Eine Demonstration zum 15. Jahrestag des ersten NSU-Mordes

Der blinde Fleck

Während sich die öffentliche Aufmerksamkeit beim Thema »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) auf vermeintliche Ermittlungspannen der Behörden konzentriert, fehlt eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Rassismus in der deutschen Gesellschaft. In Nürnberg, der »Stadt der NSU-Morde«, machte eine Demonstration darauf aufmerksam.

Der kanadische Backpacker ist sichtlich irritiert. In der Nürnberger Innenstadt blickt er auf etwa 300 Menschen, die an der Demonstration »Gegen Deutschland und seine Nazis« anlässlich des Beginns der NSU-Mordserie vor 15 Jahren teilnehmen. »Ich bin eine Mentalität gewohnt, in der Rassismus etwas Böses ist. Dass jemand auf die Straße geht, um gegen Rassismus zu demonstrieren, ist zwar gut, aber darauf würde bei uns niemand kommen. Rassismus ist bei uns ein Tabu. Ich habe von schockierenden Gerüchten über Neofaschisten gehört, aber das dann hier mitzubekommen ist ein Schock«, sagt Douglas, der zur Zeit einige Tage in Nürnberg verbringt.
Das lokale Bündnis »Die rassistische Kontinuität durchbrechen« hatte zu der Demonstration am Samstag aufgerufen. Während Nürnberg sich stolz als »Stadt der Menschenrechte« präsentiert, bezeichnet das Bündnis die Frankenmetropole als »Stadt der NSU-Morde«. Der »Nationalsozialistische Untergrund«, so Specht, ermordete hier Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar. »Die Stadt steht hiermit in der Tradition der Reichsparteitage und Nürnberger Rassegesetze«, heißt es in einem Redebeitrag während der Demonstration. In der migrantisch geprägten Südstadt hält der Demonstrationszug auch am ersten Tatort des NSU. In der ehemaligen »Pilsbar Sun­shine« deponierten die Naziterroristen bereits 1999 eine Sprengfalle. Ein junger Mann, der als Reinigungskraft arbeitete, zündete die als Taschenlampe getarnte Bombe, als er die vermeintliche Leuchte anknipsen wollte. Er wurde leicht verletzt. Sechs Monate später stellten die Ermittlungsbehörden das Verfahren ein.

Am 10. September haben sich um 13 Uhr einige wenige Menschen in einer Parkbucht im Nürnberger Südosten versammelt. Zu genau dieser Zeit schoss der NSU vor 15 Jahren auf den Blumenhändler Enver Şimşek, der einen mobilen Stand an der vielbefahrenen Liegnitzer Straße betrieb. Zwei Tage später starb der 38jährige im Krankenhaus. Die Initiative »Das Schweigen durchbrechen« hat eine Gedenkplakette am Tatort angebracht und eine Schweigeminute abgehalten.
Die Initiative ist Teil des Bündnisses, das die Demonstration organisiert hat. Sie möchte ein kontinuierliches Gedenken an die Opfer, möglichst an den Tatorten, etablieren. Vor einem Jahr kamen deutlich mehr Menschen zur Errichtung einer Gedenkstelle für Enver Şimşek. Mit der alttestamentarischen Inschrift »Wenn ein Fremdling bei euch wohnt in eurem Lande, den sollt ihr nicht bedrücken. Er soll bei euch wohnen wie ein Einheimischer unter euch, und du sollst ihn lieben wie dich selbst« wollen Anwohner aus umliegenden evangelischen und katholischen Kirchengemeinden des Opfers gedenken. Zur Demonstration hat es nun genau eine Anwohnerin geschafft.
»Während sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf Ermittlungspannen der Behörden konzentrierte, fehlte eine Auseinandersetzung mit dem Rassismus der deutschen Gesellschaft«, sagt Carl Specht von der Initiative »Das Schweigen durchbrechen«: »Die nach Anschluss der DDR in Ost wie West unter Beifall der deutschen Bevölkerung verübten Pogrome machen deutlich, warum Nazis sich als radikalste Vollstrecker des Volkswillens begreifen konnten.« Die derzeitigen Ansammlungen des »rassistischen deutschen Mobs« vor Flüchtlingsunterkünften erinnern Specht an das politische Klima der neunziger Jahre, aus dem der NSU dann später hervorgegangen sei.

Die Nürnberger Zeitung prägte nach dem Mord an İsmail Yaşar den Ausdruck »Dönermorde«. »Dieser Ausdruck steht stellvertretend für den Diskurs der deutschen Öffentlichkeit während der Mordserie und verdeutlicht, wie gesellschaftlicher Rassismus genau jenen Diskurs dominierte«, so ein Redner der Demonstration vor dem Redaktionsgebäude der Zeitung. »Man machte Mordopfer zu Imbissbudengerichten. Dies ist als ein weiterer Erfolg des NSU zu werten. Die deutschen Medien reproduzierten die völkisch-nationalistische Aufteilung in ›wir‹ und ›die anderen‹«, so der Redner. Neben einigen Pöbeleien von angetrunkenen Fußballfans reagieren die meisten Zuschauer irritiert auf die Parole »Gegen Deutschland und seine Nazis«. »Sind die jetzt gegen Nazis oder selbst welche?« fragt ein Beobachter. »Für uns geht es darum, darauf hinzuweisen, dass der NSU ein Teil dieser Gesellschaft ist und nicht drei bis sieben irrgelaufene Einzeltäter«, sagt Specht. Die meisten Flüchtlinge, die seit Wochen mit einem Zelt in der Nürnberger Innenstadt protestieren, freuen sich jedenfalls über den Demonstrationszug, der zu einer Solidritätskundgebung vor dem Zelt hält. Seit Tagen sind einige der Flüchtlinge im Hungerstreik.
Die letzte Zwischenkundgebung findet vor der Nürnberger Polizeiwache statt. Die Ermittlungen der Polizei konzentrierten sich wie bei den meisten anderen NSU-Opfern auch in Nürnberg zunächst auf das persönliche Umfeld und die organisierte Kriminalität aus dem »angestammten Kulturkreis« der Opfer. Konsequenterweise hieß die in Nürnberg beheimatete Sonderkommission, die die bundesweite Mordserie bearbeitete, auch »Soko Bosporus«. In Nürnberg betrieb die Polizei sogar ein halbes Jahr lang einen Dönerstand und setzte eine als Journalistin getarnte Polizistin unter Migrantinnen und Migranten ein, wie der frührere Nürnberger Oberstaatsanwalt Walter Kimmel 2012 vor dem NSU-Untersuchungsausschuss im Bundestag erklärte.

Um die Taten des NSU und das Verhalten gerade der Geheimdienste zu verstehen seien Spekulationen über mögliche Verstrickungen jedoch wenig hilfreich, sagt ein Vertreter des Bündnisses. »Dass die Verfassungsschutzämter abgeschafft gehören, war allen, die sich mit der deutschen Naziszene beschäftigen, schon vor der Selbstenttarnung des NSU klar. Vielmehr verhindert der Fokus auf die Rolle der Geheimdienste allzu oft die Auseinandersetzung mit der breiteren gesellschaftlichen Verantwortung für die Entstehung des NSU. Den Rassismus der ›Mitte der Gesellschaft‹ ernst zu nehmen, bedeutet hingegen, auch festzustellen, dass in den Sicherheitsbehörden, und damit in den Institutionen, welche die unmittelbare Verantwortung dafür tragen, dass der NSU über zehn Jahre ungestört morden konnte, Rassismus genauso weit verbreitet ist wie in der Mehrheitsgesellschaft«, so der Redner.