Die Graphic Novel »Wie zerknülltes Papier« des spanischen Zeichners Nadar

Die Hölle in uns

Der spanische Zeichner Nadar gehört zu einer neuen Riege von Comiczeichnern. Nun erscheint sein Debüt, mit dem er im vergangenen Jahr auf dem Comic-Salon in Barcelona für Aufsehen sorgte, endlich auf Deutsch.

Der spanische Comic hat eine lange, durchaus eigenständige Tradition. Gerade in den letzten Jahrzehnten des Franco-Regimes waren Comics ein Ort, an dem, wenn auch in ständigem Widerstreit mit der allgegenwärtigen Zensur, gesellschaftliche Verhältnisse vergleichsweise offen thematisiert wurden. »Mortadelo y Filemón« von Francisco Ibáñez zum Beispiel, das in Deutschland als »Clever & Smart« eher als seichter Slapstick wahrgenommen wurde, ließ sich vor dem Hintergrund des spanischen Zeitgeschehens durchaus als kritischer Kommentar lesen. Agenten und Behörden wurden bei »Clever & Smart« als vertrottelt und die Gesellschaft wurde als absurd bis grotesk dargestellt.
Auf dem Weg in die postfaschistische Normalität verlor der klassische Comic in Spanien an Bedeutung. Seit einigen Jahren allerdings sorgt eine Reihe von Zeichnern für Aufsehen, die dem spanischen Comic in Form der Graphic Novel neues Leben einhauchen und dabei auch immer wieder wichtige Beiträge zur kritischen Aufarbeitung der spanischen Geschichte leisten. Einer der wichtigsten unter ihnen ist sicher Paco Roca, dessen »Der Winter des Zeichners« die Geschichte des Comicverlags Bruguera in den Jahren der Diktatur nachzeichnet und damit in gewisser Weise eine Brücke schlägt zwischen der Geschichte und der Gegenwart des spanischen Comics.
Zu den neuen Namen der spanischen Comic-Welt gehört auch Pep Domingo, besser bekannt als Nadar. In Spanien ist mit »El mundo a tu pies« gerade sein zweites Buch erschienen, während sein Debüt »Papel estrujado« unter dem Titel »Wie zerknülltes Papier« nun endlich auch in deutscher Sprache erscheint.
Nadar erzählt darin die Geschichte zweier Menschen, die zunächst nichts miteinander zu verbinden scheint, deren Leben jedoch, wie sich bald herausstellt, aufs Engste miteinander verknüpft sind. Einer von ihnen, der 16jährige Javi, hat die Schule abgebrochen und schlägt sich wortwörtlich durch, indem er gegen Bezahlung und im Auftrag seiner ehemaligen Mitschüler deren offene Rechnungen begleicht. Mit dem verdienten Geld versucht er seine von Agoraphobie geplagte und arbeitsunfähige Mutter zu unterstützen.
Der andere, der deutlich ältere Jorge, bleibt lange ein Mysterium. Er kommt in derselben namenlosen Stadt an, in der auch Javi lebt und die ihm offenbar nicht ganz fremd ist. Er beginnt in einer Industrieschreinerei zu arbeiten und stolpert in eine Affäre mit der Geschäftsführerin des Hotels, in dem er lebt. In der Vergangenheit, so viel wird erzählt, war Jorge am Ende seiner geistigen Kräfte und bar jeden Lebensmuts auf dem Hof eines alleinstehenden Alten gestrandet, dessen rechte Hand er in dessen letzten Lebensjahre wurde.
Was die Hauptfiguren auf den ersten Blick eint, sind ihre Geheimnisse, die sie vor der Umwelt zu verbergen suchen. Doch während bei Javi sofort klar ist, dass zumindest eines dieser Geheimnisse seinen nicht ganz legalen Broterwerb betrifft, bleibt bei Jorge bis kurz vor Ende des Buches unklar, woher genau die düstere Wolke kommt, die ständig über seinem Kopf zu schweben scheint.
»Das zentrale Thema meines Buches sind die Schuld und die emotionale Einsamkeit, die sie verursacht«, sagt Nadar. Es seien die »Geister der Vergangenheit«, meint er, die Jorge voran- und immer wieder auch aus einem angenehmen Leben vertrieben. Im Grunde spielt sich hier die alte Geschichte von Schuld und Sühne ab. Anhand von Jorges Geschichte lotet Nadar die Grenzen dessen aus, was mit einem Menschen geschieht, der glaubt, an etwas Unverzeihlichem schuld zu sein. Dabei geht es nicht um gesellschaftliche Vorurteile, denn niemand weiß von dem, was Jorge umtreibt, und es ist nicht einmal die Angst, er könnte seiner Taten überführt werden, denn dafür ist das alles viel zu lange her. Es ist schlicht und ergreifend das Gefühl, sich selbst nicht mehr im Spiegel ansehen zu können. »Die Hölle, das sind die anderen«, meinte Jean-Paul Sartre, doch in manchen Fällen sind die Hölle ganz einfach wir selbst.
Jorge ist in vielerlei Hinsicht die interessantere, weil geheimnisvollere der beiden Hauptfiguren. Es wirkt daher schon überraschend, dass vom Cover der deutschen wie zuvor auch der französischen Ausgabe nicht er, sondern Javi blickt. Auf dem Buchtitel der spanischen Originalausgabe hingegen ist überhaupt keine Person zu sehen. Es zeigt vielmehr einen im Fallen begriffenen Konzertflügel – ein Bild, das deutlich offener für Interpretationen ist, auch wenn es ein versteckter Hinweis auf Javis heimlichen Traum ist, Klavier spielen zu lernen. Zunächst aber weiß niemand, warum der Flügel fällt. Man muss nur annehmen, dass er irgendwann aufschlagen und zerschellen wird.
»Ich persönlich mag das spanische Cover lieber«, sagt Nadar. »Es ist geheimnisvoller und regt eher zum Nachdenken an.« Doch der französische Verlag wollte seine Geschichte mehr als Thriller vermarkten und bat um einen entsprechenden Entwurf für den Buchumschlag. »Dass der deutsche Verlag dann auch den französischen Entwurf gewählt hat, hat mich selbst überrascht«, erzählt Nadar.
Die Überraschung ist nachvollziehbar. Denn »Wie zerknülltes Papier« geht deutlich über einen Thriller hinaus. Sicher, der Geschichte wohnt eine gewisse Spannung inne. Doch es ist eher eine Art andauernder, unterschwelliger Anspannung und nicht eine sich dramaturgisch auf einen Knall zuspitzende Spannung, wie sie für einen Thriller üblich wäre. Zwar gibt es auch in der Geschichte von Jorge und Javi einen zentralen Konflikt, aber eben keinen, nach dessen Lösung alles vorbei wäre. Die Anspannung bleibt – auch dann noch, wenn man das Buch bereits wieder zugeklappt hat.
Nadar schlägt in »Wie zerknülltes Papier« eher leise Töne an. Das Buch lebt von der geschickt inszenierten Handlung und den interessanten Figuren genauso wie von der zeichnerischen Kunstfertigkeit. Nadar, der sich nicht zufällig nach einem französischen Pionier der Fotografie benannt hat, ist sichtlich um einen annähernden Fotorealismus bemüht – vor allem was die Bildhintergründe angeht. »Ich arbeite viel mit fotografischen Vorlagen«, erzählt er. »Für die Szenen, die in der Stadt spielen, habe ich mich vor allem von den Städten um Barcelona und von meiner Herkunftsstadt Castelló inspirieren lassen.«
Gleichzeitig jedoch hat sein Zeichenstil auch etwas Abstrahierendes. Ähnlich wie zum Beispiel bei Daniel Clowes hat man bei Nadar oft das Gefühl, er mache keinen Strich zu viel. Das gilt insbesondere für die Mimik seiner Figuren, die meist rudimentär ist und der doch ein hohes Maß an emotionaler Tiefe innewohnt.
Unterstützt wird der Eindruck noch dadurch, dass Nadar in »Wie zerknülltes Papier« im Gegensatz zu seinem jüngsten Buch gänzlich auf Farbe verzichtet. Nur Schwarz, Weiß und eine Schattierung finden Verwendung. »Ich liebe Schwarzweiß und ich habe mein Handwerk in Schwarzweiß gelernt. Da lag es nahe, bei meinem ersten Werk mit dem zu arbeiten, womit ich mich am wohlsten fühle«, sagt Nadar. »Aber andererseits war es auch schlicht das, was die Geschichte verlangt hat.«
Tatsächlich fällt es schwer, sich vorzustellen, wie das Buch in Farbe aussehen würde. Es würde einfach nicht passen. Der zeichnerische Grauschleier über der Stadt ist vielmehr Teil der Geschichte selbst. Ein notwendiger Schalldämpfer gegen den ohrenbetäubenden Schmerz der Figuren. Auf dem Grunde der Geschichte lauert eine traurige Wahrheit, die für jeden Leser relevant ist und ihn jederzeit einholen kann.

Nadar: Wie zerknülltes Papier. Aus dem Spanischen von André Höchemer. Berlin 2015, Avant-Verlag, 400 Seiten, 24,95 Euro