Lieber Knuddeln als Abhärten
John Carpenter hat mein Leben ruiniert. Zumindest versucht hat er es, unwissentlich. Seit Jahren geschieht es gegen drei Uhr nachts, wenn die Müdigkeit Überhand gewinnt und noch drei weitere Stunden zu überstehen sind, bis der Frühdienst zur Ablösung erscheint. Das Gebäude ist verwinkelt, es gibt zahllose Spiegel, knarzende Holzfußböden, die Alten machen ihre Geräusche, die man tagsüber nicht einmal registrieren würde. Die Tür zum Dienstzimmer darf nicht verschlossen werden. Und das obwohl völlig klar ist, dass John Carpenter, also nicht er selbst, sondern in Gestalt des Killers Michael Myers – einem Psychopathen alter Schule, der nie ein Wort von sich gibt, sich nie beeilen muss und trotzdem unfassbaren Schrecken verbreitet –, jeden Moment um die Ecke kommen könnte. Was tun? Weil Flucht nicht in Frage kommt, wird die Glotze eingeschaltet. »Texas Chainsaw Massacre« läuft, kein Witz. Geschnitten, aus Nächstenliebe vermutlich. Die übliche Scream Queen, das blutüberströmte last girl bringt sich gerade noch in Sicherheit – vor der Motorsäge dieses widerwärtigen Leatherface, die er in einem der letzten Bilder wild um sich schmeißt. Um die Wahllosigkeit seines Schlachtens zu betonen, oder was auch immer in seinem Schädel vorgehen mag. Es könnte jeden treffen. Ätzend.
Was man spätestens auf dem Zehnmeterbrett lernt: Wer auch immer die Urängste erfunden hat, tat es, um uns in Ausnahmesituationen vor Dummheiten zu bewahren. Und nicht, um uns ständig mit ihnen zu konfrontieren. Dazu aber nötigt die Grammatik des Gruselns noch in den elaboriertesten Erzeugnissen des Genres. »It Follows«, der zwar Motive von beispielsweise Carpenters »Halloween« wieder aufgreift, jedoch auf Gegore und Geslashe verzichtet und Jump-Scares nur als Zitat einsetzt, beherrschte diese Grammatik perfekt und ließ Schreie aus dem Kinosaal dringen. Und sie kamen nicht von der Tonspur.
Auf offener Straße wäre man jemandem, der diese Geräusche von sich gibt und noch dazu ein Gesicht zieht, das auf nichts als Pein schließen lässt, zu Hilfe gesprungen. Die Mimiken ähneln denen, die im Fitness-Studio zur Schau gestellt werden. Es gibt also Überschneidungen: Grusel und workout machen einen nicht unbedingt ansehnlicher. Und trotzdem stürmen alle wie bescheuert zu McFit. Der eine will sich stählen, um die internationale Härte aushalten zu können. Der andere will daran erinnert werden, dass unter seiner Haut mehr als die Maschine puckert, die im Alltag ihr Werk verrichtet. Je krasser das Training, desto größer die Genugtuung im Nachhinein. Der Horrorfilm erbringt hier eine mehrfache Leistung: Während auf der Leinwand die letzte Kraft aus den Figuren gequetscht wird, laben sich die Zuschauer wie in der Muckibude daran, sich erfolgreich über ihren schwachen Willen hinwegzusetzen, und berauschen sich an einer Qual, die auch von jenen Verrückten gesucht wird, die jedes Wochenende auf Berge kraxeln. Wenn Messer im filmischen Spiel sind, was leider häufig der Fall ist, wird freigelegt, was das Zeug hält – echtes Fleisch und echtes Blut scheinen hervorzuquillen, was dem Zuschauer eine quasiexistentialistische Erfahrung liefert: Ekel. Irgendwie kommt es einem billig vor.
Fans des Genres betonen gern, Horrorfilme bewegten sich in einer langen Tradition. Grusel, Tragödie, Schauerliteratur – »Augen her, Augen her« forderte schon E. T. A. Hoffmanns Coppelius. Aber wieso dieses Selbstverständnis, jedem zweiten Horrorfilm etwas Fortschrittliches zu unterstellen? Nur weil Horrorfilme Grenzen ausloten, Tabus thematisieren, das Grauen der Realität künstlerisch reflektieren und ein George A. Romero nur ein paar wackelige Untote erfinden musste, um für jahrzehntelange politische Diskussionen zu sorgen? Oder weil sich hier oder da mal ein kathartischer Effekt eingestellt hat, vielleicht sogar inklusive therapeutischer Wirkung, weil das Unheimliche bekanntermaßen nur das »Heimlich-Heimische, das eine Verdrängung erfahren hat und aus ihr wiedergekehrt ist«, darstellt, wie Dr. Freud einst schrieb? In Wirklichkeit sehnen sich die meisten Horrorfans doch nach der Selbstgeißelung und dem schlichten Gefühl, endlich mal wieder eine Strapaze aus freien Stücken auf sich genommen zu haben. Und wenn sie aus dem Kinosaal heraus ins triste Licht ihrer Existenz treten, kommt ihnen ihr kleines, bescheidenes Leben mal wieder ein bisschen erträglicher vor. Allein die Abwesenheit existentieller Bedrohung lässt sich in solchen Momenten als Freiheit missverstehen. Schrecklich!
Nein, auf das Spiel mit den Ängsten kann ich gut verzichten. Zumal zwischen zwei und drei Uhr nachts, wenn die Bilder sich zwischen die Realität und ihre Wahrnehmung mogeln. Die Welt wäre eine bessere, wenn auf der Leinwand nicht gemetzelt würde, sondern lauter bunte Glücksbärchis sich knuddeln würden. Dass diese Welt noch mehr Michael Myers produzieren würde, als sie es ohnehin schon tut, steht auf einem anderen Blatt.