Philipp Felsch im Gespräch über die Bedeutung von komplexem Denken

Als das Denken noch verbreitet war

Für einige Jahrzehnte war es en vogue, sich mit schwieriger Lektüre auseinanderzusetzen. Philipp Felsch, Juniorprofessor für die Geschichte der Humanwissenschaften an der Humboldt-Universität Berlin, widmet sich in seinem Buch »Der lange Sommer der Theorie: Geschichte einer Revolte. 1960–1990« der Begeisterung für komplexes Denken und begibt sich auf die Spuren des West-Berliner Merve-Verlags, dessen Veröffentlichungen einen bedeutenden Einfluss auf die Studentenbewegung, Spontis, Punks und künstlerischen Avantgarde gleichermaßen hatten.

Der Merve Verlag wurde 1970 gegründet, zwei Jahre vor Ihrer Geburt. Was hat Sie dazu veranlasst, sich mit der Geschichte dieses aus einem sozialistischen Kollektiv entstanden Verlags zu beschäftigen?
Mein eigenes Theorieerlebnis fand in den neunziger Jahren statt, als ich in Bologna auf einen charismatischen Foucault-Schüler und auf dem Umweg über seine Lektürelisten dann auch bald auf die ersten Merve-Bändchen stieß. Das war eine Art von Literatur, die ich aus meinem Studium an deutschen Universitäten in der Form nicht kannte. Besonders Michel Foucault stellte für mich eine Offenbarung dar. Genau wie die Merve-Verleger in den siebziger Jahren stieg ich mit meinen Mitbewohnern tief in die Lektüre der französischen Theoretiker ein. Die Texte betrafen uns ebenso politisch wie persönlich und ästhetisch. Mein Buch geht der Frage nach, aus welchen Quellen sich die Intensität unserer Lektüre speiste. Dazu versucht es, eine Art ethnographische Distanz zur Theorie einzunehmen. Mit Franco Moretti könnte man auch sagen: Es geht um distant reading. Man könnte aber auch sagen: Es geht um eine Geschichte der Gegenwart.
Sie schreiben, dass Peter Gente, Mitbegründer des Verlags und zentrale Figur von Merve, ein begeisterter Leser war. Vor allem Theodor W. Adornos »Minima Moralia« waren für ihn sehr bedeutend.
Die Begeisterung für Theorie – als Subversion von akademischer Philosophie – setzt in der Bundesrepublik mit Walter Benjamin und Theodor W. Adorno ein. Peter Gente lief fünf Jahre lang mit den »Minima Moralia« herum. Er entdeckte das Buch 1959 beim Jobben in den Semesterferien bei Siemens in Spandau, als sich zwei Kommilitonen am Band über den damals noch relativ unbekannten Autor des Buchs unterhielten. Wie bei vielen seiner Altersgenossen war Gentes Einsteig in die Theorie nicht politisch, sondern ästhetisch motiviert. Adorno stellte nicht nur eine moralische Autorität dar, die die Nazi-Vergangenheit thematisierte, sondern er gewann seine Leser über deren Kulturbegeisterung. Es gibt einen Brief an Leo Löwental, in dem er beschreibt, mit welchem Kulturhunger die deutschen Studenten in seine Veranstaltungen liefen – als hätten sie die Geister der ermordeten Juden im Leib. Adornos Beobachtung trifft auch auf Gente zu. In den frühen sechziger Jahren ging er ständig ins Theater, in die Oper und ins Kino. Seit 1959 abonnierte er auch die Filmkritik. Die war stilistisch wie intellektuell damals sehr fortschrittlich. Aus Filmkritik-Abonnenten ging später die Theorieavantgarde hervor.
Rainald Goetz schrieb in seinem Internet-Tagebuch »Abfall für alle«, dass Peter Gentes Obsession für internationale Zeitungen die hiesige Intellektualität massiv mitgeprägt habe.
Auf jeden Fall. An den ersten Ausgaben der Filmkritik, die bis heute im Merve-Verlag in der Berliner Crellestraße stehen, kann man ablesen, dass Gente nicht nur ein begeisterter Leser, sondern ein echter Nerd war. In den frühen Heften gab es eine Punktwertung. Mit Kugelschreiber trug Gente seine eigenen Punkte ein. Er war ein Cineast und ein enzyklopädischer Sammler. In Zeiten, in denen es noch kein Internet gab, waren ganz andere Skills als heute nötig, um ästhetisch und theoretisch auf der Höhe zu sein. Die alten Texte aus dem Institut für Sozialforschung zum Beispiel haben sich Eingeweihte in Berlin aus dem Nachlass von Franz Neumann, dem Autor von »Behemoth«, besorgt. Der Klassenkampf, an dem sich Gente beteiligte, fand in Archiven und Bibliotheken statt. Man arbeitete sich zu den Urtexten der Kritischen Theorie aus den zwanziger Jahren zurück, als diese noch sehr viel expliziter marxistisch waren. Irgendwann führte die Geschichte dann zu Marx und dann zu Hegel. Und bei Hegel steckten die Linken dann in einer Sackgasse fest.
Sie rekonstruieren mit Peter Gentes Weg auch die Geschichte einer bestimmten linken Intellektuellenfigur. Inwiefern bewegte er sich zwischen Boheme und akademischem Betrieb?
An der Freien Universität Berlin studierte Gente bei Peter Szondi und Klaus Heinrich, aber entscheidender für ihn und für das, was er später bei Merve machte, wurde der Judaist Jacob Taubes. Taubes war ein intellektueller Provokateur, den man fast als Paten der damaligen Westberliner Theorie-Kultur bezeichnen kann. Für Gente wurde er zum Vorbild, weil er ein begnadeter Leser war, dem es nicht gelang zu publizieren. Das trifft auch auf Gente zu. Er bewegte sich im inneren Kreis der Berliner Protestbewegung, kannte Andreas Baader, die Kommune 1, diskutierte im Argument-Club mit W. F. Haug und Margherita von Brentano. Doch weder als Aktivist noch als Autor hat er in den sechziger Jahren zu seiner Rolle gefunden. Dass ihm das später als Büchermacher gelang, hat viel mit der Begegnung mit Taubes zu tun. Denn Taubes erkannte früh, wo die Talente seines Hilfsassistenten Gente lagen: nämlich bei den Büchern. Er machte Gente für die Bibliothek verantwortlich, die er in der Abteilung für Hermeneutik aufbaute. In dieser Hinsicht war Taubes kein typischer Professor, sondern ein Verlagsprofi. Schon in den USA hatte er eine Buchreihe herausgegeben, und weil Siegfried Unseld ihn als Berater für die Konzeption der neuen Theoriereihe »Suhrkamp Theorie« engagierte, gehört er auch zu den Architekten der Suhrkamp-Kultur.
Sie schreiben, dass der Aufstieg des Rezipienten, des Konsumenten und des Publikums durch eine gewisse Theoriearbeit vorbereitet und begleitet wurde. Was meinen Sie damit?
Die siebziger Jahre waren die große Zeit der kollektiven Leseexperimente. Parallel kann man beobachten, wie die Figur des Lesers in der Theorie ankommt. Roland Barthes, die Konstanzer Rezeptionsästhetik oder Deleuze und Guattari verabschieden sich von den heroischen Autoren und den starken Produzenten­figuren. Sie entdecken den Rezipienten und seine subversiven Aneignungsstrategien als neue Hoffnungsträger. Am deutlichsten wird das bei Michel de Certeau, für den das Lesen eine andere Form der Produktion darstellt. In den achtziger Jahren wurden die Bastler, die Bartlebys und Zweckentfremder von den Cultural Studies als postmoderne Anti-Helden aufgebaut. Auch im Merve-Verlagsprogramm spielen sie eine wichtige Rolle. Dass die Lektüre eine eigene Produktionsweise darstellt, muss Peter Gente besonders eingeleuchtet haben, denn genau wie sein Lehrer Taubes hatte er aus der Not, nicht schreiben zu können, eine Tugend gemacht.
Merve veröffentlichte bereits in den siebziger Jahren Schriften italienischer Operaisten. Gab es über die Veröffentlichung von Toni Negri, Giovanni Jervis oder Lotta-Continua-Texten hinaus auch eine soziale und politische Praxis?
Spätestens nachdem die großen Turiner Streiks 1969 eine neue Form von Arbeitskämpfen sichtbar gemacht hatten, wurde Italien zum Arkadien der deutschen Linken. In gewisser Weise kann man das auch in die lange deutsche Tradition der Italien-Reise einordnen. Auch im Merve-Kollektiv gab es Anfang der siebziger Jahre die Idee, nach Italien zu fahren, allerdings nicht über die Alpen, sondern nur über die Transitautobahn nach Wolfsburg, um dort in die revolutionäre Betriebsarbeit zu gehen. Bei VW standen damals 6 000 Arbeiter aus Süditalien am Band. Das Merve-Kollektiv plante, eine Kneipe mit Diskussionsräumen zu eröffnen, um die Arbeiter zum Subjekt ihres eigenen Klassenkampfes zu machen. Das entsprach einer Grundidee des Operaismus. Die Expedition nach Wolfsburg ging aber gründlich schief. Die Büchermacher stellten fest, dass es überhaupt keine geeigneten Räumlichkeiten gab, weil die Autostadt so kleinteilig parzelliert war. Zu allem Unglück lief in Wolfsburg auch ihre Gruppendynamik auseinander. Einer der Genossen zog sich vor den anderen aus. Doch von den anderen hatte niemand Lust, aus dem Theoriekollektiv eine Kommune zu machen. Betreten fuhren sie am nächsten Morgen nach Berlin zurück.
In ihrem 1977 erschienenen Buch »Weibliche Produktivkraft, gibt es eine andere Ökonomie? Erfahrungen in einem linken Projekt« beschreibt Merve Lowien, ebenfalls Mitbegründerin des Verlags, die ersten Jahre des Kollektivs. Es ist ein Dokument über die vielen Widersprüche und Schwierigkeiten, die man in einem linken Kollektiv auszuhalten hatte. Gleichzeitig war es aber auch ihr Abschiedsgruß.
Lowiens Buch, das voller Anekdoten steckt, war für mich eine ganz wichtige Quelle. Sie hat es als Dissertation beim linken, dem Verlag nahestehenden Publizistik-Professor Harry Pross an der Freien Universität Berlin eingereicht. Man muss diese Chronik lesen, um zu verstehen, warum »die Franzosen« bei den Merves so eingeschlagen haben. Das waren alles Autoren, die den Diskurs selber zum Thema machten, die Fragen nach den Effekten von bestimmten Sprechweisen stellten. Und zwar besonders im Hinblick auf die Sprechweisen der linken Intellektuellen. Die Diskussionsprotokolle, die in Lowiens Buch abgedruckt sind, machen deutlich, warum Foucaults Abhandlung über die Ordnung des Diskurses so wichtig war. Friedrich Kittler hat Foucaults Diskursanalyse als »Bulldozer-Arbeit« bezeichnet. Foucault räumte den ganzen Schutt der Diskussionskultur beiseite, indem er Sprache auf ihre Materialität herunterkochte. Ähnlich wie Adorno 20 Jahre zuvor markierte er für Gente einen echten Einschnitt.
1978 war dem Merve-Kollektiv der Marxismus zu eng geworden, die Bücher wurden – wie auch die Kämpfe – kleiner und mikropolitischer, der Übertitel der Buchreihe »Internationale Marxistische Diskussion« verschwand. Worin sehen Sie die Gründe für die Abkehr vom Marxismus?
Der Hauptgrund war sicher eine wachsende Enttäuschung, die sich daran entzündete, welche Dynamik die theoretische Praxis im marxistischen Horizont annahm. Für die Betriebsarbeit waren die Merve-Genossen nicht geschaffen. Von ihrem Autor Toni Negri wurden sie dazu gedrängt, es noch einmal zu versuchen und in Wolfsburg Arbeiterfragebögen zu verteilen. Aber dazu kam es nicht. Die hehren Ziele, die man sich gesetzt hatte, also die Aufhebung der Trennung von Kopf- und Handarbeit, Theorie und Praxis, das alles zu vermitteln und zu versöhnen, mussten in die totale Frustration führen. Es ging darum, die klassenlose Gesellschaft in den eigenen Reihen immer schon vorwegzunehmen. Das war einfach eine zu große Aufgabe. Mit den französischen Theoretikern, die nach dem Krieg zuerst die besten Marxisten und dann die schlausten Renegaten waren, konnte man sich vom orthodoxen Marxismus verabschieden, ohne aufzuhören, radikal zu sein.
Diedrich Diederichsen zufolge bildeten »Rhizom« von Deleuze/Guattari oder »Patchwork der Minderheiten« von Jean-François Lyotard in den achtziger Jahren einen Ausweg aus den redundanten marxistischen Fragestellungen der Seminare; diese manifestartigen Texte wurden als Ersatz oder Fortsetzung von politischen Diskussionen gelesen und sie beschäftigten sich mit Fragen, die man sich auch in der Kunst stellte. Konnte Merve von der neuen gesellschaftlichen Relevanz von Kunst und einer Theorie, die selbst Züge einer ästhetischen Praxis annahm, in gewisser Weise profitieren?
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Neoavantgarden in der Kunst versucht, so immateriell wie Theorie zu werden – wenn man zum Beispiel an die Konzeptkunst der sechziger Jahre denkt. In den achtziger Jahren kehrte sich das um: Die Theorie nahm die Opazität von Kunstwerken an. Das war auch eine Folge eines theoretischen Begehrens nach Materialität. Die Bleiwüsten der Gesellschaftskritik wurden von Bildern durchschossen. Die Institutionen der Kunstwelt wurden zum Heimspiel der Theorie. Ich glaube, dass sich das bis heute nicht wesentlich geändert hat. Verlage wie Merve haben diese Entwicklung vor 30 Jahren vorbereitet. Ab Mitte der Achtziger bezeichneten die Verleger ihre Reihe als Gesamtkunstwerk.
Aber auch das Interesse an rechten Denkern wuchs. »Die Linken fangen jetzt an, die Rechten zu lesen« schreibt Peter Gente in einem Brief an Foucault. Könnte man behaupten, dass Leute aus dem Merve-Umfeld – Norbert Bolz oder Walter Seitter beispielsweise – damals vielleicht schon Jüngersche Waldgänger waren?
Jacob Taubes hat damals in einem immer noch lesenswerten Interview den Unterschied von Avantgarde und Elite erklärt. Avantgarden verstehen sich als Vorhut gesellschaftlicher Bewegungen. Eliten ist es egal, was die Masse macht. In diesem Sinne könnte man sagen, dass die Theorie in den achtziger Jahren elitär wurde. Auch die Merves pflegten in den achtziger Jahren einen bisweilen obskuren Ton. Das war auch eine Konsequenz aus dem Verzicht auf Repräsentation. Elitäre Konzepte von Intellektualität sind aber immer eher rechts beheimatet gewesen. Auch aus diesem Grund wurden Autoren wie Ernst Jünger und Carl Schmitt plötzlich für Linke interessant.
Wo sehen Sie den Stellenwert der Theorie heute?
»Where are we now«, die Reminiszenz von David Bowie an das Berlin der achtziger Jahre, passt auch ganz gut auf die derzeitige Theoriesituation. In sozialen Bewegungen wie Occupy oder bei David Graeber spielt Theorie keine entscheidende Rolle. Das sind eher Formen von Aktionismus. An den Universitäten findet so etwas wie eine Redisziplinierung statt. Wir erleben – das kann ich an der Humboldt-Universität beobachten – gerade eine Restaurationsperiode im Zeichen von Sachzwängen. Theoretische Spekulation findet heute vor allem im Kunstbetrieb und im Theater statt. Geschichtsphilosophisch würde ich sagen: Wir sind im Posthistoire der Theorie.
Der lange Sommer der Theorie endet Ihrer Meinung nach in den neunziger Jahren. Irgendwann scheint auch der Merve-Verlag nicht mehr am Puls der Zeit gewesen zu sein. Worin sehen Sie die Gründe?
Ich glaube, der Merve-Verlag ist in den achtziger Jahren in eine hermetische Kunstecke hineingeraten, aus der dann nur noch schwierig herauszukommen war. Die Reakademisierung der Theorie in den neuen Kulturwissenschaften hat ihnen in den neunziger Jahren nicht mehr eingeleuchtet.