Ist dem Leben der Trolle nachgegangen

Besser nicht füttern

Trolle treten in Sagen, Gedichten und Kindergeschichten auf. Neuerdings findet man sie auch im Internet. Das führt zu Missverständnissen.

Die ältere Dame war sehr empört: »Ich will aber nicht, dass etwas so Poetisches wie Trolle jetzt als Wort für Menschen steht, die im Internet andere schikanieren«, sagte sie nach einer Veranstaltung, bei der sie offenkundig zum ersten Mal von Internet-Trollen gehört hatte. Und fasste damit, wenn auch unbeabsichtigt, gleich drei Missverständnisse zusammen.
Das erste betraf sie selbst, denn dass das Internet keinerlei Rücksicht auf Vorlieben oder auch nur Einwände älterer Damen nimmt, konnte sie in der Tat nicht wissen. Dass das deutsche Verhältnis zum skandinavischen Troll ein großes Missverständnis ist, das zunächst aus einem Astrid Lindgren-Bilderbuch und später aus niedlichen skandinavischen Reise-Souvenirs bestand, konnte sie ebenfalls kaum wissen – dass Trolle böse, wenn auch ein bisschen dumm sind, sieht man den meist liebevoll gestalteten finnischen Mumins und den diversen Andenken schließlich nicht an. Das dritte Missverständnis betrifft den Internettroll und seine Namensgebung, aber dazu kommen wir später.

Alles begann, jedenfalls in der Neuzeit, mit einem deutschen Bilderbuch namens »Tomte Tummetott«, dessen Verfasserin Astrid Lindgren hieß, und das in Wirklichkeit auf einem Gedicht aus dem 19. Jahrhundert basiert, das, wenn auch unbeabsichtigt, in Schweden zur Einführung des so genannten Weihnachtswichtelns führte.
In »Tomten«, dem 1881 in der Ny Illustrerad Tidning erschienenen philosophischen Gedicht des schwedischen Journalisten, Übersetzers und Kulturhistorikers Viktor Rydberg, geht es um die großen Fragen des Seins. Ein Tomte ist im skandinavischen Sprachraum eine Art Wichtel, der auf einem Hof unerkannt unter Menschen lebt. Das Wort »tomt« bedeutet »Grundstück«, der Tomte bewacht im besten Fall seine menschlichen Nachbarn und hilft ihnen, im schlimmsten Fall kann er ihnen allerdings auch furchtbare Dinge antun.
Rydbergs Tomte war ein gutartiger Wicht, der in einer kalten Winternacht wachte und über die großen Fragen des Lebens philosophierte. Illustriert mit Zeichnungen der erst 17jährigen Künstlerin Jenny Nyström, die dem Wicht eine rote Zipfelmütze verpasste, wurde das Gedicht rasch zum Publikumserfolg und Teil der schwedischen Weihnacht. Nyström schuf nämlich mit ihrer Figur den »Jultomten«, den Weihnachtswichtel, und veröffentlichte in den folgenden Jahren zahlreiche Weihnachtskarten mit dem Tomte-Motiv, die vor allem beim bürgerlichen Publikum sehr erfolgreich waren.
Rydberg interessierte sich dagegen eigentlich für ganz andere Fragen der Zeit. Er setzte sich unter anderem für die Trennung von Kirche und Staat ein und handelte sich mit seinem Buch »Bibelns lära om Kristus« (Die biblische Christuslehre) großen Ärger ein, weil er darin Jesus als nicht göttlich und lediglich idealmenschlich bezeichnete – was auch im zutiefst protestantischen Schweden des Jahres 1862, wo es nicht einmal volle Religionsfreiheit gab, ein unerhörter Gedanke war.
In den folgenden Jahren machte Rydberg dann hauptsächlich als Übersetzer von sich reden, er übertrug unter anderem Goethes »Faust« und Heines »Loreley« aus dem Deutschen ins Schwedische. Sein großes Hobby war aber wohl die Mythologie. Seine »Undersökningar i germanisk mythologi« (Untersuchungen in germanischer Mythologie) erschienen in zwei Teilen 1886 und 1889. Das insgesamt mehr als 1 300 Seiten umfassende Werk wurde von der Kritik geschlachtet und unter anderem als »tragische Vertrödelei von Zeit und Begabung« bezeichnet.
Rydberg beschäftigte sich darin mit der Suche nach der »Urheimat der Arier« – als Arier bezeichnete Rydberg »Indoeuropéer«, im Deutschen nennt man sie Indogermanen – sowie gemeinsamen mythischen Vorstellungen von der Entstehung der Welt, Götter und Fabelwesen.
1895 starb der Autor, 1957 wurde sein Gedicht von Harald Wiberg neu illustriert und in der Kinderzeitung Klumpe Dumpe veröffentlicht, drei Jahre später entstand ein Buch daraus. Ausländische Verlage interessierten sich für das Werk, allerdings hatten sie nur Interesse an den Zeichnungen und wollten die schwermütige, altmodische Dichtung keinesfalls dazu haben – und so verfasste die damalige Verlagsangestellte Astrid Lindgren einen eigenen, lose auf »Tomte« basierenden Text, der dann in Deutschland und etwas später auch in den USA zusammen mit Wibergs Illustrationen als Kinderbuch veröffentlicht wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie ihre wichtigsten Bücher, »Pippi Langstrumpf«, »Die Kinder von Bullerbü«, »Kalle Blomquist« und »Karlsson vom Dach« bereits veröffentlicht und im In- und Ausland zahlreiche Preise erhalten.
Ihre versponnene Geschichte vom »Wichtel Tomte Tummetott«, der in einer Winternacht über Menschen und Tiere auf einem Bauernhof wacht, wurde rasch zum Bestseller – dass der Text, wenn auch sehr lose, auf Rydbergs Gedicht basierte, erwähnten die meisten Verlage nicht. In Schweden blieb das Buch dagegen unbekannt, es erschien erst zehn Jahre nach Lindgrens Tod unter dem Titel »Tomten är vaken« (Tomte ist wach) – und das auch nur, weil der deutsche Verlag 2007 zufällig Lindgrens schwedisches Originalmanuskript gefunden und an den Verlag Rabén & Sjögren weitergegeben hatte. Mit dem deutschen Tomte Tummetott hat der schwedische Tomte allerdings rein äußerlich nur die rote Mütze gemein, denn Wibergs Zeichnungen wurden nicht verwendet; stattdessen schuf die preisgekrönte Illustratorin Kitty Crowther eine modernere, dünnere Version des Wesens.
Dass Tomte Tummetott in Wirklichkeit aber sowieso kein Wichtel, sondern ein Troll ist, war eine Überzeugung, die sich unter deutschen Kindern hartnäckig hielt. Und streng genommen hatten sie damit auch recht.

Dem »Nynorskordboka« (deutsch: Neunorwegisch-Wörterbuch) zufolge ist ein Troll ein »übernatürliches Wesen«, das groß, hässlich, stark und gefährlich ist und im Wald oder auf Bergen wohnt. Allerdings trifft diese Definition nicht ganz zu, denn Trolle sind eigentlich eine Sammelbezeichnung für menschenähnliche Wesen, die zwar einerseits äußerst dumm, aber andererseits auch sehr gefährlich sind. Trolle können Riesen oder Zwerge, so genannte Nisser, also eine Art Wichtel oder in unterirdischen Verstecken lebende Fabelwesen sein. Im südschwedischen Volksglauben hielt man Trolle für riesige Untote, also Zombies, die mit dem Aufkommen des Christentums allerdings rasch verschwanden beziehungsweise in unbewohnte Gegenden vertrieben wurden.
In Nordschweden wurden Trolle als Angehörige der Vittra, eines mystischen Volks, gesehen, das zwar unter der Erde, aber in der Nähe der Menschen lebt und sich rein optisch kaum von ihnen unterscheidet. Vittra sind sterblich und können sehr böse sein, zum Beispiel dann, wenn Menschen Gebäude auf ihren Wegen errichten und sie damit stören.

Eines der Lieblingshobbies schwedischer Trolle war das so genannte Bergtagning, das Entführen von bergwandernden Menschen, die anschließend in Höhlen verschleppt wurden. Wer es schaffte, sich zu befreien und wieder zurück nach Hause zu gelangen, erschien Familie und Freunden allerdings oft auffällig verändert – Bergtagning war eine der frühen Erklärungen für psychische Erkrankungen oder Folgen traumatischer Erlebnisse wie dem Verschüttetwerden auf der Suche nach Kohle oder Edelmetallen. Bei Wanderungen durch menschenleere Gebiete ein Messer, möglichst aus Silber, mitzunehmen, galt als Mittel der Wahl, um Trolle abzuwehren (dass man sich damit aber auch aus allen möglichen höchst unmystischen Gefahrensituationen befreien könnte, wird in den entsprechenden Geschichten allerdings nicht erwähnt). Das Silbermesser ist dabei wohl eine Variation einer anderen bekannten Waffe gegen Untote, nämlich der silbernen Kugeln. Und das nicht von ungefähr: Manche der skandinavischen Trolle haben Ähnlichkeit mit Vampiren, denn sie beißen ihre Opfer zwar nicht, sind allerdings hoch allergisch auf Sonnenlicht und versteinern, wenn sie von Lichtstrahlen getroffen werden. In Schweden und Norwegen gibt es entsprechend eine Menge Felsformationen, von denen die Sage geht, dass es sich in Wirklichkeit um Trolle handelt.
In der neueren Weltliteratur tauchen Trolle zum ersten Mal in Henrik Ibsens »Peer Gynt« auf, der in die Unterwelt der Trolle herabsteigt (Edvard Griegs Stück der Peer-Gynt-Suite »In der Halle des Bergkönigs« handelt vom Aufenthalt des Titelhelden im Trollreich, »das ich buchstäblich genommen nicht ausstehen kann, so sehr klingt es nach Kuhfladen, Norwegertum und Selbst­gefälligkeit! Aber ich erwarte auch, dass man die Ironie fühlen kann«, schrieb Grieg an einen Freund.) Das Thema Trolle scheint Ibsen aber auch später nicht mehr ganz loszulassen, so heißt es in »Et Vers«, ein Vers aus dem Jahr 1871, vier Jahre nach der Veröffentlichung von »Peer Gynt«: »At leve er – krig med trolde
i hjertets og hjernens hvælv.
At digte, – det er at holde
dommedag over sig selv.«
Wie die meisten norwegischen Schriftsteller jener Zeit schrieb auch Ibsen auf dänisch, deswegen heißt es in seinem kurzen Gedicht auch »trolde« statt Trolle. In der deutschen Übersetzung von Christian Morgenstern sind die Trolle allerdings aus dem Gedicht gestrichen worden:

Leben heißt – dunkler GewaltenSpuk bekämpfen in sich.Dichten – Gerichtstag haltenüber sein eigenes Ich.

Dabei lesen sich die direkt übersetzten ersten beiden Zeilen »Zu leben ist – Krieg mit Trollen in Herzens und Hirnes Gewölb« wie eine Schilderung der modernen Internettrollerei. Allerdings haben die hässlichen, gemeinen Wesen in Wirklickeit zunächst nichts mit ihren in der virtuellen Welt aktiven Pendants zu tun gehabt. Deren Bezeichnung stammt nämlich nicht aus der nordischen Mythologie, sondern aus der Fischerei. Trolling ist eine Form des Angelns, die darauf basiert, mit mehreren Angeln gleichzeitig die Beute zu ködern und das Beste zu hoffen – wie eben auch Internettrolle versuchen, so lange zu provozieren, bis ein Opfer anbeißt. Aber auch wenn sich die meisten dies sehr wünschen würden, mangelt es ihnen doch immens an den Fähigkeiten der ursprünglichen Trolle – Bergtagning schaffen sie beispielsweise nicht, und wenn man sie nicht beachtet, gehen sie weg. Dazu kommt, dass ihnen neueste wissenschaftliche Erkenntnisse ihren natürlichen Lebensraum entziehen könnten: Einer vor einigen Tagen veröffentlichten Untersuchung der Universität Hohenheim zufolge schlagen negative Leserkommentare direkt auf das Medium, in dessen Spalten sie veröffentlicht werden, zurück. Ein Artikel, unter dem beleidigende Kommentare stehen, wird als qualitativ schlechter wahrgenommen als einer, unter dem sich sachlich mit dem jeweiligen Thema auseinandergesetzt wird. Woraus folgt: Medien, die ihre Leser nach Herzenslust kommentieren – also trollen – lassen, entwerten damit praktisch ihre eigene Arbeit.
Bis die Trolle heimatlos geworden sind und notgedrungen ihre Arbeit wieder wie früher versehen müssen, also längliche Leserbriefe mit vielen persönlichen Angriffen verfassen und zur Post tragen, wird es allerdings noch ein bisschen dauern. Zeit, noch ein schönes norwegisches Wort vorzustellen: trollsk. Trollsk, deutsch ungefähr trollisch, kann als Eigenschaftswort für besonders Eigenartiges, Unwirkliches, aber doch gleichzeitig Besonderes und Schönes stehen, eine verwilderte Landschaft etwa, und vor allem für die Lichtverhältnisse, wie sie in der kurzen Dämmerungsphase des skandinavischen Sommers existieren.

Und Zeit für den ultimativen Nachtisch, der Trollkrem heißt und eine Creme aus Preiselbeeren, steifgeschlagenem Eiweiß und Zucker ist. Deren Zubereitung ist ganz einfach: Ein Eiweiß, 500 Milliliter Preiselbeeren und 100 Milliliter Zucker werden in einer Küchenmaschine aufgeschlagen, bis die Zutaten eine luftige Creme ergeben (darauf achten, dass garantiert salmonellenfreies Ei verwendet wird). Anschließend wird die Trollkrem sofort serviert, am besten mit Vanillesauce. Das Dessert eignet sich übrigens auch immens gut zur Ablenkung von Internettrollen, indem man einfach den Rechner ausmacht, sich in die Küche begibt und es zubereitet, statt sich mit Trollen zu beschäftigen.