Die deutsche Betroffenheit

Krieg den Opfern

Immer neue Meldungen über ertrinkende Flüchtlinge lassen in Deutschland den zivilisatorischen Putz bröckeln. Während man noch Betroffenheit heuchelt, wird der Ruf nach militärischen Lösungen lauter.

Als der Ladenbetreiber Harald Höppner, der mit seiner privaten Initiative »Sea Watch« in Seenot geratene Flüchtlinge retten will, in Günther Jauchs Fernsehtalk eine Schweigeminute für die ertrunkenen Flüchtlinge durchsetzte, nannte die Huffington Post das einen »großen TV-Moment«. Auch in anderen Redaktionen freute man sich darüber. Denn zum einen ist Stille allemal besser, als Jauch beim Menscheln zuzuhören, zum anderen gab es damit wenigstens irgendetwas Neues zu berichten. Ansonsten ist das Thema aus journalistischer Sicht längst so tot wie die Flüchtlinge selbst. Seit Jahren kommen deren Boote übers Mittelmeer, seit Jahren saufen sie regelmäßig ab. Jeder weiß das, niemanden interessiert es, und doch sind die Medien in unschöner Regelmäßigkeit gezwungen, Schwerpunkte daraus zu basteln. Präsident, Kanzlerin und Vizekanzler seufzen routiniert-artig »Tragödie« in die Mikrophone, und drumherum werden informative Schaubilder platziert, die aber auch nichts daran ändern, dass die Mehrheit der Bevölkerung Frontex weiterhin für eine Kondommarke hält und Lampedusa in der Ikea-Beleuchtungsabteilung verortet. Die Betroffenheit vor den Bildschirmen kommt über ein kopfschüttelndes »Die armen Leute!« ohnehin nicht hinaus.
Sicher würden die Reaktionen empathischer ausfallen, handelte es sich bei den Opfern um deutsche Kreuzfahrtreisende oder wenigstens um andere weiße Europäer, aber so ist es eben nicht. Im Mittelmeer sterben hauptsächlich Menschen aus Ländern mit so sonderbaren Namen wie Eritrea, Nigeria oder Kongo. Kaum jemand weiß, ob diese Länder eher christlich oder eher islamisch sind, wer dort gerade regiert, ob dort Krieg herrscht, Ebola oder Hungersnot. Was man dagegen weiß, ist, dass »wir« bereits zu viele von diesen Leuten hier haben, dass schwarze Männer im Park Drogen verkaufen und dass das alles irgendwie problematisch ist mit »uns« und »denen«. Kurz: Das Boot ist voll. Diese zynische Metapher, Anfang der neunziger Jahre von den rechtsextremen Republikanern wiederaufgegriffen, wurde – anlässlich des Pogroms von Hoyerswerda – im September 1991 vom Spiegel als Titelbild aufbereitet und motivierte in der Folge eine Serie von rassistischen Morden und Brandanschlägen auf Asylbewerberheime, bis schließlich CDU, CSU, SPD und FDP das Asylrecht so tiefgreifend änderten, dass es seiner Abschaffung gleichkam. Über 20 Jahre sind seither vergangen, doch das Boot ist immer noch voll. Hierüber herrscht weitgehende Einigkeit bei Politikern, Medienvertretern und jenem Teil der Bevölkerung, der sich bis heute zwanghaft als »das Volk« bezeichnet. Weshalb sich die einzig tatsächlich humane Vorgehensweise, nämlich die Wiederaufnahme und Ausweitung der inzwischen eingestellten italienischen Seerettungsoperation »Mare Nostrum«, quasi von selbst verbietet.

Die eigentliche Tragödie der zahllosen ertrinkenden Menschen wurde diesmal schon nach wenigen Tagen abgelöst von der gefühlten Tragödie eines in »Flüchtlingsströmen« ertrinkenden Europa, und die Grenzsicherungsoperation »Triton« erhält nun jenes Geld, das man »Mare Nostrum« seinerzeit nicht zur Verfügung stellen wollte. Vorrangiges Ziel von »Triton« ist nicht etwa die Rettung der Flüchtlinge, sondern der »Kampf gegen kriminelle Schleuserbanden« (Sigmar Gabriel), und fix fand sich auch ein neuer Ansatz, wie dieser Kampf zu führen sei – mittels Zerstörung der Boote nämlich. Eine Idee, so simpel und betörend, dass sie nicht nur von den europäischen Staatschefs, sondern auch von den betroffenheitsmüden Medien äußerst positiv aufgenommen wurde. Nur dem französischen Präsidenten François Hollande kam wenigstens der Gedanke, dass man sich vielleicht so was wie ein Uno-Mandat holen müsse, bevor man anfängt, Bomben auf libysche Boote zu werfen. Den deutschen Vizekanzler kümmert das so wenig wie die Perspektive Tausender Flüchtlinge, die dann im wahrsten Sinne des Wortes an der Küste Libyens gestrandet wären. Er fabuliert stattdessen von »stabilen Strukturen«, zu denen man diesem Land verhelfen müsse, um mit dem Flüchtlingsstrom »fertig zu werden«. Dummerweise nur hat sich Europa seit Muammar al-Gaddafis Sturz nicht gerade mit Unterstützung für Libyen hevorgetan, weshalb es dort mit »stabilen Strukturen« allgemein nicht allzu weit her ist.
Trotzdem erscheint die Idee exterritorialer Selektionslager in Afrika vielen als die beste Lösung, um einerseits die Grenze dicht zu halten und andererseits nicht alle paar Wochen bei Jauch Betroffenheit heucheln zu müssen. Nicht nur Vertreter der Rest-SPD favorisieren ein solches Vorgehen, auch die Neokonservativen von der »Achse des Guten« denken schon fleißig mit, ja, Henryk M. Broder sogar weiter. Ginge es nach ihm, müssten die Flüchtlinge das Mittelmeer gar nicht erst erreichen. »Die reichen arabischen Staaten« sollten sie aufnehmen, denn die »haben genug Platz, viel Geld, allein, es fehlt der Wille«. Mit Platz ist hier die saudische Wüste gemeint, die tatsächlich noch dünner bevölkert ist als Brandenburg, wenn auch landschaftlich ein bisschen karger. Was jedoch Geld und fehlenden Willen betrifft, versäumt Broder zu erläutern, weshalb die Saudis nicht sein apodiktisches Fazit übernehmen sollten, das da lautet: »Je mehr wir zu uns kommen lassen, umso mehr werden ihr ­Leben riskieren und verlieren, um zu uns zu kommen.« Aber diese »saudische Lösung« vertritt Broder ohnehin exklusiv. Selbst seinem Kollegen bei der »Achse des Guten«, Quentin Quencher, geht es nur darum, die Flüchtlinge aus europäischen Gewässern zu entfernen: »Das wird ohne Militär nicht gehen, ohne massive Militärpräsenz im Mittelmeer, die Jagd auf die Schlepperboote macht und die Flüchtlinge zurück dahin bringt, dort wo sie sich den Seelenverkäufern anvertraut haben.«

Dieses direkte Zurückbringen auf See aufgegriffener Flüchtlinge (»Push back«) wird von Australien bereits praktiziert und findet auch in Europa immer mehr Befürworter. Der niederländische »Nationaldemokrat« Geert Wilders etwa hat dazu sogar ein Filmchen mit dem Titel »NO WAY – You will not make the Netherlands home« produziert, das hierzulande von Pegida verbreitet wird. Aber auch Die Welt stößt ins selbe Horn: »Es klingt unmenschlich, ist aber nicht von der Hand zu weisen: Je mehr Schiffe zwischen Lampedusa und Libyen kreuzen, je häufiger Schiffe aus EU-Staaten Flüchtlinge aus den verrotteten Kähnen der Schlepperbanden retten, desto attraktiver wird die Flucht.« Dem pflichtet Innenminister Thomas de Maizière bei: »Natürlich ist richtig: Je mehr Boote man für die Seenotrettung zur Verfügung stellt (…), desto mehr werden Schlepper angeregt, dann ihr Geschäft fortzusetzen.« Bei all diesem Schwadronieren über Abwehrtaktiken wird wie selbstverständlich unterstellt, dass die Mehrzahl derer, die da übers Meer geschippert werden, kein Anrecht auf Asyl habe. Da können die Kriege in Syrien oder im Jemen, die Massenmorde von Boko Haram, IS oder den diversen al-Qaida-Ablegern noch so oft über die Bildschirme flimmern – die Grundannahme gegenüber jedem Neuankömmling lautet: »Wirtschaftsflüchtling«. Und die Rechtfertigung für uns selbst: »Wir sind nicht schuld!« Letzteres ist nicht nur Broder wichtig, auch Oliver Stock klagt im Handelsblatt: »Ein halbes Jahrhundert nach dem Ende jeder europäischen Kolonisationspolitik erklären wir uns notorisch für jede noch so indirekte negative Folge dieser Kolonisation zuständig.« Spätestens an dieser Stelle wird die Debatte absurd, denn sowohl Broder als auch Stock sollten wissen, dass die Schuldfrage für das Asylrecht völlig unerheblich ist.
Unerheblich für die deutschen Kommentatoren aus Politik und Medien sind dagegen offensichtlich die persönlichen Tragödien der Flüchtlinge. Denn nahezu allen Wortäußerungen der vergangenen Woche, wie betroffen sie auch daherkamen, war gemein, dass hier nicht über Menschen gesprochen wurde, sondern über »Ströme«, nicht über Individuen, sondern über »Massen«, einem »Ansturm«, dem man »begegnen muss«. Kurz, es wurde wieder einmal über Flüchtlinge gesprochen wie über Schädlinge. Diese Haltung hat einen Namen, er lautet: Rassismus.