Der Grenzkonflikt zwischen Venezuela und Kolumbien

Maduros Verzweiflungsakt

In der venezolanisch-kolumbianischen Grenzregion lebt der Großteil der Bevölkerung vom Schmuggel. Den Grenzkonflikt mit Kolumbien nutzt Venezuela zur Ablenkung von inneren Problemen.

Seit über einem Monat verschärft sich der Grenzkonflikt zwischen Venezuela und Kolumbien, der sowohl eine Flüchtlingskrise als auch diplomatische Spannungen nach sich zieht. Venezuelas Präsident Nicolás Maduro verhängte in den Bundesstaaten Tachira und Zulia den Ausnahmezustand, lässt seit Wochen immer mehr Grenzübergänge der Regionen zu Kolumbien dauerhaft schließen und entsandte 4 500 Soldaten zusätzlich. Auslöser war nach Angaben der venezolanischen Regierung eine Schießerei zwischen Regierungstruppen und kolumbianischen Paramilitärs. Nach über einem Monat mit verschärfter Rhetorik von beiden Seiten fand am Montag ein Treffen der Präsidenten in Quito statt, wo sie eine »schrittweise Normalisierung« vereinbarten.
Maduro begründet seine Maßnahmen damit, sein Land vor paramilitärischen Angriffen und Schmugglern aus Kolumbien schützen zu wollen, über 1 200 überwiegend illegal in Venezuela lebende Kolumbianer wurden wegen angeblicher Beteiligung am Schmuggel ausgewiesen. Nach UN-Angaben flüchteten weitere 17 462 Kolumbianer aus Angst vor Repressionen über die Grenze. 3 400 von ihnen sind in Zelten und Hostels untergebracht.

Die Grenzregion ist weitgehend unter paramilitärischer Kontrolle und dient an manchen Stellen den kolumbianischen Guerillakämpfern als Rückzugsgebiet. Während kolumbianisches Kokain seit Jahrzehnten auf Schmuggelrouten seinen Weg in Venezuelas Häfen findet, gilt mittlerweile der Verkauf von venezolanischem Benzin auf dem kolumbianischen Schwarzmarkt als noch lukrativer. Aufgrund der Währungs- und Subventionspolitik der venezolanischen Regierung kostet ein Liter Benzin in Venezuela umgerechnet nur wenige Cents, in Kolumbien kann es für fast einen US-Dollar verkauft werden. Ein Geschäft, bei dem in beiden Ländern korrupte Behörden und Beamte kräftig mitverdienen.
Dasselbe gilt für subventionierte Lebensmittel, die in großen Mengen in Kolumbien verkauft werden. Nach Angaben des venezolanischen UN-Botschafters Rafael Ramírez landen 35 Prozent der in Venezuela auf den Markt kommenden Güter in Kolumbien – Waren mit einem Wert von zwei Milliarden US-Dollar jährlich. Die Situation in Cúcuta belegt, dass die Behauptungen nicht aus der Luft gegriffen sind: Bereits wenige Tage nach der Grenzschließung kam es in der kolumbianischen Grenzstadt zu Versorgungsengpässen und Präsident Juan Manuel Santos rief einen »wirtschaftlichen Notstand« aus. José Abel Correa, Vorsitzender der kolumbianischen Benzinarbeitergewerkschaft Sintragasolina sagt, dass 75 Prozent der Bewohner der Provinz Norte de Santander von Schmuggelware leben.
Das illegale Geschäft wird durch die Abwertung der venezolanischen Währung befeuert. Die schrumpfende Wirtschaftsleistung, die rasant steigende Inflation, die Spekulation großer Fonds auf Venezuelas Zahlungsunfähigkeit und das starre Festhalten der Regierung an dem 2003 festgesetzten offiziellen Wechselkurs von 6,35 Bolívares pro US-Dollarließen den Schwarzmarktpreis für einen US-Dollar allein 2015 auf über 700 Bolívares ansteigen. Die Grundlage dieser Rechnung nehmen die Wechselstuben in der kolumbianischen Grenzstadt Cúcuta vor, getrieben von der Nachfrage der Schmuggler.

Maduro wirft dem Nachbarland zurecht vor, die Situation zu dulden und damit indirekt zur Destabilisierung der venezolanischen Wirtschaft beizutragen. Die Kontrolle der Grenzregion ist dringend notwendig, kann aber nur durch eine intensive Zusammenarbeit beider Staaten erreicht werden. Es ist allerdings fraglich, ob Kolumbien als engster Verbündeter der USA in Südamerika daran Interesse hat. Bisher äußerte sich Santos fast ausschließlich zur Situation der kolumbianischen Deportierten. Einzig die Gefährdung des Friedensprozesses mit der Guerilla Farc könnte ihn dazu bewegen, auf Maduro zuzugehen – Venezuela gilt wegen seiner ideologischen Nähe zu den Guerillas als einer der wichtigsten Vermittler bei den Verhandlungen in Havanna. Die Farc-Delegation hat in einem Kommuniqué ihre Haltung deutlich zum Ausdruck gebracht: Ein dauerhafter Frieden in Kolumbien sei nur durch ein entschlossenes Vorgehen gegen die paramilitärischen Gruppen möglich.
Die Grenzschließung inszeniert Maduro als entschlossenes Handeln gegen den, in seiner Rhetorik, von den USA entfachten »Wirtschaftskrieg« und die in diesem Kontext agierenden kolumbianischen Schmuggler. Doch wird er trotz einiger sinnvoller Maßnahmen im Grenzgebiet die Krise in seinem Land auf diese Weise nicht in den Griff bekommen. Ganz im Gegenteil, er bleibt seiner fatalen politischen Linie treu, die internen Probleme zu leugnen und deren Ursachen dem Wirken starker Feinde im Ausland zuzuschreiben.
Venezuelas Probleme sind strukturell bedingt, vor allem die verfehlte Wirtschaftspolitik schafft Anreize für Schmuggel. Der Mindestlohn orientiert sich trotz der Hyperinflation immer noch am offiziellen Wechselkurs und beträgt dadurch weniger als zehn US-Dollar. Immer weniger Menschen können von ihrer eigentlichen Arbeit leben, sie suchen sich andere Einkommensquellen: Schmuggel, Devisenhandel, Spekulation oder Verkauf von staatlich subventionierten Waren auf dem Schwarzmarkt. Diese Waren kommen gar nicht erst in die venezolanischen Supermärkte und die Menschen müssen oft tagelang anstehen, um bezahlbares Klopapier oder Seife zu kaufen. Es ist nur noch schwer auszumachen, wer die Waren hortet, um die Regierung zu destabilisieren, und wer schlicht auf einen höheren Gewinn wartet oder einen Weg sucht, seinen Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Gleichzeitig findet seit dem Einfrieren des Wechselkurses 2003 eine durch die ausufernde Korruption angetriebene Kapitalflucht statt, Hunderte Milliarden US-Dollar flossen auf ausländische Privatkonten anstatt in Investitionen oder Importe. Dem Staat gehen so die Devisen aus, um zum Beispiel lebensnotwendige Medikamente zu importieren. Die Wirtschaftskrise ist bereits zu einer Krise des Gesundheitssystems geworden.

Die großen Erfolge seiner Sozialpolitik finanzierte Maduros Vorgänger Hugo Chávez durch die Erdöleinnahmen, versäumte es aber die nationale Produktion zu fördern. Dadurch entstanden eine gefährliche Importabhängigkeit und ein immer korrupter werdender Staatsapparat. Mit dem Einbruch des Ölpreises von 140 auf unter 50 US-Dollar pro Barrel verlor diese Politik ihr Fundament. Um die ökonomische Talfahrt zu stoppen, müsste Maduro die Korruption bekämpfen, die Treibstoffsubventionierung streichen und den Bolívar abwerten. Stattdessen versucht der Präsident, seine innenpolitische Untätigkeit durch die Projektion nach außen zu überspielen. Weniger als 25 Prozent der Bevölkerung beurteilen seine Amtsführung positiv, die Wahrscheinlichkeit, dass die Opposition bei den Parlamentswahlen am 6. Dezember erstmals nach 17 Jahren wieder eine Wahl gewinnen könnte, ist groß.
Obwohl viele seiner Argumente im Grenzkonflikt richtig sind, ist das plötzliche und undiplomatische Vorgehen vor allem als Verzweiflungsakt zu interpretieren. Maduro inszeniert sich als starken Mann mit harter Hand und hofft, dadurch seine Anhänger noch einmal hinter sich sammeln zu können. Innenpolitisch wählt er dieselbe Strategie: Der Oppositionsführer Leopoldo López wurde am 11. September symbolträchtig zu 14 Jahren Haft verurteilt und für 43 Tote bei den Demonstrationen 2014 verantwortlich gemacht. Kurzfristig könnte Maduros Plan aufgehen, aber auf lange Sicht wird sich durch seine Untätigkeit die Krise verschärfen und ein Märtyrer für die Opposition geschaffen.