Die Liberalisierung der Drogenpolitik in der Karibik

Ganja, guns und Geschäfte

Seit in den vergangenen zwei Jahren Uruguay, viele US-Bundesstaaten und Ende Februar auch Jamaika Marihuana legalisiert haben, soll die repressive Drogenpolitik auch in weiteren Inselstaaten der Karibik gelockert werden. Ein Bericht aus St. Vincent.

»Letztens haben sie einen Mann aus dem Dorf auf seinem Feld geschnappt, er sitzt jetzt da drüben ein, für zwei Jahre«, sagt Gerome* und deutet auf den gegenüberliegenden, etwa einen Kilometer entfernten Berghang zu seiner Linken. Inmitten üppiger tropischer Vegetation thront dort »Belle Isle« hoch über dem Meer. Es ist das neueste der drei Gefängnisse des kleinen karibischen Inselstaates St. Vincent und wurde erst vergangenes Jahr eingeweiht. Gerome steht auf seinem kleinen Marihuana-Feld an einem steilen Berghang hoch über der tief eingeschnittenen Cumberland Bay an der Westküste der Insel. Beinahe hätte es vor kurzem auch ihn erwischt, als die Polizei im Zuge einer der vielen Razzien über sein Feld herfiel.
Der Fall ist typisch für die Situation auf der Insel und in der Karibik insgesamt, für den täglichen gesellschaftlichen Widerspruch zwischen der Normalität und der täglichen Präsenz von Marihuana auf der einen Seite und der repressiven Drogenpolitik in den gottesfürchtigen und sozial konservativen Inselstaaten der Karibik auf der anderen. Noch leben Marihuana-Farmer wie Gerome in St. Vincent in alltäglicher Angst vor der Polizei. Doch das könnte sich bald ändern.
Direkt hinter Geromes Haus unten im Dorf beginnt der schmale Pfad zum Feld. Etwa eine Stunde steiler Wegstrecke durch das Dickicht ist es bis zur Plantage, die auf einem Bergrücken und dem angrenzenden Hang liegt. Nur ein paar vereinzelte Pflanzen und ein paar frische Setzlinge stehen dort derzeit. Unter einem Papayabaum liegen die umgestürzten und verbrannten Reste von Geromes kleinem Unterstand, eine kleine umgeworfene Setzlingsstation aus Wellblech, eine alte Kokosreibe, die Reste einer verkohlten Plane, zusammengenagelte Holzlatten.
»Sie kamen von oben den Berghang runter und ich musste rennen«, erzählt Gerome und deutet direkt aufs grüne Dickicht am Abhang vor ihm. »Dann haben sie alle Pflanzen herausgerissen und meine Hütte mit Benzin begossen und angezündet«. Der Marihuana-Farmer hat zwar schon wieder eine paar neue Setzlinge in die fruchtbare vulkanische Erde gesetzt, er will aber noch ein paar Monate warten, bis er sein Feld wieder bestellt, »zur Sicherheit, die Polizei könnte wiederkommen«.
Diese durchkämmt in regelmäßigen Abständen die Berghänge, um gegen den Marihuana-Anbau vorzugehen. Vor 15 Jahren noch durchkämmten US-amerikanische Marines und DEA-Agenten zusammen mit lokalen Polizisten in zweiwöchigen Expeditionen die Berge, sprühten großflächig Gift von Helikoptern auf die Marihuana-Felder. Nachdem die Sozialdemokraten vor 14 Jahren die Regierung übernommen hatten, wurden die Razzien stattdessen mit Soldaten und Polizisten befreundeter karibischer Staaten wie Trinidad durchgeführt. Millionen Pflanzen wurden so über die Jahre vernichtet. Alleine 2011 wurden nach Angaben lokaler Behörden bei Razzien 1 696 021 Pflanzen auf insgesamt 70 Hektar zerstört und zehn Tonnen Marihuana sichergestellt.
Harte Strafen, die von der Polizei mehr oder minder effektiv durchgesetzt werden, und gesellschaftliche Ablehnung, genährt durch eine puritanische, kirchlich geprägte Sozialmoral bestimmten bisher den Umgang mit Marihuana in vielen karibischen Inselstaaten. In einer Radiosendung verliest die Royal St. Vincent Police Force in aller Öffentlichkeit einmal die Woche die Namen aller Festgenommenen der vorangegangenen Woche, inklusive Vorwurf und Heimatdorf. Meistens geht es um Konsum von oder Handel mit Marihuana.
Ende vergangenen Jahres war es Premierminister Ralph Gonsalves, der überraschend durchblicken ließ, der repressive Ansatz gegenüber dem Anbau von Marihuana müsse überdacht werden. Die 700 Mann starke Polizei, die Sicherheitsbehörden und Gerichte würden »zu viel« ihrer Ressourcen darauf verwenden, »gute christliche Jungs und Mädchen« zu verfolgen, die »winzige Mengen Marihuana hinter dem Haus ihrer Großmutter konsumieren würden«. Gleichzeitig bekannte sich Gonsalves zu einem »unerbittlichen Kampf« gegen die »Drogenbarone und Gangs« der Insel.
Mittlerweile gestehen auch führende Polizeibeamte ein, dass der repressive Umgang mit der Droge auf der Insel gescheitert sei, beziehungsweise außer Kontrolle zu geraten drohe: »Wir müssen unsere Strategie zur Verbrechensbekämpfung grundlegend überdenken.« Mit diesem ungewöhnlich offenen Statement kommentierte Christopher Benjamin, Assistant Commissioner der Royal St. Vincent Police Force, Anfang Januar die Verbrechensstatistiken von St. Vincent für 2014. Er hatte die höchste Mordrate in der Geschichte der Nation zu verkünden. 35 Morde habe es auf der 120 000 Einwohner zählenden Insel im Jahr 2014 gegeben, die meisten davon »wegen Drogen«.
An den unzugänglichen Berghängen der Insel, hoch über den Dörfern, legen Farmer wie Gerome ihre Felder an, doch die meisten gibt es im unzugänglichen Nordwesten der Insel. In Chateaubel­air, nördlich von Cumberland Bay, endet die Straße. Oberhalb dieser Linie gibt es ein kleines Kariben-Dorf, unzugänglichen Regenwald und die kleinen Camps der Marihuana-Bauern. »Drogengebiet«, so nennt die kleine Küstenwache St. Vincents den Nordwesten der Insel. Zugänglich ist die Region nur mit kleinen »Fischerbooten«, die geschäftig zwischen den kleinen schwarzen Lavastränden der Region hin und her fahren.
Dort hat Geromes Freund Jaxon* sein Feld. In der Region sei »nicht die Machete, sondern die Pistole« das »wichtigste Werkzeug der Farmers«, sagt er achselzuckend. Das Geschäft sei gefährlich, wenn er eine andere Arbeit fände, würde er die »sofort annehmen«. Bis dahin pflanzt er weiter Marihuana an.
In einer »kleinen Community« mit anderen Farmern lebe er dort, erzählt Jaxon. Meistens bleibt der 44jährige vier Tage in den Bergen und kommt zum Wochenende »runter ins Dorf«, um seine Freundin zu besuchen und auszuspannen. Doch manchmal bleibt er auch ein bis zwei Wochen in den Bergen, um zu »pflanzen« und auf sein Feld aufzupassen. »Es ist mein Land«, betont er stolz. Die Regierung sieht das anders und beschuldigt die Marihuana-Bauern, illegal öffentliches Land zu besetzen.
Auch Gerome behauptet, das Feld auf dem Berg hoch hinter seinem Haus gehöre ihm. Er nimmt jeden Tag den Fußweg zum Feld auf sich, nur manchmal ist er über Nacht in seiner kleinen Hütte geblieben, bevor sie niedergebrannt wurde. Er lebt im Dorf mit seiner Familie, neun Kinder von zwei Frauen und elf Enkelkinder, einer seiner Söhne ist bei der Polizei. Nicht nur räumlich, sondern auch sozial liegt der gesellschaftliche Widerspruch zwischen Kriminalisierung und Anbau von Marihuana offen zutage.
Das Feld von Gerome ist etwa so groß wie ein halbes Fußballfeld, seit der Razzia stehen nur noch einige der mannshohen Pflanzen. Er baut die Sorten »Arizona« und »Purple Haze« an, dazwischen etwas Mais und Tabak. Das warme Tropenklima, die täglichen Regenschauer und die fruchtbare vulkanische Erde bieten ideale Bedingungen, alle drei Monate kann geerntet werden, theoretisch. Er könne bis zu 200 Kilogramm pro Jahr produzieren, sagt Gerome stolz.

In St. Vincent werde auf bis zu 120 Hektar Marihuana angebaut, schätzt das amerikanische Außenministerium in seinem »International Narcotics Control Strategy Report«. Der kleine Inselstaat ist damit neben Jamaika der größte Marihuana-Produzent in der Karibik, pro Kopf gerechnet wahrscheinlich der größte der Welt.
»Auf der ganzen Insel« gebe es Felder und Plantagen, sagt Jaxon. Die Mehrheit der jungen Männer sei in irgendeiner Form mit dem Anbau von Marihuana beschäftigt. Bis zu 40 Prozent der Bevölkerung sind nach Angaben der The National Marijuana Industry Association of St. Vincent (NMIA) »direkt oder indirekt« involviert in den Marihuana-Anbau. Die Lobbygruppe schätzt, dass der Anbau mittlerweile über 30 Prozent zum Bruttosozialprodukt der Insel beiträgt. Wie hoch die Produktion und die Profite tatsächlich sind, ist unklar, die Statistiken zur Produktion stützen sich vor allem auf die Ergebnisse von Razzien. Produziert wird vor allem für den regionalen Markt, doch das US-Außenministerium berichtete schon 2012, Ganja aus St. Vincent werde immer mehr auch überregional exportiert.
Die große Bedeutung von Marihuana für die Inselökonomie ist auch Ergebnis des Niedergangs der Bananenindustrie. Bis zu 60 Prozent der berufstätigen Bevölkerung arbeitete früher in der Bananenindustrie. Die Plantagen in St. Vincent und anderen karibischen Inselstaaten produzierten vor allem für den europäischen Markt, gestützt durch vorteilhafte Handelsabkommen. 1993 reichte die US-Regierung unter Bill Clinton eine Beschwerde gegen die EU vor der Welthandelsorganisation (WTO) ein. Die Handelsabkommen mit der EU würden einen unzulässigen Wettbewerbsvorteil für die karibischen Inselstaaten bringen und einen Nachteil für amerikanische Handelsinteressen, hieß es. US-amerikanische Unternehmen, die Clintons Wahlkampf mitfinanzierten, kontrollieren weitgehend die Bananenproduktion in Ecuador und Kolumbien. Es folgte ein 17jähriger, erbitterter »Bananenkrieg« vor den Gremien der WTO um die meistexportierte Frucht der Welt. Ende 2009 lenkte die EU dann ein, zugunsten profitablerer Handelsabkommen mit Kolumbien und Ecuador, dies war der Anfang vom Niedergang der ostkaribischen Bananenproduktion. Anfang der neunziger Jahre trug der Bananenanbau noch 30 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei, heute sind es nur noch zwei Prozent, viele ehemalige Plantagenarbeiter, die arbeitslos wurden, und vor allem Jugendliche, gingen »in die Berge«. Die offizielle Arbeitslosenquote in St. Vincent liegt bei knapp 20 Prozent, ohne Marihuana-Anbau wäre sie wesentlich höher.
Nachdem Gonsalves noch kurz zuvor im Einklang mit dem politischen Establishment der ostkaribischen Inseln eine Legalisierung von Marihuana abgelehnt hatte, forderte er schon Mitte 2013 mit Blick auf die Legalisierung von Marihuana in Uruguay und den US-Bundesstaaten Colorado und Washington eine »offene Debatte«. Die hat er als Vorsitzender der Vereinigung karibischer Staaten (Caricom) in den vergangenen zwei Jahren vorsichtig vorangetrieben.
Im Sommer vergangenen Jahres setzte die Caricom eine permanente Kommission ein, die »wirtschaftliche, gesundheitliche und rechtliche Fragen des Marihuana-Anbaus« untersuchen soll. »Ergebnisoffen« sei diese Untersuchung, betonte Caricom-Generalsektretär Irwin La Rocque. Ein vorläufiger Bericht der Kommission spricht von einem »natürlichen Wettbewerbsvorteil der Karibik im Marihuana-Anbau. Eine potentielle »Multimilliarden-Industrie« sei der Marihuana-Anbau für die Region. Bis 2016 soll die Kommission Empfehlungen erarbeiten.
Doch ein kleiner Staat wie St. Vincent alleine könne Marihuana nicht legalisieren, so Gonsalves. Er will innerhalb der karibischen Staatengemeinschaft eine Regelung erreichen. Doch die ist in der Marihuana-Frage gespalten. Während Gonsalves meint, es sei »einfach kontraproduktiv, das Potential der Industrie für medizinisches Marihuana zu ignorieren«, pocht etwa sein Kollege Keith Mitchell aus Grenada auf die Einhaltung von »Recht und Ordnung«.

Andere sind schon weiter. Jamaika hat im Sommer den Besitz kleiner Mengen Marihuana entkriminalisiert, Ende Februar folgte die Legalisierung von medizinischem Marihuana und schon bald wird man dort Lizenzen für eine bereits entstehende Industrie mit Firmen wie »MediCanja« vergeben. 14 Jahre hat das gedauert, nachdem eine Regierungskommission 2001 erstmals die Entkriminalisierung empfohlen hatte.
»Wenn wir das Problem jetzt nicht angehen, fürchte ich, dass wir in zehn Jahren Marihuana aus den großartigen Vereinigten Staaten von Amerika importieren müssen«, sagte Gonsalves jüngst dem Internetportal »Caribbean 360«. Er sorgt sich, dass die kleinen Inselökonomien erneut von wettbewerbsstärkeren Industrien größerer Länder überwältigt werden könnten. Dabei habe Marihuana das Potential, die »Banane des 21. Jahrhunderts« zu werden. Und die könnte St. Vincent gut gebrauchten. Seit der Finanzkrise 2007 schwächelt die Wirtschaft und in Zeiten niedriger Ölpreise gilt das Gleiche für die regionale wirtschaftliche Integration in das von Venezuela dominierte Alba-Bündnis. Hinzu kamen mehrere Naturkatastrophen, von denen die Insel in den vergangenen Jahren heimgesucht wurde: Hurrikan Tomas 2010, Überschwemmungen 2011, zwei lange Dürren Anfang 2010 und 2014 sowie die »christmas floods« Ende 2013. Die Schäden betrugen nach Angaben von Premierminister Gonsalves bis zu 600 Millionen ostkaribische Dollar, umgerechnet etwa 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Mit Hilfe internationaler Geldgeber baute die Regierung alleine in Cumberland Dutzende neue Häuser für Dorfbewohner, deren Häuser Ende 2013 von Erdrutschen vernichtet wurden, fast in Sichtweite von Geromes Feld. Doch er und Jaxon vertrauen der Regierung nicht, die würde sich »nur die Taschen vollstopfen«. Umfassendes Misstrauen und Verschwörungstheorien, so könnte man ihre Haltung gegenüber der Regierung beschreiben.
Jaxon ist gegen die Legalisierung von Marihuana. Er fürchtet, dass die Regierung die Samen kontrollieren wolle und er diese dann womöglich kaufen müsse. Vor allem aber will er keine Steuern zahlen. »Ich habe ein Konto, aber ich tue nur ein bisschen Geld drauf und gebe an, ich habe es beim Fischen erwirtschaftet«, erzählt Jaxon verschmitzt. Den Rest ihres Geldes vergraben Jaxon und die anderen Farmer in Erdlöchern unweit der Felder. Jaxon trägt stattliche Dreadlocks, doch ein Rasta sei er nicht, sondern »Geschäftsmann«, wie er stolz betont.
Caribbean-Studies-Forscher und politische Aktivisten argumentieren aus einem anderen Grund gegen eine schnelle Legalisierung. Sie fürchten, dass schwarze Geschäftsmänner wie Jaxon schon bald von professionell arbeitenden weißen Landwirtschaftsunternehmen abgelöst werden. Die informelle Marihuana-Ökonomie unterhalb des Radars der Regierung sei eine der Armen und Marginalisierten und zudem nachhaltig. Im Gegensatz zum Tourismus sei der Marihuana-Anbau kein ökonomisches trickle down-Modell, wo das meiste erwirtschaftete Geld bei Reiseveranstaltern aus Übersee verbleibt, sondern ein filter up-Modell, in dem das erwirtschaftete Geld »im Land verbleibe«, schreibt Sozialwissenschaftler Andre de Caires aus dem benachbarten Inselstaat St. Lucia. Auf jeden Fall müssten bei der Legalisierung die Interessen der kleinen Farmer geschützt werden. Die könnten sich sonst der gefährlicheren, aber lukrativeren Kokain-Produktion zuwenden. Caires und andere politisch Engagierte in St. Vincent plädieren deshalb für Entkriminalisierung statt Legalisierung.
Dem widerspricht Paul O’Ryan vom linksliberalen amerikanischen Think Tank »Council on Hemispheric Affairs« (COHA), der für »vollständige Legalisierung« und »Regulierung« plädiert, um der organisierten Kriminalität den Boden zu entziehen. Gleichzeitig dämpft er die Erwartungen: »Die Marihuana-Industrie sollte nicht als wirtschaftliches Allheilmittel gehandelt werden.« Die Geschichte gerade früherer Kolonien wie St. Vincent mit ihrer Bananenproduktion habe gezeigt, dass eine »zu starke Abhängigkeit« von landwirtschaftlichen Produkten, vom Rohstoffexport, »verheerend« sein könne.
Ende 2015 finden die nächsten Wahlen in St. Vincent und den Grenadinen statt, lokale Zeitungen haben Marihuana schon zum wichtigsten Wahlkampfthema ausgerufen. Eine Entkriminalisierung wie in Jamaica wäre »schon gut«, gibt Jaxon zu, doch Gonsalves’ Gesinnungswandel bezüglich Marihuana sei nur »Wahlkampf«. Nach der Wahl werde alles »weitergehen wie bisher«. Optimistischer ist COHA-Forscher Paul O’Ryan: »Wir werden in den nächsten Jahren wirklich eine weitgehende Liberalisierung in der Region erleben.« Die Region habe genug vom jahrzehntelangen war on drugs.

*Namen von der Redaktion geändert