Neue Lehrpläne an Frankreichs Schulen

Parlez-vous Elsässisch?

Die geplante französische Unterrichtsreform eröffnet vielfältige Wahlmöglichkeiten.

Früher, ja früher war alles besser. Heute geht es gerade noch, auch wenn bereits alles schlechter geworden ist. Aber in naher Zukunft droht wirklich alles schlimm zu werden: Alles zerfällt, alles wird von der Dekadenz erfasst, alles wird überfremdet – nichts bleibt, wie es gewohnt und vertraut war. Wenn dann noch jemand in perfider Absicht daherkommt und sozialistische Experimente oder sonstige Umwälzungen hinter dem Rücken der Bevölkerung veranstalten will, ist die Katastrophe endgültig da.
Diese Litanei kommt einem vertraut war, man kennt sie aus Debatten um die Sexualaufklärung von Kindern, den angeblich schädlichen Einfluss von Gendertheorien und die sogenannte Homoehe – sei es in Deutschland oder Frankreich. Für einen zünftigen Kulturkampf mit reaktionärem Zungenschlag eignet sich auch die Schulpolitik. Geht es doch dabei um Inhalte, mit denen angeblich die Jugend von morgen verdorben werden soll, so dass die ältere Generation ihren Nachwuchs gar nicht mehr wiederzuerkennen vermag.
In Frankreich nimmt ein solcher ideologischer Kulturkampf in den vergangenen Wochen gerade Fahrt auf, der einem derzeit auch in vielen Medien begegnet. Die aggressiv neokonservative Monatszeitschrift Causeur etwa titelt im Juni: »Wer kam auf die Idee, die Schule zu dekonstruieren?« Das konservativ-wirtschaftsliberale Wochenmagazin Le Point macht seine Nummer vom 11. Juni mit einem nostalgiegetränkten Titelthema zur Bildungspolitik auf und titelt: »Latein und Griechisch – eine Inventur vor der geplanten liquidation«. Der Begriff bezeichnet sowohl eine »Liquidierung«, also einen Meuchelmord, als auch eine Geschäfts- oder Unternehmensauflösung. Etwas nüchterner und in der Sache unvoreingenommener fragte das Wochenmagazin Le Un acht Tage zuvor: »Schulpolitik: Warum ist das Ganze blockiert?« Das rechtsextreme Internetmagazin Nouvelles de France wiederum höhnte Ende Mai: »Das Gesetz (...) führt offiziell den Sozialismus in den Mittelschulen ein.«
Die amtierende Bildungsministerin Najat Vallaud-Belkacem, die 1977 in Marokko geboren wurde, wird zur Zielscheibe verschiedener Kampagnen. Einerseits würde die Ministerin, so lautet der Vorwurf einiger reaktionärer Fraktionen, traditionelle Werte untergraben, konservative Familienbilder aushöhlen und eine vermeintliche in sich geschlossene »Genderideologie« in den Schulen als Unterrichtsstoff propagieren. Diese Vorwürfe finden bei konservativen Christen, aber auch bei manchen konservativen Muslimen ein offenes Ohr. Besonders lautstark vorgetragen wird diese Kritik von der verschwörungstheoretisch untermauerten Bewegung um die ehemalige Kommunistin und frühere Antirassistin Farida Belghoul, die Anfang 2014 eine Boykottbewegung gegen eine damals geplante Unterrichtseinheit für Gleichberechtigung initiierte. Die Bewegung brach nach einem Vierteljahr zusammen. Doch seit dem vergangenen Sommer organisiert Belghoul nun einen Verein, die »Unabhängige Föderation engagierter und couragierter Eltern« (FAPEC). Auf diversen rechten bis rechtsextremen Websites findet er ein positives Echo, auch wenn Belghouls letztjähriges Bündnis mit dem Antisemiten und Verschwörungsideologen Alain Soral auseinandergebrochen ist.
Auf der anderen Seite wird der Ministerin unterstellt, eine Islamistin zu sein. Angeblich will sie europäischen Geschichtsunterricht durch Islamunterricht ersetzen, Latein und Altgriechisch zugunsten von Arabisch aus den Lehrplänen werfen und am liebsten ganz Frankreich bekehren.
Die einen Vorwürfe sind so irre wie die anderen, doch finden sie in der derzeit aufgeheizten Stimmung bei so manchen Menschen Gehör. Den Hintergrund dafür bildet unter anderem eine umstrittene Unterrichtsreform im Mittelstufenbereich, die die Probleme des Collège anpacken sollte. In Frankreich gilt seit 40 Jahren das Gesamtschulprinzip bis zum Ende der Mittelstufe in Form des Collège unique. Diese 1975 gesetzlich eingeführte einheitliche Mittelstufe steckt in der Krise, da erhebliche Unterschiede in der sozialen Herkunft und Bildungsbezogenheit der Elternhäuser hier aufeinanderprallen, ohne dass das relativ rigide französische Bildungssystem darauf bisher angemessen reagiert hätte. Rund 140 000 Heranwachsende fallen Schätzungen zufolge alljährlich ohne Abschluss aus dem System heraus, wenn sie im Alter von 16 das Ende der Schulpflicht erreichen, und bis zu 20 Prozent eines Jahrgangs sollen nicht oder nicht richtig lesen und schreiben können.
Die sozialdemokratische Regierung versucht Abhilfe zu verschaffen. Doch krankt die Reform nach Auffassung von Lehrern der Bildungsgewerkschaft FSU daran, dass sie kostenneutral sein, also ohne jegliche zusätzlichen Ausgaben auskommen muss. Das läuft notwendig darauf heraus, dass zu Lasten bestehender Projekte umgeschichtet werden muss, wenn an einer Stelle etwas Neues eingeführt werden soll. Die Gewerkschaft rief auch zwei Mal zum Streik gegen das Vorhaben auf und forderte dabei vor allem mehr Mittel für das Bildungswesen. Beim ersten Streik im Mai wurde der Ausstand von über der Hälfte der Lehrkräfte unterstützt. Beim zweiten Streik am 11. Juni lief der Protest sich dagegen tot. Noch am Abend des ersten Streiktags hatte Präsident François Hollande das Gesetz zur Unterrichtsreform eilends unterzeichnet und damit deutlich gemacht, dass er auf die Kritiker der Reform nicht hören werde.
Wirklich neu sind vor allem die »interdisziplinären«, also fächerübergreifenden Lehreinheiten unter dem Kürzel EPI, die wählbar angeboten werden sollen. Der Pflichtstoff, der auf den bisherigen klassischen Fächerkanon verteilt ist, soll abgespeckt werden – die Erfahrung zeigte bisher, dass zwischen der Theorie des Lehrplans und der Praxis vor allem in den problembelasteten Schulen oft große Lücken klafften. Ergänzt werden soll der gemeinsame Pflichtstoff nunmehr durch die erwähnten fächerübergreifenden Lehreinheiten, die durch die einzelnen Bildungseinrichtungen ausgewählt werden sollen. Dazu zählen etwa »Nachhaltige Entwicklung« als ökologisch ausgerichtetes Fach oder »Wissenschaft und Gesellschaft« oder auch »Körper und Gesundheit«. Der Klassenunterricht soll durch Einzelbetreuung ergänzt werden.
Zugunsten der neuen Inhalte sollen einige bisherige Unterrichtsfächer weichen, darunter Latein und Altgriechisch, die ohnehin nur von einer Minderheit der Schüler belegt wurden; allerdings werden sie auch nicht gänzlich verbannt. Vielmehr werden die beiden Altsprachen in dem interdisziplinären Fach »Sprachen und Kulturen des Altertums« aufgehen, das wahlweise angeboten werden kann. Nur sollen dabei neben reinem Sprachunterricht auch kulturelle und philosophische Aspekte stärker als bisher berücksichtigt werden. Zudem sollen im allgemeinen französischen Sprachunterricht für alle Schüler etwa Hinweise auf lateinische Wurzeln vieler Wörter stärker zur Geltung kommen.
Kritiker wie etwa die Autoren der Titelstory im Wochenmagazin Le Point tun hingegen einfach so, als ob bisherige Stoffe ersatzlos verschwinden sollten und damit die europäische Kultur ihres Fundaments beraubt werde. In ihrem Artikel kritisiert die Zeitschrift, dass weder die Philosophie noch das Rechtssystem ohne bestimmte Grundlagen zu verstehen seien. Für Streit sorgt auch, dass eines der angebotenen interdisziplinären Fächer »Fremd- oder Regionalsprachen« lautet. Dabei sollen die einzelnen Schulen auswählen können, worauf sie den Schwerpunkt legen, sofern sie ihn mit anderen Inhalten ergänzen. Es kann also Elsässisch oder Arabisch behandelt werden. Viel mehr brauchte es nicht, um die weitestgehend ideologisch motivierten Kampagnen anzuheizen. Der Linksnationalist Jean-Luc Mélenchon beschwört die Gefahr, die von den Regionalsprachen ausgehe: Frankreich drohe in vormoderne Stämme von Basken und Bretonen zerlegt zu werden. Dagegen greift die breite Kampagne eher die Möglichkeit an, dass in diesem Rahmen auch die arabische Sprache behandelt werden könnte. Im Internet zirkulieren zahllose Artikel, denen zufolge angeblich »Arabisch statt Latein« für alle Schüler zum Pflichtfach erhoben werden soll, und weitere, zum Teil plumpe Falschmeldungen.
Wunderbar in dieses vorgefertigte Bild passt, dass zugleich in diesem Juni die bisherigen Lehrpläne für den Geschichtsunterricht überarbeitet werden. Diese Neufassung hat nicht direkt mit der Reform der Mittelstufe zu tun, wird jedoch in Zusammenhang damit gebracht. Das pädagogische Vorhaben besteht darin, dass Geschichtsunterricht künftig viel weniger als chronologisch geordnete Einzelgeschichte behandelt werden soll. Vielmehr soll er anhand von Problematiken und inhaltlichen Blöcken aufgebaut werden. Aufklärung, Französische Revolution und Bürgerrechte würden demnach zusammengefasst.
Einer dieser Blöcke behandelt die Entstehung und Frühgeschichte des Islam, also seine Ausbreitung im 7. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung. Dabei handelt es sich auf keinen Fall um Religionsunterricht – solchen gibt es in Frankreich in öffentlichen Schulen grundsätzlich nicht –, sondern um Ereignisgeschichte. Das wäre weiter keiner Aufregung wert, denn als Kapitel des bisherigen Geschichtsunterricht gibt es das längst, und inhaltlich wird sich an ihm nichts ändern. Doch findige Köpfe wurden darauf aufmerksam, dass das bisherige Kapitel »Christentum im Frühmittelalter« verschwindet. Nicht etwa, weil der Lehrinhalt eingestampft würde, sondern weil er mit anderen zeitgenössischen Ereignissen zu einem Block zusammengezogen wird. Prompt war die Kampagne da: Christentum raus, Islam rein, da haben wir die bösen Absichten doch auf der Hand liegen!
Auch die Aufklärung taucht nicht mehr im Titel eines geplante Unterrichtsblocks auf, da sie beim Thema »Neuzeit ab der Renaissance« behandelt wird. Hingegen gibt es einen Block mit der Überschrift »Europas Ausstrahlung – Seefahrten, Entdeckungen, Sklavenhandel«. Auch hier witterten einschlägig voreingenommene Kritiker Ideologie: Europäische Werte und Leistungen würden nicht mehr repräsentiert, stattdessen werde der Sklavenhandel in »nationalmasochistischer« Manier ausgebreitet. Die Kampagne ist noch lange nicht am Ende. Die konservative Opposition buhte die Schulministerin am 26. Mai im Parlament aus, 300 ihrer Abgeordneten unterzeichneten eine Petition gegen ihre Reformpläne. Die Rechtsextreme Marine Le Pen schrieb sogar einen Brief an jedes einzelne Lehrerkollegium in Frankreich. Eine Umfrage ergab am 6. Juni überraschenderweise, dass Vallaud-Belkacem zu den populärsten Politikerinnen der Linken zählt. Alle scheinen der Kampagne also nicht zu glauben.