Die reaktionären Tendenzen der griechischen Regierung

Das kann noch nicht alles sein

Syriza zuzujubeln und die reaktionären Tendenzen in der neuen griechischen Regierung zu ignorieren, ist ein verhängnisvoller Fehler.

In der deutschen Linken und der Linkspartei spricht man nicht gern darüber und auch bei Syriza macht man wenig Aufhebens davon, dass ein nicht ganz unbedeutender westlicher Politiker die Abkehr von der Austeritätspolitik unterstützt. »Sie können Länder, die sich mitten in einer Depression befinden, nicht immer weiter ausquetschen«, sagte US-Präsident Barack Obama. Vielmehr bedürfe es einer Wachtumsstrategie.
Man kann es angesichts der in der deutschen Debatte vorherrschenden Ignoranz nicht oft genug wiederholen: Außerhalb Deutschlands halten 99 Prozent aller Wirtschaftswissenschaftler sowie sämtliche politisch relevanten Regierungen das Beharren auf der Austeritätspolitik für einen gefährlichen Fehler. Das bedeutet aber natürlich nicht, dass den Lohnabhängigen die Tore zum Paradies geöffnet werden sollen. Vielmehr geht es darum, wenigstens einen Teil der von den Zentralbanken ausgeschütteten Billionen in produktive Investitionen fließen zu lassen, da die nächste Finanzkrise ansonsten nicht allzu lange auf sich warten lassen wird. Das hat etwas mit der Nachfrage zu tun, da irgendjemand das ganze Zeug ja kaufen muss. Am Dogma des Wettbewerbsstaats, dessen Lohnabhängige immer billiger produzieren sollen, halten die Ökonomen aber fest.
Die Position des Mainstreams ist somit einige Lichtjahre näher an der Realität als die deutsche Wirtschaftsesoterik, bleibt aber widersprüchlich. Ob eine mit »Strukturreformen« einhergehende Abkehr von der Austeritätspolitik tatsächlich einen wirtschaftlichen Aufschwung bewirken würde, ist daher fraglich. Aber das kann uns erstmal egal sein. Wenigstens die Radikalität, ein gutes Leben unabhängig vom Aktienindex und der Laune der Bourgeoisie zu fordern, sollte die Linke aufbringen. Alexis Tsipras aber ist ein Sozi. Die Frage ist also nicht, ob er einen schmutzigen Kompromiss akzeptieren wird, sondern wie schmutzig der Kompromiss ausfallen wird.

Die Forderungen von Syriza sind sehr gemäßigt: Erleichterungen beim Schuldendienst, ein Investitionsprogramm sowie die Genehmigung einiger Maßnahmen gegen die extreme Armut. Wer es schon für eine Linkswende hält, wenn die medizinische Versorung wiederhergestellt wird, ist allzu bescheiden geworden. Einmal mehr muss die Linke zwar den Job übernehmen, den bürgerliche Kräfte, denen Erhalt und Veredelung des Humankapitals ja am Herzen liegen sollten, längst hätten erledigen müssen. Daran führt kein Weg vorbei, denn der Bruch mit der Austeritätspolitik ist die Voraussetzung für jeden weiteren Fortschritt. Doch bedarf es keiner Solidarität mit Syriza (an den Auftritten von Yanis Varoufakis kann man sich ja trotzdem erfreuen), sondern nur mit deren Forderungen an die EU. Der Versuch, Deutschland zu erpressen, verdient bedingungslose Unterstützung. Notwendig ist aber auch die Kritik an Nationalismus, Putinismus und allem anderen Reaktionären, das in den Reihen des Linksbündnisses verbraten wird.
Das ist kein Hobby unverbesserlicher Nörgler. Die reaktionären Tendenzen haben gesellschaftspolitische Bedeutung und der Nationalismus ist kein Späßchen, dass Syriza sich aus unerfindlichen Gründen leistet, sondern integraler Bestandteil der griechischen »Volksfront« gegen die Austeritätspolitik. Womit wir bei der anderen Seite des Kompromisses sind: Welche Zugeständnisse wird Tsipras machen?
Syriza hat bereits »Strukturreformen« in Aussicht gestellt, und darauf dürfte es hinauslaufen: Lohnsenkungen, »Flexibilisierung« des Arbeitsmarktes, Verlängerung der Arbeitszeit, Zwang zur Selbstoptimierung für die Verwertung, Privilegien für Investoren und so weiter. Es wird also der Moment kommen, wo Tsipras sagen wird, dass mehr wirklich nicht drin war und die Griechen sich nun, den Gürtel ein wenig enger schnallend, schleunigst an die Arbeit machen sollen, um das Land aufzubauen. Das bereits vor den Wahlen geschlossene Bündnis mit Anel deutet darauf hin, dass Syriza sich genau darauf vorbereitet: »Wir« haben die »nationale Würde« wiedergewonnen und müssen nun Opfer bringen.
Das ist noch das beste zu erwartende Ergebnis, denn Tsipras’ Verhandlungsmacht basiert vor allem auf der Unterstützung des globalen Establishments. Die europäischen Linken werden ihm keine große Hilfe sein, gerade weil die meisten ihm zujubeln. Damit Fortschritte erkämpft werden können, bedarf es neben dem good cop, dem Sozi, der die Gesetze im Parlament durchbringt und im Fall Griechenlands in der EU durchsetzen muss, des bad cop, der deutlich macht, dass das alles eigentlich viel zu wenig ist und es bald wirklich unangenehm wird, wenn nicht einmal das Wenige durchkommt. Das ist der Job der kämpferischen Lohnabhängigen und der Protestbewegungen. Um ihn erledigen zu können, müssen sie Distanz zum Establishment halten, denn sonst kann der good cop nicht auf das Verhängnis hinweisen, das droht, wenn man ihm keine Zugeständnisse macht.

Doch in Deutschland müsste die Abkehr von der Austeritätspolitik nicht nur gegen die Regierung, sondern auch gegen mehr als zwei Drittel der Bevölkerung durchgesetzt werden; sogar 40 Prozent der Wählerinnen und Wähler der Linkspartei sind gegen einen Schuldenerlass für Griechenland. Aber auch in Südeuropa sieht es so blendend nicht aus. Viele Linke etwa in Spanien denken ebenfalls in Richtung »Volksfront« gegen die Austeritätspolitik, es geht gegen Korruption und »die da oben«. Für inhaltliche Debatten war seit Beginn der Finanzkrise genug Zeit, der weitgehend unkritische Jubel für Syriza belegt, dass eine Radikalisierung nicht stattgefunden hat.
Ein griechischer Staatsbankrott hätte derzeit weniger verheerende Auswirkungen auf die EU als vor einigen Jahren und die einflussreichen Befürworter einer Abkehr von der Austeritätspolitik im globalen Establishment scheinen nicht willens zu sein, ernsthaften Druck auszuüben, also Deutschland durch Sanktionen oder andere wirtschaftspolitische Maßnahmen zu einem Kompromiss zu zwingen. Der New Deal, den Tsipras aushandeln kann, wird daher schlechter ausfallen als der Franklin D. Roosevelts, der unter anderem mit einer Stärkung der Gewerkschaften einherging – ein Thema, zu dem Syriza bemerkenswert wenig zu sagen hat. Die Lohnabhängigen werden also weiterhin für die Krise zahlen, wenn auch in kleineren Raten. Vor allem aber wird sich das Verwertungsregime verschärfen, die Griechen und Griechinnen müssen »wettbewerbsfähiger« werden und Investoren besonders günstige Bedingungen gewähren. Dieser Deal dürfte dann ein Modell werden, »Solidarpakt für ein starkes Europa« könnte es heißen.
Aufhalten lässt sich das vermutlich nicht mehr. Die griechische Bevölkerung wird so einen Kompromiss wohl akzeptieren, weil schon geringfügige soziale Verbesserungen eine Erleichterung der Lage bedeuten und die meisten Linken für die Parole vom »nationalen Schulterschluss« empfänglich sind. Dass die radikale Linke sich um elementare Menschenrechte wie das auf soziale Sicherheit – die Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 verpflichtet übrigens alle Staaten auf die »internationale Zusammenarbeit«, um dieses Recht zu gewährleisten – kümmern muss, lässt sich auch nicht so schnell ändern. Aber etwas mehr Unbescheidenheit wäre doch wohl angebracht.

Auch im Hinblick auf die gesellschaftliche Emanzipation. Dass in Tsipras’ Kabinett Frauen nur in geringer Zahl als Vizeministerinnen vertreten sind, ist keine Randnotiz. Im Global Gender Gap Index 2014 belegt Griechenland einen nicht gerade rühmlichen 91. Platz, im Jahr zuvor war es noch Platz 81. Frauen sind in stärkerem Maße von der Krise betroffen und Fragen der Gleichstellung gelten in ökonomisch schwierigen Zeiten mehr denn je als Gedöns. Ist das für die griechische und europäische Linke kein relevantes Thema mehr?
Syriza hat sich bewusst für ein Bündnis mit rechten Milieus entschieden, nicht nur in der Regierung. Bereits im vergangenen Jahr machte Tsipras den Mönchen von Athos seine Aufwartung und versprach, die Privilegien der orthodoxen Kirche nicht anzutasten. Man kann darüber streiten, welche Bedeutung der Putinismus bei Syriza hat, unbestreitbar ist jedoch, dass das vom russischen Präsidenten verkörperte Männlichkeitsbild Antifeministen und Homophobe anspricht, die es auch in der Linken gibt. Und ein Bündnis bindet. In den bevorstehenden harten Auseinandersetzungen kann Syriza schwerlich den gesellschaftpolitischen Kurs wechseln, ohne alles zu riskieren.
Verbesserungen der sozialen Verhältnisse, die nicht einmal den auch unter konservativen Regierungen in den siebziger Jahren üblichen Standard wiederherstellen, zu linker Politik schönzureden und reaktionäre Tendenzen zu ignorieren, ist kein Weg aus der Defensive. Überdies sollte die Linke ausnahmsweise ein wenig Weitblick zeigen und die »Strukturreformen« bereits jetzt kritisieren, statt hinterher über Tsipras’ »Verrat« zu jammern. Damit Politiker fortschrittliche Reformen durchsetzen, muss man ihnen in den Hintern treten, statt ihnen zu Füßen zu liegen. Wenn sie wirklich etwas verändern wollen, wünschen sie sich das sogar. So riet Roose­velt dem Gewerkschafter A. Philip Ran­dolph, der ein Gesetz gegen die rassistischen Diskriminierung in der Industrie forderte: »Sorgen Sie dafür, dass ich es tun muss.«