Die Proteste gegen Gewalt an Frauen in der Türkei

Antifeministische Leitkultur

Nach dem brutalen Mord an der Studentin Özgecan Aslan protestierten in der Türkei Zehntausende gegen frauenfeindliche Gewalt. Die Kritik an herrschenden misogynen Einstellungen und der konservativ-islamischen Politik der Regierung eint verschiedene politische Lager.

Der Mord an der 20jährigen Özgecan Aslan hat in der Türkei eine Welle der Empörung ausgelöst. Seit den Gezi-Protesten im Sommer 2013 gingen nicht mehr so viele Menschen im ganzen Land auf die Straße, Zehntausende demonstrierten an mehreren Tagen. Am 11. Februar verschwand die Psychologiestudentin in Tarsus im Südosten der Türkei. Zuletzt hatte eine Freundin sie gesehen, mit der die junge Frau in ein Sammeltaxi eingestiegen war. Das sind Minibusse, die sowohl innerorts als auch zwischen Städten auf immer den gleichen Strecken Fahrgäste transportieren. Özgecan Aslan war auf dem Heimweg von der Universität in Tarsus zu ihrem Elternhaus im 30 Kilometer entfernten Mersin. Ihre Kommilitonin war nach ein paar Stationen ausstieg.
Wie Ermittlungen später ergaben, wich der 26jährige Fahrer des Sammeltaxis daraufhin vom Weg ab. Aslan beschwerte sich und wehrte sich heftig, als er anhielt und versuchte, sie zu vergewaltigen. Die Studentin setzte ein Tränengasspray ein und zerkratzte dem Angreifer das Gesicht. Der stach zunächst mehrfach mit einem Messer auf die junge Frau ein, um sie dann mit einer Eisenstange zu erschlagen. Der Vater des Täters und ein Freund der Familie halfen anschließend dabei, die Leiche zu einem Flussbett in der Nähe von Tarsus zu bringen und dort teilweise zu verbrennen. Sie wurde jedoch zwei Tage später entdeckt, die Täter wurden schnell gefasst.

Die Umstände der Tat empfinden viele Menschen in der Türkei als ebenso widerwärtig wie exemplarisch für eine bedrohliche frauenfeindliche Verrohung von Teilen der Gesellschaft. Der Täter stammt aus einer ehemals wohlhabenden konservativen Familie in Tarsus, die in finanzielle Schwierigkeiten geraten war, weshalb er als Fahrer arbeitete. Auf seiner Facebook-Seite posiert er immer wieder mit dem Wolfszeichen, das für eine mit den Ultranationalisten sympathisierende politische Gesinnung steht. auf einem weiteren Foto lädt er ostentativ eine Pistole, auch das steht für Gewaltbereitschaft und primitive Männlichkeitsrituale. Die hübsche Studentin war Alevitin, gehörte also einer religiösen Minderheit an, deren Angehörige von rechten Sunniten häufig als irgendwie links und liberal angesehen werden; handelt es sich zudem um alevitische Frauen, gelten sie ihnen als »verfügbar«.
Die selbstbewusste Özgecan Aslan hat sich mutig gewehrt. Bei seiner Vernehmung gab ihr mutmaßlicher Mörder zu Protokoll, sie habe »sein Gesicht in Stücke gerissen«, es habe ganz schrecklich gebrannt. Auf einem Zeitungsfoto ist ein bulliger Mann in Handschellen zu sehen, die Kratzer sind fast nicht mehr sichtbar. Doch diese weinerlichen Rechtfertigungen sind es gerade, die viele Menschen in der Türkei so aufbringen, weil diese Aussagen Verständnis auslösen sollen. Sie korrespondieren dabei perfide mit der demonstrativ reaktionären Familienpolitik der regierenden konservativ-islamischen »Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt« (AKP), die, immer der Stimmung ihrer konservativsten Wähler entsprechend, vor allem Entschuldigungen für Täter findet.
Angesichts der allgemeinen Empörung beeilte sich Präsident Recep Tayyip Erdoğan, den Mord öffentlich als zutiefst verabscheuungswürdig zu verurteilen. Seine Töchter eilten zum Kondolenzbesuch zu Aslans fassungsloser Familie. Es musste aber doch wieder die Bemerkung folgen, dass es muslimischen Männern obliege, ihre Frauen zu schützen. Im Klartext: Wäre die junge Frau nicht alleine mit dem Sammeltaxi gefahren, dann wäre ihr nichts passiert. Der Minister für Verkehr und Kommunikation, Lütfi Elvan, forderte, ab sofort dürften Männer unter 26 Jahren nicht mehr als Sammeltaxifahrer tätig sein. Diese Bemerkung rückt den grausamen Mord in die Ecke einer Jugendsünde. Männer unter 26 Jahren sind also durch die Präsenz einer jungen Frau im öffentlichen Verkehrssystem allgemein gefährdet, zu Vergewaltigern und Mördern zu werden?

Überall in der Türkei strömten Frauen wie Männer in der vergangenen Woche auf die Straße und protestierten. Özgecan Aslans Foto hängt in Bussen, viele Sammeltaxifahrer solidarisierten sich mit dem Opfer, ein Unternehmer schaltete sogar eine Fernsehwerbung in ihrem Namen. In den konventionellen Medien und auch in den sozialen Netzwerken steht der Name Özgecan Aslan nunmehr als Symbol für die Sehnsucht nach einer modernen, aufgeklärten Türkei, in der Frauen als selbständige Teilnehmerinnen am öffentlichen Leben geschützt werden und Gewalt gegen sie gesamtgesellschaftlich geächtet wird.
Die Realität sieht derzeit anders aus. Bereits im ersten Monat dieses Jahres wurden 29 Frauen von Männern ermordet. Jede dritte Frau in der Türkei erlebt in ihrem Leben häusliche Gewalt. 28 Prozent der türkischen Männer befürworteten bei einer Umfrage 2013 Gewalt gegen Ehefrauen und halten dies für normal und nötig. 34 Prozent sahen dies ebenso, Gewalt sei aber »nur gelegentlich notwendig«. 118 014 Frauen erstatteten 2014 Anzeige wegen häuslicher Gewalt, 2013 waren es 82 205. Die Dunkelziffer ist hoch, denn viele Frauen meiden aus Angst oder Scham den Weg zur Polizei.
Die Politik gibt immer wieder falsche Signale. Regelmäßig äußern AKP-Politiker gängige konservative Klischees, die sie mit angeblichen Volkswerten oder der Religion legitimieren. So rügte Erdoğan den Proteststil der Frauen nach der Ermordung Aslans: Tanzen auf Demonstrationen sei pietätlos und der Feminismus passe nicht zur türkischen Kultur. Das ist unhistorisch und falsch, denn bereits in der Endphase des osmanischen Reichs gab es eine starke Frauenbewegung, die eine Abschaffung der Mehrehe, Frauenwahlrecht und andere Bürgerrechte forderte. Sie bereitete das Fundament für die relativ frühe Gewährung von Bürgerrechten inklusive des Wahlrechts für die Türkinnen in den dreißiger Jahren.

Das Gefasel der alten Männer birgt aber vielleicht auch eine Chance, denn selbst islamisch-konservative Frauenrechtlerinnen beginnen sich zu wehren. Die Autorin Yıldız Ramazanoğlu etwa fragte spöttisch auf Twitter, wann und wo der Prophet denn von Reiseregeln für Frauen im Sammeltaxi gesprochen habe. Als der stellvertretende Ministerpräsident Bülent Arınç vergangenen Sommer gesagt hatte, lautes Lachen von Frauen in der Öffentlichkeit sei ungebührlich, empörte das auch viele Konservative. Auf sämtlichen Protestmärschen für Frauenrechte sind alle ideologischen Richtungen vertreten. Die prominente Feministin und Anwältin Canan Arın vom unabhängigen Frauenhaus-Projekt »Lila Dach« unterstreicht, dass der Anstieg von Gewalt in den Familien auch mit der stärkeren Präsenz von Frauen in allen Bereichen der Gesellschaft zu tun habe.
Verschiedene gesellschaftliche Organisationen haben nun fortlaufende Protestkampagnen angekündigt. Derzeit bilden sich anlässlich von Nachrichten über frauenfeindliche Vorfälle spontan Proteste, die bisweilen die Form eines Happenings annehmen. Vor einer Woche wurde bekannt, dass eine Konrektorin an einem Gymnasium in Antalya Schüler dazu anstiften wollte, Mitschülerinnen zu belästigen, die Miniröcke tragen, damit sie sich anders kleiden. Diese seltsame Pädagogik wurde am Samstag von Tausenden Männern karikiert, die auf dem Istiklal-Boulevard im Istanbuler Zentrum Taksim in Miniröcken flanierten und ihre Solidarität mit den Frauen zum Ausdruck brachten.
Der Kampf um Frauenrechte könnte verschiedene miteinander konkurrierende Fraktionen einen. Eine solche Funktion hatte das Thema bereits in den achtziger Jahren nach dem Militärputsch. Da alle anderen Themenkomplexe verboten waren, erstarkte die feministische Bewegung und setzte sich gleichzeitig für mehr demokratische Rechte ein. Auch im Kampf der Kurden gegen den »Islamischen Staat« (IS) spielen Frauen derzeit eine wichtige Rolle. In den kommenden Monaten wird sich zeigen, ob die Opposition in der Lage ist, dieses Thema im Wahlkampf für die Parlamentswahlen im Juni zu nutzen.