Texte des ungarischen Dadaisten Emil Szittya

Immer noch Anarchist

Der 1886 in Budapest geborene Schriftsteller Emil Szittya hinterließ ein umfangreiches Werk. Eine Auswahl seiner Texte aus fünf Jahrzehnten ist jetzt erschienen.

Ich sammelte nicht nur auf der Landstraße, unter den Anarchisten, sondern auch unter den Aktivisten und Literaten Dokumente, um meine Zeit zu registrieren«, hat Emil Szittya in einem Brief an Franz Jung geschrieben, der ihm nicht nur politisch und künstlerisch nahestand, sondern sein Leben ebenfalls der sozialen wie künstlerischen Revolution gewidmet hatte. Franz Jung gilt heute als Außenseiter der Kunst- und Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Emil Szittya ist fast vollständig vergessen. Den Namen Szittya gab sich der im August 1886 in Budapest geborene Adolf Schenk bei der Veröffentlichung seines ersten Werkes selbst und benutzte ihn bis an sein Lebensende. Er war Journalist und Schriftsteller, Vagabund und Revolutionär, Résistance-Kämpfer und Dadaist, hat auf Ungarisch, Deutsch und Französisch publiziert, Künstlerbiographien und Erzählungen, Kurzromane und Zeitungsartikel verfasst und über zwei Dutzend Bücher hinterlassen, und doch ist der Name selbst Literaturwissenschaftlern kein Begriff. Kaum eines der Bücher Szittyas hat sich gut verkauft, viele Texte sind in entlegenen Publikationen erschienen und sein bekanntestes Werk, »Das Kuriositäten-Kabinett«, war zeitweise verboten. Auch maß er selbst seinen Texten keine hohe Qualität bei, was er in einem autobiographischen Fragment bekennt: »Ich glaube nicht an das ›verkannte Genie‹. Es ist kein Zufall, dass meine Bücher keinen Erfolg haben. Ich arbeitete zwischen zwei großen Kriegen und war ungeschickt im Schreiben.«
Liest man das von Walter Fähnders herausgegebene Buch »Herr Außerhalb illustriert die Welt«, das wie auch der Briefwechsel Szittyas mit Hugo Ball und Emmy Hennings soeben erschienen ist, kann man die Texte eines rastlos Schweifenden entdecken, eines Autoren, der genau das sein wollte, was er im zitierten Brief an Franz Jung beschreibt: Ein Sammler und Sucher, ein Dokumentarist seiner Zeit. »Er geht und geht. – Die Straßen sind grau. Es liegt Wahnsinn in seinem Gehen. – Er weiß nicht, was er sucht.« Das Suchende und Fragmentarische, Gehetzte und Unabgeschlossene kann man wie er selbst als mangelnde literarische Qualität deuten, oder aber man entdeckt darin eine ganz eigene Ästhetik, eine literarische Form, die dem Ruhelosen seiner Zeit angemessen ist; selbst die als »Roman« bezeichneten Texte sind oftmals nur wenige Seiten lang. Szittya hat beide Weltkriege erlebt, den Dadaismus ebenso mitbegründet wie antifaschistische Zeitschriften, die Ermordung seiner jüdischen Freunde ertragen müssen und in der Résistance gekämpft. »Mein ganzes Leben bestand nur aus Fragen und Hören«, schrieb er 1944 in einem Text, der die Stimmung im von den Nazis befreiten Paris einfing. Fragen und Hören, Rast- und Hilflosigkeit, sowie der Wille, Zeuge der zentralen Ereignissen seiner Zeit zu sein: All dies findet sich in der Ästhetik seiner Texte wieder.
1911 lebte er kurzzeitig in Paris, wo er mit Blaise Cendrars zwei Ausgaben der Zeitschrift Les Hommes Nouveaux herausgab, die sich in ihren Beiträgen des Anarchismus und der frühen Avantgarde annahm. Geprägt von diesen beiden Einflüssen suchte sich Szittya eine Position zwischen den Sprachen, Ländern und literarischen Gattungen. Seine Sympathie galt immer den Randgebieten der Kultur, den Marginalien der Kulturgeschichte, wie der Untertitel seines 1923 erschienenen Buches »Kuriositäten-Kabinett« verrät: »Begegnungen mit seltsamen Begebenheiten, Landstreichern, Verbrechern, Artisten, religiös Wahnsinnigen, sexuellen Merkwürdigkeiten, Sozialdemokraten, Syndikalisten, Kommunisten, Anarchisten, Politikern und Künstlern«. Aber auch eine Kulturgeschichte des Selbstmords veröffentlichte er 1925 sowie Künstlerporträts und erfundene Dichterbiographien. Sein Leben als Vagabund außerhalb der Gesellschaft prägte auch sein literarisches Schaffen: Immer wieder spielt die Idee des Unterwegsseins eine Rolle, etwa in der Figur des Ahasver, des wandernden Juden, die durch Szittyas Werk spukt, wie auch in Herrn Außerhalb, den er entwickelte, um seine Sicht auf die Gesellschaft zu unterstreichen: »Der Außerhalbstehende ist der Dichter, Musiker, Maler, Bildhauer und Wissenschaftler, der die Mission hat, die Zeit, ohne Partei zu ergreifen, zu überschauen und zu lenken hat.« Diese Rolle als Außenseiter, als Kritiker der Gesellschaft und der sozialen Ordnung, ist bewusst gewählt und nicht ungefährlich, wie Szittya in dem 1933 erschienenen Text »Der Außerhalbstehende« beschreibt: »Es kommt gerade heute auf eine anständige machtgegnerische Gesinnung an. Jeder schöpferische Mensch muss sich diesmal gegen die Massenpsychosen für ein ›Nein!‹ entscheiden, wenn das auch nach allen Seiten hin gefährlich ist.« Auf politischer wie künstlerischer Ebene hat Szittya diese Position sein Leben lang beibehalten und stets Verbündete am Rande der Gesellschaft gesucht.
Einer dieser Verbündeten war Hugo Ball, den er während des Ersten Weltkriegs in Zürich kennenlernte. Ball schrieb später in »Flucht aus der Zeit« über Szittya: »Er ist ein Greis mit einem Jungensgesicht; ein Bettler, der die Finesse der letzten Systeme in sich bekämpft. Ein rührender, lächelnder, zerbrochener Tänzer unserer lieben Frau, der unter Tränen seine unorthographischen Gebete hermault.« Nach Zürich war Szittya gekommen, da er dort auf Gleichgesinnte zu treffen hoffte: »Diese kleinbürgerliche Käsegeruchstadt (…) hatte während des Krieges eine Atmosphäre, die das Atmen ermöglichte, und in der man mit klarem Verstand über die blutigen Dinge denken konnte, die sich jenseits der Grenze abspielten.« Im Text »Spaziergang in sich« beschreibt er seine Überzeugung, dass Deutschland den Krieg verschuldet habe, weshalb er nun von der Schweiz aus »an der Propaganda gegen das kaiserliche Deutschland« teilnehmen wolle. Die Plattform dieser Propaganda war unter anderem die von ihm und Hugo Kersten 1915 gegründete Zeitschrift Der Mistral, an der auch der Dadaist Walter Serner mitarbeitete. Der Mistral, eine »Literarische Kriegszeitschrift«, so der Untertitel, publizierte unter anderem Texte von Appolinaire, Marinetti und Max Herman-Neiße und gilt als Sprachrohr des Dadaismus, mit dessen zentralen Protagonisten Szittya bekannt war, wenn er auch die Bezeichnung Dadaist für sich ablehnte.
Mit den Dadaisten teilte Szittya die Verachtung der Bürgerlichkeit, des Spießertums, für das er nur Spott übrig hatte: »Der Bürger hasst alles, was sich aufberstet. Er hat gegen Aufberstende vor seinen Häusern Wach- und Schließgesellschaften geschaffen. Er hat Angst vor Stürmen. Alles, was sich nicht einreiht, ist für ihn nur Ausbund. Er liebt nicht das Aufjauchzen, sondern nur den Aufmarsch und die Ausflickung.« »Der Bürger«, so der Titel dieses Textes, war Objekt des Spottes und der Kritik, aus den Texten Szittyas sprach auch der Ekel vor dem Bankrott der Ideen, wie es Hugo Ball stellvertretend für den Dadaismus angesichts des Ersten Weltkrieges formuliert hat: »Da der Bankrott der Ideen das Menschenbild bis in die innersten Schichten zerblättert hat, treten in pathologischer Weise die Triebe und Hintergründe hervor. Da keinerlei Kunst, Politik oder Bekenntnis diesem Dammbruch gewachsen scheinen, bleibt nur die Blague und die blutige Pose.« Die Freundschaft mit Ball und Hennings lässt sich im ebenfalls von Wolfgang Fähnders im Rahmen der aktuellen Ausgabe des Hugo-Ball-Almanachs herausgegebenen Briefwechsels der drei nachvollziehen.
Auch mit der Weltpolitik machte Szittya in Zürich Bekanntschaft: »Na, immer noch Anarchist«, soll Lenin ihn begrüßt haben; eines von mehreren Treffen, bei denen über den Kommunismus und den Ersten Weltkrieg diskutiert wurde – wenn man Szittyas autobiographischen Texten glauben kann, nicht ohne Grund schrieb er: »Es ist schön, sich wie ein Glühwürmchen durch die Welt zu lügen.«
Nach dem Krieg gründete Szittya 1918 in Budapest die Zeitschrift Horizont-Hefte, die sich mit der ungarischen Innenpolitik beschäftigte und nach drei Ausgaben auf Ungarisch ab 1919 auf Deutsch in Wien erschien; zu den Mitherausgebern zählte unter anderem der Dadaist und Avantgarde-Filmer Hans Richter. Weiterhin pendelte Szittya zwischen den Ländern Europas, hielt sich viel in Berlin auf, obwohl er vom ausbleiben der Revolution enttäuscht war, und arbeitete dort hauptsächlich als Journalist; diese Jahre waren aber auch seine literarisch produktivsten, er veröffentlichte mehrere Textsammlungen und Romane mit seltsamen Titeln wie »Klaps oder wie sich Ahasver als Saint Germain entpuppt« oder »Gebete über die Tragik Gottes«. 1927 schließlich zog er nach Paris, wo er mit Unterbrechungen bis zu seinem Tod lebte und mit Erika Drägert eine Familie gründete. Seiner Tochter Jeanne gab er in einem Text mit auf den Weg: »Diese Romane verlangen nach Lesern, verlangen nach Vernichtung der Eseleien, die Idioten über mich erzählen. Draußen regnet es wieder. Ich möchte, dass meine Tochter und alle Kinder erfahren, dass ich etwas, wenn auch nur wenig, zu unserer neuen Zeit beitrug.« Bis 1933 publizierte Szittya acht Bücher zu kunsthistorischen Themen und gründete nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten erneut eine Zeitschrift: Die Zone, ein antifaschistisches Periodikum als »Querschnitt durch die deutsche Politik, Kultur, Wissenschaft, Kunst, Theater, Musik, Rundfunk«. Bis 1934 erschienen acht Ausgaben der »Zone«, während er gleichzeitig seine journalistische Arbeit für deutsche Zeitungen einstellte. In
einem Bittbrief an eine Galeristin schrieb er daher: »Sie wissen, ich bin Schriftsteller, ich bin Antifaschist und seit dem Hitlertum habe ich aufgehört für Deutschland zu arbeiten. Sie wissen, ich habe Frau und Kind. Seit 4 Jahren verdiene ich nichts mehr. Uns geht es sehr schlecht. Wir hungern. Wir können keine Miete bezahlen.« Armut wurde zum Leitmotiv seines Lebens, doch niemals hätte er für ein sicheres Leben seine Überzeugungen eingetauscht.
Als die Deutschen in Paris einmarschierten, war Szittya mit seiner Familie bereits in den nicht besetzten Süden Frankreichs geflohen. Zwischen 1940 und 1944 arbeitete er für die Résistance, weswegen er nach der Befreiung von Paris als einer der ersten, mit einem Passierschein der Résistance ausgestattet, dorthin zurückkehren konnte. Sein Text über das »Wiedersehen mit Paris« ist einer der eindrucksvollsten seines Œeuvres, in dem er seine Eindrücke ungefiltert an die Leser weitergibt: »Nachts sehen die Steine von Paris gespenstisch aus, besonders, wenn in der Ferne amerikanische Militärautos ihr Licht wie ein Aushängeschild über die immer noch verdunkelte Stadt werfen. – Warum ist man so alleine und in Wut? – Der Himmel und die Landschaft sehen traurig und bedrohend von Schatten aus. – Seit Tagen regnet es.«
Kaum zurück, begann er an einem »Buch gegen den Antisemitismus« zu arbeiten, wie er in einem Brief vom November 1944 schrieb, das leider nie erschienen ist. Nach dem Krieg veröffentlichte er noch einige kunsthistorische Bücher, unter anderem über Pablo Picasso und Chaim Soutine, kümmerte sich um den sowjetisch-französischen Künstleraustausch und hatte sich vom Anarchisten zum Kommunisten gewandelt. Dies änderte allerdings nichts an seinem Verständnis des Künstlers als Dokumentarist seiner Zeit: »Ich bin Marxist. Ich bezwecke mit diesen Notizen meine Teilnahme an den Geschehnissen meiner Zeit zu bezeugen«, notierte er in diesen Jahren. In einem seiner letzten Texte schrieb Szittya: »Ich habe viele Opfer für mein Werk gebracht. Es kostete mich viel Mühe und Energie, in den entsetzlichen Hungerperioden die Reportage-Notizen festzuhalten. Ich bin sehr müde.« Trotz der Müdigkeit hat er an einem Leben für die Kunst und die Revolution festgehalten. Szytta starb am 26. November 1964 in Paris. Bis zuletzt blieb er »der beste Traumreiter der Welt«, wie er sich selbst 1920 in »Mein eigenes Porträt« beschrieb.

Emil Szittya: Herr Außerhalb illustriert die Welt. Hrsg. von Walter Fänders. Basis-Druck-Verlag, Berlin 2014, 280 Seiten, 13,65 Euro
Hugo-Ball-Almanach. Studien und Texte zu Dada. Neue Folge 5/2014. Edition text + kritik, München 2014, 252 Seiten, 18,50 Euro