Vertragspoesie

Die Bildungsdebatte ist neu entfacht oder losgetreten von einer Schülerin namens Naina, die einen bildungspolitischen Nerv getroffen und den Finger in die pädagogisch-didaktische Wunde gelegt hat. Und jetzt liegt er natürlich wieder blank, der Nerv, und deswegen müssen alle, aber wirklich alle, irgendwas dazu schreiben. Schließlich ist Januar und sonst nichts los, die Charlie Hebdo-Sau liegt halb totgejagt am Ortsausgang und tut ihr letztes Schnauferl und die Zeitungen machen sich halt nicht von alleine voll. Nicht mal diese hier, also nehme auch ich das Hirtenstöcklein und treibe das Bildungsschweinderl durchs Dorf: Naina schrieb letztens einen Tweet, in dem sie beklagte, dass sie wohl Gedichtanalysen schreiben könne, in vier verschiedenen Sprachen gar, aber nichts wisse über Steuern, Miete und Versicherungen. Vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen als für unter anderem Gedichtanalysen zuständige Lehrerin an einem Berliner Gymnasium bin ich geneigt, ersteres für eine glatte Lüge zu halten, aber vielleicht besucht die junge Dame ja tatsächlich ein crazy Elitegymnasium, auf dem zumindest sie erfolgreich und vielsprachig sinnvolle Texte zu Gedichten verfasst, anstatt sich darauf zu konzentrieren, die jeweilige Anzahl von Zeilen, Strophen und Reimen zu ermitteln und diese dann zur Begründung von etwas, das frohgemut als »eigene Meinung« deklariert wird, heranzuziehen: »Ich finde das Gedicht gut, denn es hat 28 Zeilen und verwendet viele Adjektive, nämlich 17. Es gibt vier Kreuz- und zwei Paarreime, dadurch lässt es sich viel besser lesen und reimt sich, das finde ich auch gut.« Ich bitte meine Schülerinnen und Schüler inzwischen darum, zunächst zu prüfen, ob sie überhaupt eine Meinung zu dem infrage stehenden Gedicht haben und, falls nicht, einfach keine aufzuschreiben.
Und was ist jetzt mit Steuern, Miete und Versicherungen? Müssen wir sie nicht vorbereiten, die armen Kleinen, sollten wir sie nicht stählen gegen diese Unbill? Ich gebe zu bedenken, dass Schüler, allem äußeren Anschein zum Trotz, auch nur Menschen sind. Weil das so ist, gibt es sicherlich ein paar irre Freaks unter ihnen, die sich nichts Besseres vorstellen können, als sich am Samstagabend bei einem schönen kalten Glas Cola gegenseitig Mietverträge vorzulesen. Die Mehrheit von ihnen allerdings wird die Beschäftigung mit diesen Dingen zum exakt selben Zeitpunkt vornehmen wollen wie ich und du und Müllers Kuh: dem letztmöglichen. Das Leben ist kein Wunschkonzert? Stimmt, aber das hier ist nicht das Leben, das hier ist Schule. Zum Glück, wenn der Höhepunkt des echten Lebens dieser Tage die fristgerechte Abgabe der Steuererklärung ist. Und abgesehen davon: Wer gekonnt seinen Stefan George entschwurbeln kann, für den kann so ein Mietvertrag doch wirklich kein Problem mehr sein.