Atheismus in den muslimischen Communities

Atheisten im Abwehrkampf

Nicht nur in islamischen Ländern, auch in Europa müssen sich Atheisten und Agnostiker gegen die Islamisierungsversuche in den türkischen und arabischen Communities wehren. Der Fall des jungen Homo­sexuellen Nasser el-A. aus Berlin zeigte, welche schwerwiegenden Konflikte dies auslösen kann.

Es ging gelassen zu bei der Berliner »Mahnwache gegen religiösen Fundamentalismus«, was nicht selbstverständlich ist für eine Veranstaltung dieser Art. Mitte Februar hatte das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus ans Brandenburger Tor gerufen. Die Zahl der Teilnehmer blieb überschaubar, diese waren dafür umso heterogener: Neben Juden, Muslimen, Christen und Aleviten waren auch Atheisten gekommen.
Geeint in der Abscheu vor dem »Islamischen Staat« (IS), Boko Haram und al-Qaida trugen die Demonstranten Plakate in den Händen, auf denen die Religionszugehörigkeit der Träger sowie die Forderung »Kein Morden im Namen Gottes« stand. Für die Atheisten gab es zunächst kein Schild, beim nächsten Mal soll das anders werden. Weitere Mahnwachen sollen folgen. Die Initiatorin und Anwältin Seyran Ateş kündigte an, die Aktion in Monatsrhythmus zu wiederholen.
Muslime und Atheisten Hand in Hand gegen den Jihad – das Bild ist keineswegs charakteristisch für das Verhältnis zwischen den beiden Gruppen. Anders als etwa in der Türkei lässt der Staat die Atheisten hierzulande gewähren. Dort hatte ein Gericht Anfang März die Internetseite des ersten Atheisten-Verbandes des Landes wegen »Beleidigung religiöser Werte« sperren lassen. Die Website des Verbandes könne zu einer »Störung der öffentlichen Ordnung« beitragen (s. Seite 4). Wenn es nach einigen Muslimen geht, wäre das auch hierzulande genau der richtige Weg.
Bereits vor einiger Zeit warnte der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, auf einer Veranstaltung im Jüdischen Museum in Berlin, in Deutschland wachse neben religiösem Extremismus zunehmend auch ein lautstarker Extremismus von Atheisten, ja, ein »atheistischer Fundamentalismus«. »Areligiöse Extremisten« seien in Deutschland mittlerweile »in der Lage, sich laut zu artikulieren und zu krakeelen«, so der Islamfunktionär. »Was den Fundamentalismus betrifft, gibt es dieselben Phänomene bei Atheisten wie bei Gläubigen«, zitiert ihn die Katholische Nachrichten-Agentur Mazyek. Dies sei etwa in der Beschneidungsdebatte sichtbar geworden, die gezeigt habe, wie bei »radikalen Atheisten alle Dämme gebrochen« seien.

Mordende Fanatiker mit jenen gleichzusetzen, die der Welt mit Aufklärung statt Transzendenz begegnen wollen – den Marokkaner Kacem El-Ghazzali überrascht das nicht. Ihm sind Versuche, vor allem atheistische Migranten aus mehrheitlich muslimischen Ländern anzugreifen, seit langem geläufig. Der Blogger bekennt sich offen zum Atheismus. Weil er nicht mehr an den Islam glaubt, bekommt er Morddrohungen und musste sein Herkunftsland verlassen. 2011 floh el-Ghazzali in die Schweiz. Heutzutage sitzt er im Leitungsgremium des Atheistenverbandes International Ethical and Humanist Union bei den Vereinten Nationen.
Im Jahr 2011 hatte das Meinungsforschungsinstitut Info GmbH die Studie »Deutsch-Türkische Lebens- und Wertewelten« vorgestellt. Damals stimmten der Aussage »Ich wünsche mir, dass in Deutschland irgendwann mehr Muslime als Christen wohnen« 46 Prozent der befragten Migranten zu. 25 Prozent waren der Meinung, Atheisten seien »minderwertige Menschen«.
Für el-Ghazzali gibt es zwei Sorten von Migranten. Auf der einen Seite jene wie ihn, die ihre mehrheitlich muslimische Heimat verlassen haben, weil sie die religiösen Ansprüche der Mehrheitsgesellschaft nicht mehr ertragen mochten. Dann gebe es solche, die mit muslimischen Migrationshintergrund in eine nichtmuslimische Gesellschaft hinein geboren werden: »Die haben oft eine starke emotionale Verbindung zur Religion«, sagte el-Ghazzali der Jungle World. Der Islam sei ein Weg, ihre Marginalisierungserfahrungen zu kompensieren. »Sie sprechen dann voller Überzeugung vom Koran, selbst wenn sie gar keine Ahnung davon haben.« Der Islam als Identitätskrücke. Solche habe er in seiner eigenen Familie. »Mein Cousin wurde in Frankreich geboren, er spricht kein Wort Arabisch, aber für ihn ist alles, was mit Religion zu tun hat, eine rote Linie. Darüber kann man mit ihm nicht diskutieren«, sagt el-Ghazzali.
Diese Art der Identitätsbildung sei oft familiär vorbestimmt, meint er. Selbst moderate Muslime hätten in der Diaspora oft Angst, dass ihre Kinder sich kulturell entfremden. »Für sie ist der westliche Lebensstil, die westliche Zivilisation, die sie sich ja selbst ausgesucht habe, dann plötzlich eine Gefahr«, sagt el-Ghazzali. Ein marokkanischer Mann, aufgewachsen in konservativem Umfeld, in dem Jungs nicht mit Mädchen spielen dürfen – »wenn dessen Tochter in Berlin geboren wird, fragt er sich schon: Wie kann ich retten, was mir wichtig ist?« sagt el-Ghazzali.

Er erinnert an den Fall des jungen libanesisch-stämmigen Homosexuellen Nasser el-A. aus Berlin, dessen Familie im vergangenen Monat der Prozess gemacht wurde. Nasser war 15 Jahre alt, als er sich gegenüber einigen Schulfreunden outete. Es dauerte nicht lange, da wussten es seine Eltern. Seine Mutter habe ihn als »Schwuchtel« beschimpft, sein Vater ihm gedroht, er werde ihm ein Messer in den Hals rammen. Schon zuvor hatten seine Angehörigen überlegt, dass Nasser homosexuell sein könnte. Sie sollen ihn ausgepeitscht und mit heißen Flüssigkeiten übergossen haben. Anschließend entführten sie ihn und versuchten, ihn in den Libanon zu schaffen, um ihn dort zwangszuverheiraten. An der rumänisch-bulgarischen Grenze stoppte Interpol die Entführung, und Nasser wurde nach Berlin zurückgebracht. Ein extremer Fall, gewiss, und doch symptomatisch für das, was Atheisten in einem muslimischen Diaspora-Umfeld durchzustehen haben, sagt el-Ghazzali. Auch der junge el-A. sei Atheist. El-Ghazzali spricht von einer »Generation der Opfer« – es werde versucht, dieser Generation den religiösen Lebensstil aufzuzwingen. Entweder zahlen sie mit Schlägen oder mit der Ächtung durch die eigene Familie.

Die Mehrheitsgesellschaft trage an diesen Verhältnissen eine Mitschuld, sagt el-Ghazzali und fügt hinzu: »Der Westen sieht alle Menschen aus muslimischen Ländern als eine Gruppe. Sie glauben, alle Menschen dort seien religiös – und deshalb denken sie, auch jeder Orientale, den sie hier auf der Straße sehen, muss religiös sein.« Das gelte auch für ihn: »Sobald sie meinen Namen hören, denken sie, ich sei Moslem. Und dann fragen sie, wie es nur möglich ist, dass das nicht der Fall ist.«
Einerseits profitieren Menschen wie er von der westlichen Freiheit. Doch die nutzen auch andere, sagt el-Ghazzali. »In Deutschland sind es Leute wie der Salafistenprediger Pierre Vogel oder in Belgien die Gruppe Sharia4Belgium.« Diese würden im Schutz der Meinungs- und Religionsfreiheit Andersdenkende in Europa bedrohen. Er selbst sei beispielsweise auf seiner Facebook-Seite mit dem Satz bedroht worden: »Nicht wir haben entschieden, wer dich tötet, es war Allah.« Nachdem er die Schreiberin angezeigt hatte, gab es eine Gerichtsverhandlung in St. Gallen. »Der Richter gestand der aus dem Kosovo stammenden Frau zu, es handele sich nicht um eine Drohung, sondern nur um ein Zitat aus dem Koran«, sagt el-Ghazzali.
Wenn so etwas häufiger passiere, werde man paranoid. Doch mehr als mögliche Angriffe fürchte er eine Zukunft, in der es »normal wird, bestimmte Dinge unter der Redefreiheit zu akzeptieren« – etwa, wenn die Medien Sympathisanten von al-Qaida zeigten und »deren Jihad-Propaganda als Religionsfreiheit bezeichnet wird«.