Heideggers Antisemitismus darf nicht relativiert werden

Schein und Zeit

Gut 50 Jahre nach Adornos »Jargon der ­Eigentlichkeit« und im Jahr eins nach der Veröffentlichung der ersten Bände von Martin Heideggers »Schwarzen Heften« suchen die Anhänger des Philosophen neue Strategien der Relativierung.
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Skandal hin, Skandal her – immer noch versuchen Heidegger-Apologeten die nachgerade klassische Argumentationslinie durchzuhalten, nach der die Ontologie des Freiburger Philosophen – wenn überhaupt – nur äußerlich, sozu­sagen durch den Zeitgeist, affiziert gewesen sei vom Nationalsozialismus. Es wird so getan, als ob zentrale Begriffe seiner Seins-Metaphysik wie das »In-der-Welt-Sein«, der »Boden« oder die »Geschichtlichkeit« keine explizite politisch-apokalyptische Bedeutung hätten. Das geht natürlich nach den durch die Nachlassveröffentlichungen publik gewordenen Einlassungen Heideggers zu Juden und Deutschen nicht mehr so einfach.
Ein über Jahrzehnte allenthalben stur wiederholtes Diktum, wonach sich in der Heidegger-Gesamtausgabe kein einziger Satz antisemitischen Inhalts finden lasse, ist nunmehr obsolet (auch wenn es der französische Heigger-Übersetzer und -Herausgeber François Fédier nochmals in der Zeit vom 18.Januar 2014 versuchte: »Der Antisemitismus, das ist der Judenhass. Bei Heidegger gibt es keine Spur von Hass«). Bemerkungen über die Verbindungen der Juden zum internationalen »Ganoventum«, Räsonnieren über die »Weltlosigkeit« der Juden, die deshalb auch keinen Platz in dieser verdienten, Geraune über die »Selbstvernichtung«, die mit dem von ihrem Ungeist gezeugten »Machwerk« (i. e. die moderne Technik) über sie gekommen sei, und Lamentieren, dass die Alliierten die Deutschen von ihrem »Geschick«, diese Vernichtung zu exekutieren, abgehalten hätten – all das prägt den Ton von Heideggers Notizen vor, während und nach dem Nationalsozialismus.
Deshalb ziehen die Heidegger-Bewunderer nun andere Verteidigungslinien. Exemplarisch dafür können die Bemühungen von Donatella di Cesare stehen, Philosophie-Professorin in Rom und Vizepräsidentin der Martin-Heidegger-Gesellschaft, die sie im Corriere della Sera vom 8. Februar zum Besten gab: Heideggers »Schwarze Hefte« böten die Gelegenheit, »sich mit der Komplexität seiner Überlegungen auf offene und kritische Art auseinanderzusetzen. Das wäre möglicherweise für die Philosophie die Gelegenheit, über die unergründlichen Abgründe der Shoa nachzusinnen.« Vermutlich also darüber, wie die Juden sich ihre Vernichtung selber eingebrockt hätten, denn dass sich die Zerstörer durch deutsche Hand selbst zerstörten, legt Heidegger unter anderem mit Sentenzen wie dieser aus dem Jahr 1942 nahe: »Die Judenschaft ist im Zeitraum des christlichen Abendlandes, d. h. der Metaphysik, das Prinzip der Zerstörung.«

Der Herausgeber der »Schwarzen Hefte« und Leiter des Martin-Heidegger-Instituts in Wuppertal, Peter Trawny, macht es sich nicht ganz so einfach: Er räumt den Antisemitismus Heideg-gers unumwunden ein, lässt ihn dann aber doch in einem allgemeinen europäischen Zeitgeist aufgehen, macht aus dem Vordenker Heidegger nach bewährter Manier einen Mitläufer, der obendrein vermutlich bis 1945 nichts von den Lagern gewusst hätte: »Eine private Voreingenommenheit gegen die Juden (...) lässt sich vor dem Hintergrund des Anfang der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts grassierenden allgemeinen Antisemitismus zwar nicht rechtfertigen, doch in ihrer Bedeutung einschränken. Nun aber ist klar, dass Heidegger dieses Ressentiment, das ich einen seinsgeschichtlichen Antisemitismus nennen möchte, zum Anlass philosophischer Gedanken gemacht hat.« Hierbei müsse allerdings gesehen werden, »dass Heidegger in den dreißiger und vierziger Jahren versucht, eine Art von Topographie der Seinsgeschichte zu entwickeln (…).  Ein Begriff des Amerikanismus wird zu entwickeln versucht, wie auch die ontotopo­graphische Bedeutung von Engländern, Franzosen und Italienern. Dass in diesem Zusammenhang das Judentum auftaucht, kann nicht überraschen.« Dabei aber präge bei Heidegger »Realitätsverlust das Verhältnis von Deutschen und Juden, was zu schwer erträglichen Behauptungen führt«. Als ob nicht jede Suche nach so etwas wie seinsförmig zementierten Volksseelen nicht im Kern schon die nationalsozialistische Sortierung der Menschen nach Rassen in sich trüge – aber das zunächst nur nebenbei. Die Salvierung Heideggers schlägt bei Trawny eine interessante, quasi pädagogische Volte: »Die Meinung, dass Heidegger nach wie vor an die Wahrheit dieser Stellen glaubte, ist nicht ernsthaft zu vertreten. Dagegen spricht nicht zuletzt Heideggers in den fünfziger Jahren wieder aufgenommene Beziehung zu Arendt. Dagegen spricht auch und vor allem, dass in den späteren ›Schwarzen Heften‹ weder von einer ›gefährlichen internationalen Verbindung‹ der Juden noch von einer etwaigen vergangenen Bedeutung einer solchen die Rede ist. Daher lässt sich fragen, ob Heidegger nicht vielleicht zeigen wollte, wie sehr sich eine philosophische Entscheidung versteigen und verirren kann.« In solcher »Irre« gäbe es »noch eine andere Freiheit – eine Freiheit zum Schrecken. Und muss es eine solche nicht geben in einem Denken, das besonders die geistigen Katastrophen des 20. Jahrhunderts erfahren hat?« (Zeit, 27. Dezember 2013; auch unlängst vertrat Trawny diese Position der produktiven »Irre« Heideggers, in einem Interview im Cicero 12/2014.)

Wenn man hier das Verb »erfahren« beispielsweise durch »verkörpern« ersetzen würde, käme man der Sache aber erst näher. Denn es geht nicht um die Interpretation einiger »problematischer Stellen«, es geht um den kategorialen Antisemitismus, wie er der Heideggerschen Ontologie innewohnt; es geht darum, dass Adornos Verdikt über eine Philosophie, die »bis in ihre innersten Zellen faschistisch« ist, gilt, auch dann, wenn ihr Vordenker und seine Nachlassverwalter sämtliche »Stellen« entfernt oder gefälscht hätten (wie im Falle der Transkription von Heideggers Abkürzung »Nat.soz« mit »Naturwissenschaften«; vgl. dazu Zeit, 26. März 2015). Denn Heideggers Philosophie ist eine des bösartigen Aushaltens; die sogenannte »ontologische Differenz«, also die zwischen Sein und Seiendem, schlägt bei ihm gegen das Seiende aus, das eben nur als Exemplar seines Seins – oder im Falle des »semitischen Nomaden« (Heidegger) seines bodenlosen Übergangsseins – gelten darf. So wie der Amerikaner eben den Amerikanismus, also oberflächlichen Materialismus, verkörpert, der Deutsche hingegen die tiefe Naturschau, und der Jude, als Vertreter der »Bodenlosigkeit«, die Nichtigkeit der seelenlosen technischen Moderne; dem Seienden bleibt nur, sich seinem Sein zu überantworten, auch wenn es in Konsequenz Vernichtung bedeutet.
Deshalb ist es auch überaus verwegen, den späteren Natur-Romantiker und Technik-Skeptiker Heidegger gegen den Bewegungs-Heidegger der Nazi-Zeit ausspielen zu wollen (wie es Trawny nahelegt); denn die »Holzwege« des Schwarzwald-Philosophen variieren seine Grundmotive allerhöchstens gelinde, um ihren Gehalt erst recht zu konservieren: Misanthrope Zivilisationskritik, autoritärer Schicksalskultus und schreckensfrohe Wesensschau bleiben die Konstanten.
Auf den inneren Zusammenhang dessen, was Trawny »Ontotopographie« nennt, mit dem Antisemitismus wies Emmanuel Faye bereits in seinem vor allem in Frankreich erregt debattierten Buch »Heidegger. Die Einführung des National­sozialismus in die Philosophie« (2009) hin. Nun gebührt ihm das Verdienst – gemeinsam mit ­Sidonie Kellerer und François Rastier –, diesen Nexus auch in der deutschen Debatte in Erinnerung gebracht zu haben (Taz, 9. April 2015): Dass nämlich die später ökologisch sich gebende »Reinigung des Seyns« die philosophische Formulierung eines klassischen antisemitischen Affekts darstellt; eine Reinigung, die der Westen verhinderte, weswegen man ihm und seiner Lebensweise auf dem Todtnauberg ewig gram blieb.
Dem Amerikanismus gram zu sein, ist in Frankreich wiederum ohnehin die Regel und nicht die Ausnahme, was wohl auch einer der Gründe dafür sein mag, dass Heidegger (ähnlich wie Nietzsche) zum Stammvater vor allem des Poststrukturalismus wurde und zum Gegenstand eines Intellektuellen-Kultus, der den hiesigen noch bei Weitem übertrifft. Jürg Altwegg sprach deshalb zu Recht mit Blick auf die Erregungen über die »Schwarzen Hefte« in der französischen Öffentlichkeit von einem »Debakel für Frankreichs Philosophie« (FAZ, 13. Dezember 2013). Dieses Debakel aber hätte schon Jahrzehnte vor der Veröffentlichung der »Hefte« vermieden werden können, ja eigentlich werden müssen, hätte man nur Heideggers Seinsphilosophie als das verstanden beziehungsweise verstehen wollen, was sie ist: als deutsche Ideologie.