Die Türkei vor den Wahlen

Die Träume des Tayyip E.

Die bevorstehenden Parlamentswahlen in der Türkei könnten tiefgreifende Veränderungen nach sich ziehen. Doch so recht will niemand daran glauben, dass sich die autoritäre AKP einfach entmachten lässt.

Wovon träumt eigentlich Recep Tayyip Erdoğan? Nicht, was er beabsichtigt. Sondern wörtlich: Wovon träumt er, wenn aller Jubel verhallt, jeder Gegner abgewatscht und er für sich allein ist? Mit Gewissheit sagen kann man das nicht. Aber was man weiß: Viel kann es nicht sein, was er träumt. Zum Schlafen hat der Mann keine Zeit. Denn wenn am Sonntag in der Türkei ein neues Parlament gewählt wird, wird er ein Programm hinter sich gebracht haben, das selbst dann beachtlich ist, wenn der türkische Staatspräsident deutlich jünger als 61 Jahre wäre: Jeden Tag mindestens eine Kundgebung, dazu hier ein Besuch, dort eine Eröffnung, alles von einem Dutzend Fernsehsendern übertragen. Seinen letzten freien Sonntag hatte er, so zeigt sein öffentlich einsehbarer Terminkalender, irgendwann im April.
Dabei steht Erdoğan formal betrachtet nicht einmal zur Wahl und wäre, so ganz verfassungsmäßig, als Präsident eigentlich zur parteipolitischen Neutralität verpflichtet. Warum also legt er sich derart ins Zeug und absolviert mindestens so viele Auftritte wie Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, der nominelle Spitzenkandidat der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP)? Warum hat er auf seine versöhnliche Balkonrede, am Abend nach seiner Wahl im Sommer vorigen Jahres, keine ausgleichende Präsidentschaft folgen lassen?

Die erste Vermutung: Er hat Angst. Angst, dass die AKP erstmals seit 2002 ihre absolute Mehrheit verlieren könnte. Wenn es der Demokratischen Partei der Völker (HDP), der rainbow coalition aus der kurdischen Bewegung, kleineren linken Organisationen und Vertretern der Zivilgesellschaft, gelingt, die Hürde von zehn Prozent zu überwinden, wird die AKP nicht mehr allein regieren können. Sein eigentliches Ziel, nämlich eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit, hat Erdoğan bereits abgeschrieben. Und er ahnt vermutlich, dass am Ende seines Weges nicht eine relativ einsame restliche Amtszeit und dann ein ruhiger Lebensabend irgendwo am Mittelmeer auf ihn wartet, sondern der Prozess. Der Prozess wegen Ausplünderung des Landes, wegen des Massakers der türkischen Luftwaffe im kurdischen Dorf Roboski, der Toten von Gezi und Soma, der Unterstützung für die Jihadisten in Syrien und vieles mehr. In diesem Land wurden schon viele Menschen für weit geringere Vergehen angeklagt. Denn was in einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie der Gang der Dinge wäre – gibt es keine parlamentarische Mehrheit, gibt es eben eine Koalition –, scheint in der Türkei gegenwärtig kaum vorstellbar. Weder mit der HDP noch mit der ultrarechten Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und am allerwenigsten mit der sozialdemokratisch-kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP). Mögen deren Anhänger sich gegenseitig bezichtigen, nach der Wahl mit Erdoğan zu paktieren, und mag es gerade bei der MHP und der HDP Berührungspunkte mit der AKP geben – mit der Clique um Erdoğan wollen sie alle nichts zu tun haben.

Erdoğan ist kein Mann für Koalitionen. Vielleicht muss man sagen: Er ist es nicht mehr. Denn die AKP des Jahres 2002 war auf ihre Art ebenfalls eine rainbow coalition, im Kern der erneuerungsfreudige Teil der islamistischen Millî-Görüş-Be-wegung, um den sich weitere Gruppen und Milieus sammelten: die Gülen-Leute, der wirtschaftsliberale Teil der vormaligen Mitte-rechts-Parteien, linke, linksliberale Intellektuelle und muslimische Menschenrechtler. Davon ist nichts mehr übrig; sogar alte Weggefährten wie Abdullah Gül halten inzwischen Distanz zu Erdoğan.
Die eine Machtbasis Erdoğans ist heute ein System von Abhängigkeiten, das bis nach ganz unten reicht. Der Staat ist Beute, die oben bekommen große Stücke, nach unten fallen Krümel. Aber alle haben etwas zu verlieren. Dieses System hat die AKP nicht in die türkische Politik eingeführt. Aber nie war es so ausgeprägt wie heute.
Die andere ist, dass Erdoğan ungefähr mit dem Gezi-Aufstand von 2013 das Gewand des Islamisten aus dem Schrank hervorgekramt hat. Seine Rhetorik ist nahezu militant, erst in der vergangenen Woche phantasierte er vom islamischen Banner, das wieder über Jerusalem wehen werde. Seinen derzeit größten Kontrahenten, den HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş, bezichtigt er gern der Gottlosigkeit. Das mag dem rationalen Kalkül folgen, den religiösen Teil der kurdischen Wählerschaft zu gewinnen und so dafür zu sorgen, dass die HDP unter der Zehn-Prozent-Hürde bleibt. Aber Ideologie ist nicht bloß ein Mittel; die Islamisierung der Gesellschaft ist auch Zweck.

Die AKP hat nicht nur Staat und Gesellschaft islamisiert; sie hat zugleich das Erbe des autoritären türkischen Staats angetreten. Mit einem Unterschied freilich: Die alte Form der Krisenlösung, nämlich die Machtergreifung einer selbständigen Militärkaste, ist heute kaum vorstellbar, und dass das so ist, bleibt ein Gewinn der Erdoğan-Jahre.
Was aber wird passieren, wenn die Fronten tatsächlich so verhärtet bleiben und die AKP keine Regierung bilden kann? Neuwahlen? So recht kann sich das niemand vorstellen. Am wenigsten aber kann man sich vorstellen, dass Erdoğan das macht, was er eigentlich gemäß der Verfassung machen müsste: Den mutmaßlichen Oppositionsführer Kemal Kılıçdaroğlu von der CHP mit der Bildung einer Regierung zu beauftragen, falls dies dem Anführer der Mehrheitsfraktion, also Davutoğlu und der AKP, nicht gelingt.
Die Frage, mit wem Kılıçdaroğlu koalieren könnte, stellt sich deshalb erst gar nicht. Dabei scheint eine wie auch immer geartete Form der Zusammenarbeit zwischen der HDP und der MHP zwar unvorstellbar, wäre aber nicht nur die derzeit einzige Möglichkeit, die Herrschaft der AKP zu beenden, sondern böte noch eine weitere Perspektive: eine Versöhnung der Parteien des Bürgerkriegs; ein Ausgleich zwischen den Menschen, deren Angehörige als Kämpfer der PKK gestorben sind, und jenen, die Angehörige auf Seiten des Militärs verloren haben und als deren Interessensvertreter die MHP auftritt. Kurz: Frieden. Aber darüber redet keiner, weil sich niemand vorstellen kann, dass Erdoğan tut, was er tun müsste. Warum sollte ein Präsident, der sich im Wahlkampf derart über die Verfassung hinwegsetzt, sich hinterher an sie halten?

Sehr wohl vorstellbar ist dafür etwas anderes: Wahlmanipulation. Die Kommunalwahl im vorigen Jahr, als mindestens in Ankara offensichtlich die Stimmauszählung manipuliert wurde, gibt genug Anlass zur Sorge. Und selbst wenn jede einzelne Stimme korrekt ausgezählt wird und die HDP auf 9,8 Prozent kommt, wird das niemand glauben. Die AKP gleicht dem notorischen Lügner, dessen Haus abbrannte und dem niemand zu Hilfe kam, als er »Feuer« rief, weil dies alle für eine Lüge hielten.
Das ist die nächste große offene Frage: Wie reagiert die kurdische Bewegung darauf? Vermutlich wird sie ihr Projekt der Ausweitung der HDP – politisch gesprochen: der Umwandlung des Kurdenproblems in ein Demokratieproblem – aufgeben und sich auf ihren alten Kern besinnen. Eine historische Chance wäre vertan. Und vermutlich wird das nicht friedlich vonstatten gehen. Noch kann Abdullah Öçalan die im Bürgerkrieg aufgewachsene heutige Generation in Zaum halten. Ob er das im Fall einer Niederlage der HDP noch kann – und will –, ist offen.
So wenig man sich also vorstellen kann, dass Erdoğan sich an die Spielregeln hält, so gut kann man sich vorstellen, dass er einen Bürgerkrieg im Osten riskiert – oder einen Einmarsch in Syrien, ein anderes Szenario, sollte er das Parlament auflösen und mit Notstandsgesetzen weiterregieren.
Das führt zurück zur Frage: Warum macht er das? Und wovon träumt er nachts? Die Antwort darauf liefert ein Satz, den er immer wieder anführt. »Sie haben mir gesagt: Du wirst nicht mal mehr Gemeindevorstand werden«, sagt er in Anspielung auf die verfrühte Häme, die man ihm nach seiner Absetzung als Oberbürgermeister von Istanbul Ende 1998 hinterherrief. Es ist also nicht bloß die rationale Angst davor, zur Verantwortung gezogen zu werden. Es ist nicht allein eine Ideologie, die unter Demokratie allein Abstimmungen, aber keine offene Gesellschaft versteht und für die Teilung und Abgabe von Macht nur schwer erträglich ist. Es ist die irrationale Angst des Aufsteigers aus kleinen Verhältnissen, der in ständiger Panik lebt, wieder in die Gosse zurückzufallen, aus der er sich hochgearbeitet hat. Es ist diese Angst, die ihn antreibt, es ist dieser Absturz, den er fürchtet – und deshalb scheint er bereit, das ganze Land in den Abgrund zu führen.

Der Autor ist Mitherausgeber der »Jungle World« und Türkei-Korrespondent der »Welt«.