wir uns nicht genug empört, haben wir nicht hart genug auf den neuen Antisemitismus reagiert, der in Frankreich entstanden ist«, um dann zu erklären: »Einer meiner engsten Freunde ist gläubiger Moslem, er hat mir mit Tränen in den Augen gesagt, dass er sich schämt für die Morde, die im Namen des Islam begangen wurden.« Er wolle weder, dass Muslime sich schämen noch dass Juden Angst haben müssen. Diese Parallelisierung, als bestünde nicht ein fundamentaler Unterschied zwischen der Angst französischer Juden um das eigene Leben und der Scham einiger Muslime, die nur allzu sehr an die deutsche erinnert und die zu empfinden ja nicht nur einen Makel darstellt, ist das Kennzeichen der Kulturalisierung des Antisemitismus.
Sowohl Schulz als auch Valls aber sprechen eine Verbindung an, die bislang kaum benannt wurde und die, auch wenn sie lediglich als rhe­torische Figur gemeint sein dürfte, ein Hinweis auf die Realität ist, die sich nicht einmal mehr aus wohlfeilen Politikerreden heraushalten lässt: Mit dem Verweis auf Auschwitz, auf den nationalsozialistischen Antisemitismus, geben sie zu, dass der gegenwärtige Antisemitismus einer sans phrase ist. Juden werden ermordet, um Juden zu ermorden. Die politischen Rationalisierungen sind nicht mehr nötig, um den Judenmord zu begründen. Allerdings sind die europäischen Gesellschaften umso mehr gefordert, in der Konfrontation mit der islamistischen Version der Strategie der Spannung – mit der italienische Radikalfaschisten in den sechziger und siebziger Jahren den autoritären Staat herbeibomben wollten – der Wiederkehr des Judenhasses einen Sinn zu verleihen.
Die Einordnung des Judentums als Kultur, die deutschen Linken schon in den achtziger Jahren die scheinbar vorbehaltlose Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit und die politische Rationalisierung ihres Antisemitismus als Antizionismus erlaubte und die die Grundlage für die heutige europäische Erinnerungskultur lieferte, ermöglicht jene Sinngebung.
Unterdessen aber ist aus dem »hilflosen Antisemitismus«, den Eike Geisel noch 1993 verspotten konnte, weil Norman Paech und Konsorten damals noch nicht auf der »Marvi Marmara« schipperten, ein antisemitisches Helfersyndrom für Jihadisten geworden. Begriffe wie Respekt, Toleranz und gegenseitige Anerkennung dienen dazu, sowohl das Judentum als auch den Antisemitismus zu kulturellen Eigenschaften zu erklären, zu denen der postmoderne Europäer in eleganter Äquidistanz steht. So kann er sich dann zum Mahner und Warner erheben, der Antisemitismus und »Islamophobie« in einem Atemzug verurteilt. Doch das funktioniert nur, solange es Juden in Europa gibt, weswegen Netanyahus Bemerkung, die französischen Juden seien in Israel willkommen, einen solchen Skandal in Frankreich auslösen konnte.
Heute braucht Europa die Juden: Sie sind Geiseln der Erinnerung.