Das Zeugensterben im NSU-Prozess geht weiter

Der tote Zeuge

Unter mysteriösen Umständen starb in Stuttgart 2013 ein ehemaliger Neonazi, der als möglicher NSU-Zeuge galt. Die Polizei legte den Fall als Suizid zu den Akten, nun ermittelt die Staatsanwaltschaft wieder.

Anfang März erklärte Kriminalhauptkommissar Helmut Hagner vom Polizeipräsidium Stuttgart vor dem baden-württembergischen NSU-Untersuchungsausschuss, es gebe »keinerlei Anhaltspunkte«, am Suizid des Neonazis Florian H. zu zweifeln. Ein anderer Beamter behauptete sogar, es gebe im Landkreis Heilbronn, in dem der junge Mann gelebt hatte, eigentlich gar keine rechte Szene. Aufgrund verschiedener Zeugenaussagen wurden jedoch im Ausschuss so schwerwiegende »Versäumnisse« und »Polizeipannen« aufgedeckt, dass sich die Staatsanwaltschaft Stuttgart vergangene Woche gezwungen sah, das Todesermittlungsverfahren im Fall Florian H. wiederaufzunehmen. Am Samstagabend starb darüber hinaus eine ehemalige Freundin von Florian H., die sich nach eigenen Angaben bedroht gefühlt hatte und deshalb nur in nichtöffentlicher Sitzung als Zeugin vor dem Ausschuss aufgetreten war, in ihrer Karlsruher Wohnung. Dem am Montag veröffentlichten vorläufigen Obduktionsbericht zufolge erlitt sie eine Lungenembolie. »Anzeichen für eine wie auch immer geartete Fremdeinwirkung« hätten sich demnach für Polizei und Staatsanwaltschaft nicht ergeben.

Im September 2013 war der damals 21jährige Florian H. in seinem Auto auf der Zufahrt zu einem Campingplatz am Cannstatter Wasen in Stuttgart verbrannt. Am Nachmittag desselben Tages hätte er sich mit Beamten der inzwischen aufgelösten Ermittlungsgruppe (EG) »Umfeld« des Stuttgarter Landeskriminalamtes (LKA) treffen sollen. Die EG Umfeld war eingerichtet worden, um Verbindungen der rechten Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) nach Baden-Württemberg aufzuklären und neue Erkenntnisse im Mordfall Michèle Kiesewetter zu ermitteln. Die Bundesanwaltschaft macht für den Mordanschlag auf die Polizeibeamtin im April 2007 in Heilbronn die beiden mutmaßlichen NSU-Terroristen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos verantwortlich. Doch schon der Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags hatte hinsichtlich der polizeilichen Ermittlungen zum mutmaßlich letzten Mord des NSU »entsetzliche Fehler« festgestellt. Eva Högl, die SPD-Obfrau im Bundestagsuntersuchungsausschuss war, widerspricht mittlerweile offen der Einschätzung, es habe sich im Fall Kiesewetter um ein »Zufallsopfer« gehandelt.
Florian H. hatte nach Bekanntwerden der NSU-Mordserie wiederholt behauptet, er kenne die Mörder der Polizistin. Nach seinem Ausstieg aus der rechten Szene berichtete er der Polizei im Januar 2012 von einem Kamerad »Matze«, mit dem er im Jugendhaus in Öhringen, östlich von Heilbronn, an einem Treffen teilgenommen haben will, an dem neben dem NSU eine zweite rechte Terrorzelle, die sogenannte »Neoschutzstaffel« (NSS), vorgestellt worden sei. Seine Aussagen wurden jedoch als unglaubwürdig eingestuft, die zuständigen Beamten unterstellten dem jungen Mann, er wolle sich gegenüber Mitschülerinnen wichtig machen. Als Motiv für die mutmaßliche Selbsttötung vermutete die Polizei später Liebeskummer.

Die Aussagen der Familienangehörigen vor dem Untersuchungsausschuss ergaben jedoch ein ganz anderes Bild. Der Vater und die Schwester von Florian H. warfen der Polizei vor, sich frühzeitig auf die Suizidthese festgelegt zu haben, und lieferten zudem handfeste Beweise für die »schlampige Ermittlungsarbeit«. Nachdem die Familie die rasche Verschrottung des Wagens verhindert hatte, fand sie in dem ausgebrannten Wrack zahlreiche Gegenstände, die die Ermittler offenbar übersehen hatten, darunter eine Pistole, eine Machete, ein Feuerzeug und einen Schlüsselbund. Wolfgang Drexler (SPD), der Vorsitzende des baden-württembergischen Untersuchungsausschusses, erklärte konsterniert: »Wir können uns keinen Reim darauf machen, warum die Polizei sie nicht gefunden hat.« Der Obmann der Grünen, Jürgen Filius, zeigte sich »bestürzt über die Qualität der Ermittlungen«. Die Familie übergab dem Ausschuss auch einen Laptop und ein Mobiltelefon, für das sich die Polizei anscheinend bisher nicht interessierte. Da die Angehörigen jegliches Vertrauen in die Ermittlungsbehörden verloren haben, einigte man sich am Donnerstag voriger Woche darauf, die Gegenstände von unabhängigen Gutachtern untersuchen zu lassen. Das LKA Stuttgart soll die Untersuchung nur beobachtend begleiten.
Der Vater von Florian H. erhob außerdem schwere Vorwürfe gegen die vom LKA eingerichtete Beratungs- und Interventionsgruppe gegen Rechtsextremismus (Big Rex). Sein Sohn habe beklagt, man zapfe dort nur Informationen von ihm ab, schütze ihn aber nicht vor ehemaligen Kameraden. Die Familie geht davon aus, dass Florian in den Tod getrieben oder ermordet wurde. Den Hinweisen, es habe Bedrohungen aus der rechten Szene gegeben, sei die Polizei jedoch nicht nachgegangen. Über die Zusammenarbeit von Big Rex mit dem zum Ausstieg gewillten Neonazi erfuhr der Ausschuss bisher wenig. Dass der zuständige Beamte in der Befragung vor dem UNtersuchungsausschuss ausweichend oder gar nicht antwortete, bezeichnete Drexler später als »nicht richtig nachvollziehbar«.

Zum Misstrauen der Familie gegenüber den ermittelnden Behörden dürfte auch die Tatsache beigetragen haben, dass die Nachricht vom Tod ihres Sohnes ausgerechnet von einem Polizeibeamten überbracht wurde, dessen Bruder ein ranghohes Mitglied des nachweislich von einem V-Mann gegründeten Ku-Klux-Klan (KKK) in Schwäbisch Hall war (Jungle World 49/13). Zu den rassistischen »Ordensrittern« gehörten zwischen 2001 und 2002 auch Kollegen der ermordeten Kiesewetter. Dem Abschlussbericht der EG Umfeld zufolge hielt sich das NSU-Trio in diesem Zeitraum mehrmals zu »privaten Festen« im Großraum Stuttgart auf, es sei aber bisher kein »direkter Bezug« von KKK-Strukturen zum NSU nachzuweisen.
Der Vater bestätigte auch, dass sein Sohn Insiderwissen über die rechte Terrorszene hatte. Er habe bereits vor der Enttarnung des Zwickauer Trios zu Hause vom NSU erzählt und später den Prozess in München, in dem allein Beate Zschäpe als mutmaßliches NSU-Mitglied angeklagt ist, als Farce bezeichnet. Das LKA hatte die Aussagen einst als Prahlereien eines Jugendlichen bewertet, musste aber mittlerweile einräumen, dass es sich dabei um eine Fehleinschätzung handelte. In einer nichtöffentlichen Sitzung wurde der Ausschuss darüber informiert, dass Kamerad »Matze« identifiziert worden sei. Bei einer polizeilichen Befragung soll er ausgesagt haben, auf einer Demonstration in Dresden 2010 durch eine einfache Unterschrift Mitglied der »Neoschutzstaffel« geworden zu sein. Dagegen habe er bestritten, mit Florian H. an einem Treffen in Öhringen teilgenommen zu haben. Nach Recherchen der Stuttgarter Nachrichten handelt es sich bei »Matze« um den Bundeswehrangehörigen Matthias K. Sein Vater soll einst bei der Elitegruppe Kommando Spezialkräfte (KSK) gedient haben, mittlerweile aber in der Mobilen Jugendarbeit in Öhringen tätig sein. Das Büro des Sozialarbeiters befindet sich just in jenem Jugendhaus, in dem nach Angaben von Florian H. das Treffen mit dem NSS stattgefunden haben soll. Der Ausschuss hat »Matze« für eine der kommenden Sitzungen im April zur Befragung bestellt und will sich ab Mai intensiv mit dem ungeklärten Mordfall Kiesewetter beschäftigen.