Der Lüneburger Auschwitz-Prozess

Die Vertretung an der Rampe

Moralisch schuldig, strafrechtlich nicht verantwortlich, so sieht sich der Angeklagte im Lüneburger Auschwitz-Prozess. Dieses zweifelhafte Schuldeingeständnis verschafft ihm öffentliche Anerkennung.

Der Angeklagte ist 93 Jahre alt und heißt Oskar Gröning. Der Staatsanwalt Jens Lehmann verlas Ende April vor der 4. Strafkammer des Landgerichts Lüneburg die Anklageschrift: Gröning wird vorgeworfen, zwischen dem 16. Mai und dem 11. Juli 1944 im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz Beihilfe zum Mord in mindestens 300 000 Fällen geleistet zu haben. Obwohl er bereits 1942 dort seinen Dienst antrat, beschränkt sich die Staatsanwaltschaft auf den Zeitraum der sogenannten Ungarn-Aktion, bei der in weniger als 60 Tagen 430 000 ungarische Juden nach Auschwitz verschleppt wurden. Nach Schätzungen wurden 300 000 Menschen sofort in den Gaskammern ermordet, die anderen zunächst zur Sklavenarbeit gezwungen.
Gröning hatte als Buchhalter die Aufgabe, das Geld und die Wertgegenstände der nach Auschwitz Deportierten zu sammeln und auf Konten der SS zu verbuchen. Zudem wird ihm der regelmäßige Dienst an der Rampe, an der die ankommenden Juden selektiert wurden, zur Last gelegt. Er habe somit dazu beigetragen, dass die Tötungsmaschinerie reibungslos lief und sei folglich als Mittäter einzustufen, so die Anklage.

In seiner persönlichen Erklärung zum Prozess­auftakt bestritt der ehemalige Angehörige der Waffen-SS die Anklagepunkte nicht. Nur in Bezug auf seinen Dienst an der Rampe schränkte er die Anklage ein. Lediglich dreimal sei er dort als Vertretung gewesen und habe das Gepäck der verschleppten Menschen bewacht. Groning räumte ein, dass er volle Kenntnis davon gehabt habe, was in Auschwitz geschah: die systematische Ermordung von mehr als 1,1 Millionen Menschen, hauptsächlich Juden aus ganz Europa. Er trage daher moralische Mitschuld, so Gröning. Dazu hatte er sich bereits in einem Interview mit dem Spiegel im Jahr 2005 bekannt.
Das Schuldeingeständnis unterscheidet den 93jährigen zunächst etwa von Robert Mulka, dem Adjutanten des Lagerkommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, und vielen anderen NS-Tätern, die stets behaupteten, von dem Massenmord nichts gewusst zu haben. Grönings Bekenntnis galt etlichen Medien deshalb als eindrucksvoll, sei gar »ein neuer Akzent in der unguten Geschichte der juristischen Aufarbeitung der NS-Verbrechen«, so Heribert Prantl in der Süddeutschen Zeitung. Doch angesichts weiterer Äußerungen des Angeklagten schwindet der Unterschied zu Mulka und anderen. Denn mit diesen teilt er die Selbststilisierung zum Rädchen im Getriebe. Zudem bekennt er sich zwar »moralisch mitschuldig«, im juristischen Sinn hält er sich jedoch für unschuldig, wie er der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung 2013 sagte.
Die Unterscheidung zwischen einem Beichtstuhl, in dem moralische Schuld bekannt werden kann, und einem strafrechtlichen Prozess, in dem es um persönliche Verantwortung im juristischen Sinn geht, scheint in Deutschland nicht sehr geläufig zu sein. Hierzulande leben zwar die »Weltmarktführer im Büßen«, wie der Kulturwissenschaftler Ekkehard Knörer feststellte, aber Arbeitsverweigerer, wenn es darum geht, die ­nationalsozialistischen Massenmörder vor Gericht zu stellen. Allein von den ehemaligen 6 500 KZ-Aufsehern wurden bislang lediglich 49 verurteilt. Der Respekt, der dem Angeklagten nun entgegengebracht wird, ist nicht nur deshalb suspekt.
Zudem denkt Gröning offenbar selbst, er sitze im Beichtstuhl und es sei ausreichend, eine historische Tatsache zuzugeben: Ein SS-Angehöriger konnte in Auschwitz nicht unschuldig sein. In Lüneburg sind aber nicht moralische Bekenntnisse, sondern lediglich die Taten von Interesse, die kollektiv organisiert und zugleich individuell begangen wurden.

Über diese juristisch zu urteilen, ist alles andere als leicht. Die Shoah hat die herkömmlichenRechtskategorien gesprengt. Doch obwohl sie die Vorstellung von einem angemessenen Verhältnis zwischen Tat, Schuld und Strafe unwiderruflich obsolet gemacht hat, muss das Landgericht dem Angeklagten Gröning seinen Beitrag zum Massenmord juristisch nachweisen. Genau deswegen wies Franz Kompisch, der Vorsitzende der 4. Strafkammer, zu Prozessbeginn auf die Grenzen des Strafrechts hin, das niemals den NS-Verbrechen gerecht werden könne.
Was also tun, wenn das Blut eben nicht unmittelbar an den Händen der Täter klebt? Hannah Arendt betonte, dass es in politischen und moralischen Angelegenheiten so etwas wie Gehorsam nicht gebe. Wenn ein erwachsener Mensch gehorche, dann unterstütze er in Wirklichkeit den Befehlenden. Daher sei das perfekte Funktionieren der selbsternannten Rädchen im Getriebe nicht als Gehorsam, sondern als umfassende Unterstützung zu bezeichnen. Der arbeitsteilige Massenmord war zentrales Charakteristikum der NS-Vernichtungspolitik. Die Selbst­stilisierung zum Rädchen im Getriebe ist aber juristisch schlichtweg belanglos und wird den ­Angeklagten nicht vor den Fragen nach seiner persönlichen Verantwortung bewahren.
Solche Fragen wurden dem ehemaligen SS-Angehörige bereits 2005 im Interview mit dem Spiegel gestellt. Ob er sich als Mittäter betrachte, wollte das Magazin damals wissen. Dies verneinte Gröning vehement. Er sei ungewollt Schuldiger, juristisch aber nicht schuldig. Die Vergasung von Juden sei ein Mittel der Kriegsführung gewesen. Ob er sich denn moralisch schuldig fühle? »Vom christlichen Standpunkt betrachtet, von den Zehn Geboten her, vom Gebot ›Du sollst nicht töten‹, ist Mithilfe schon ein Verstoß. Obwohl, auch das ist eine Frage: War das Mithilfe zum Töten, was ich getan habe?«
Gröning dürfte auf diese Frage in absehbarer Zeit eine Antwort erhalten. Am 29. Juli soll das Urteil in dem Prozess gesprochen werden. In der Zwischenzeit könnte der Angeklagte sich das Urteil im Prozess gegen John Demjanjuk aus dem Jahre 2011 durchlesen. Das Landgericht München II sprach Demjanjuk damals der Beihilfe zum Mord in 28 000 Fällen schuldig und verurteilte ihn zu fünf Jahren Haft. Es konnte dem gebürtigen Ukrainer, der als Angehöriger der SS-Hilfstruppen in Sobibor Dienst geleistet hatte, zwar keinen konkreten Mord individuell nachweisen. Es befand aber bereits den Dienst in dem Vernichtungslager als ausreichend für die Ver­urteilung, da Demjanjuk sich so als »Teil der Vernichtungsmaschinerie« betätigt habe.

So könnte auch der Prozess in Lüneburg in Erinnerung rufen, dass die persönliche Verantwortung der Täter für das eigene Handeln im Nationalsozialismus nicht hinweggezaubert werden kann – nicht durch den Verweis auf den Kadavergehorsam oder die persönliche Anpassung an das Massenbewusstsein der Zeit. Ein juristisches Urteil ist dafür unerlässlich. Darum, nicht um die Höhe der Strafe, geht es in Lüneburg, wie auch die Nebenklägerin und Auschwitz-Überlebende Éva Pusztai-Fahidi betonte. »Wir Überlebenden sitzen in einem Gericht und er muss sich verteidigen«, sagte sie über den Prozess, den sie als »wichtige Genugtuung« bezeichnete.
Das wird sicher diejenigen, die meinen, man solle einen alten Mann doch nun in Ruhe lassen, da er ohnehin an der moralischen Schuld schwer zu tragen habe, nicht beeindrucken. Diese Menschen, die sich zurzeit sehr gern in Leserkommentarspalten im Internet verewigen, seien auf eine Bestimmung aus dem Strafgesetzbuch verwiesen: Mord verjährt nicht.