Nick Ut im Gespräch über sein berühmtes Foto aus dem Vietnamkrieg

»Ich will ein Bild, das eine Geschichte erzählt«

Es ist unmöglich, mit Nick Ut zu sprechen und ihn nicht nach seinem berühmten Bild aus dem Vietnamkrieg zu fragen: »Der Schrecken des Krieges«, auch bekannt unter dem Titel »das Napalmmädchen«. Das Foto der damals neunjährigen Phan Thi Kim Phúc, die im Juni 1972 nach einem südvietnamesischen Napalmangriff nackt und mit starken Verbrennungen an Rücken und Armen über den Highway 1 läuft, ist eines der bekanntesten Bilder des 20. Jahrhunderts. Heute, mehr als 40 Jahre später, lebt Ut, der 1951 unter dem Namen Huynh Công Út in Vietnam geboren wurde, in Los Angeles. Noch immer arbeitet er für AP. Sein Archiv umfasst Fotografien von Flüchtlingen in Kambodscha, Laos und Vietnam, aber auch Porträts von Michael Jackson, Liz Taylor, Paris Hilton und vielen Politikern. Anlässlich der Eröffnung der Ausstellung »Mediating War« in der Galerie Sprechsaal in Berlin (noch bis zum 28. November) spricht er über das berühmte Bild, die Freiheiten bei der Kriegsberichterstattung und seine heutige Arbeit in Kalifornien.

Woran erinnern Sie sich, wenn Sie an den 8. Juni 1972 denken?
Ich war damals in Saigon. Am dritten Tag der Kämpfe um Trang Bang rief mich ein befreundeter Kameramann an und fragte: »Nick, warum bist du nicht hier?« Ich habe ihm geantwortet: »Okay, ich komme morgen früh.« Ich bin dann nach Trang Bang gefahren – das liegt ungefähr 40 Kilometer westlich von Saigon – und bin morgens um halb acht in dem Dorf angekommen. Das erste, was ich sah, waren Flüchtende, die nach Saigon zurückliefen. Ich schoss Fotos und sah Bomben, Bomben, Bomben – sehr viele Bomben.
Ich bin mehr als zwei Kilometer zu Fuß mit einem Soldaten gelaufen, aber dann, als ich eigentlich in mein Büro in Saigon zurückkehren wollte, entschied ich mich, noch zum Highway 1 zu gehen. Und dann ließ ein südvietnamesischer Skyraider vier Bomben fallen. Ich nahm meine Kamera und fotografierte. Ich dachte, das Dorf sei verlassen, aber als der schwarze Napalmrauch sich verzogen hatte, tauchte eine Frau auf, sie musste ihre Augen vor dem Qualm schützen. Ihr folgten zwei Kinder und dann kam Kim Phúcs Großmutter, die einen kleinen Jungen trug. Ich fotografierte und dachte, dass es das beste Bild des Tages war. Sie ist direkt auf mich zugekommen, der Junge ist vor meiner Kamera gestorben.
Dann habe ich wieder aufgeschaut und ich sah, wie etwas rannte: Ich sah ein nacktes Mädchen. Ich wusste nicht, was geschehen war, aber das Mädchen trug keine Kleidung! Ich fotografierte, und als sie an mir vorüberlief, sah ich ihren Körper. Ich sah, wie ihre Haut sich ablöste. Ich bin zu ihr gelaufen und habe ihr etwas von meinem Wasser gegeben. Ich dachte: »Sie wird sterben! Unmöglich, dass sie das überlebt!« Ich nahm meinen Regenmantel, um ihren Körper zu bedecken – ich wollte sie nicht unbekleidet lassen, es gab dort sehr viele Kameramänner. Ihr Onkel hat mich gefragt, ob ich sie und die anderen Kinder ins Krankenhaus bringen kann, und ich sagte Ja.
Aber war es Ihnen als Kriegsberichterstatter denn erlaubt, den Ort zu verlassen?
Mehrere Fotografen waren bereits weg. Ich war damals ein sehr junger Mann. Als ich die Kinder sah, habe ich gefragt: »Warum hilft hier niemand?« Es war mir egal, ob ich meine Arbeit verliere, ich wollte helfen. Heute ist mein Chef sehr glücklich darüber!
Kann man in einer solchen Situation noch denken oder reagiert man nur noch?
Ich habe reagiert. Ich erinnere mich an viele Soldaten, die, nachdem ich mit ihnen gesprochen habe, vor meinen Augen gestorben sind. Als Kriegsfotograf lebt man mit den Soldaten, manchmal isst man zusammen mit ihnen, einige Soldaten haben mir geholfen und ich habe ihnen geholfen, und wenn einer verletzt wurde, musste ich etwas tun. Mein Bruder war ebenfalls Fotograf, auch er ist gestorben. Er starb durch eine Kugel. Zehn Jahre lang habe ich als Kriegsfotograf gearbeitet. Es ist unglaublich, dass ich noch lebe. Ich dachte wirklich jeden Tag, ich würde sterben. Drei Schüsse habe ich abbekommen. Ein Mörsersplitter steckt noch immer in meinem Bein. Jeden Winter fühle ich die Schmerzen.
Das Mädchen musste etliche Hauttransplantationen über sich ergehen lassen und konnte das Krankenhaus erst nach zwei Jahren wieder verlassen. Kim Phúc lebt heute in Kanada. Stehen Sie noch miteinander in Kontakt?
Wir sind wie eine Familie. Ich rufe sie oft von L.A. aus in Toronto an. Wenn ich sie anrufe und sie nicht zu Hause ist, probiere ich es immer wieder. Wenn wir dann telefonieren, frage ich sie: »Wo hast du nur gesteckt?« und sie lacht und sagt: »Onkel Nick, ich bin doch kein Mädchen mehr!« Sie reist wie verrückt, weil sie Unicef-Botschafterin ist. Erst vor zwei Wochen waren wir zusammen in Madrid, für den Brilliant-Minds-Kongress 2015.
Jahrelang hat die KP Vietnams das »Napalmmädchen« als Anti-US-Propaganda verwendet, obwohl bekannt war, dass der Angriff friendly fire war und außer den Reportern keine Ausländer vor Ort waren. Wie denken Sie darüber?
Ich mag das nicht, ich habe das nie gemocht. Auch die südvietnamesische Regierung hat das Foto von Kim Phúc für ihre antikommunistische Propaganda verwendet. Sie sagten, eine Vietcong-Rakete hätte das Dorf und Kim Phúc getroffen. Zur gleichen Zeit wurde mein Bild in Nordvietnam für antiamerikanische Zwecke benutzt. Heute hängen meine Bilder im vietnamesischen Kriegsmuseum in Ho-Chi-Minh-Stadt. Darauf sieht man, wie ein Skyraider der südvietnamesischen Luftkräfte die Napalmbombe abwirft. Jeder kann die Wahrheit sehen. In Vietnam gibt es heute allerdings mehr Freiheit. Die jungen Leute sind sehr misstrauisch gegenüber der Regierung. Das Bild ist keine Propaganda mehr und das macht mich glücklich.
In der Ausstellung wird das ursprüngliche, unbeschnittene Bild gezeigt. Dort sieht man am rechten Bildrand, wie ein Reporter seine Kamera nachlädt. In der Version, die am 9. Juni 1972 in der New York Times abgedruckt wurde und die Sie berühmt gemacht hat, ist dieses Detail beschnitten worden. Der deutsche Historiker Gerhard Paul kritisiert, dass die besondere Wirkung Ihres Bildes das Resultat einer medial bewusst herbeigeführten Gestaltung, des Framing, ist. Denken Sie, dass sich die beiden Versionen Ihres Bildes in ihrer Aussage unterscheiden?
Das AP-Bild zeigt die ganze Szene, aber einige Zeitungen haben es beschnitten und einige haben sogar nur einen Ausschnitt von Kim Phúc gezeigt. Ich denke, das Bild erzählt eine bessere Geschichte, wenn es unbeschnitten ist.
Wie denken Sie über die Arbeit des Street-Art-Künstlers Bansky, der Kim Phúc zwischen Mickey Mouse und Ronald McDonald montiert?
Ich sehe das immer wieder und bin sehr verärgert. Die Leute sagen: »Nick, warum meldest du das nicht AP?« Da AP meine Urheberrechte besitzt, lasse ich sie sich darum kümmern, mich geht das nichts an. Aber es gibt so viele Cartoons, so viele seltsame Bilder von Kim Phúc. Und manchmal fühle ich mich wirklich schlecht. Ich bin sehr verärgert darüber.
Wie sehen Sie den Gebrauch von Photoshop in Bildern aus Konfliktgebieten?
Bei AP wird uns nicht erlaubt, Photoshop zu verwenden, und ich stimme dem ausdrücklich zu. Sehr gute Fotografen der LA Times, von Reuters etc. haben ihre Jobs durch Photoshop verloren. Ein Freund von mir wurde entlassen und hat keine Arbeit mehr gefunden. Jetzt fotografiert er Hochzeiten in Denver!
Was denken Sie über Kriegsberichterstattung, wenn Sie heute eine Zeitung lesen?
In Vietnam war ich frei, während ich fotografierte. Niemand hat mich aufgehalten. Jetzt aber gibt es diese Freiheit nicht mehr. George W. Bush hat seine Lektion aus dem Vietnamkrieg gelernt und die Richtlinien der Berichterstattung geändert. Ein Freund von mir sagte, dass im Irak 2003 Fotografen von der Regierung kontrolliert wurden. Das bedeutet, dass du ein Foto machst, das sie dir vorher gegeben haben. Du kannst nicht fotografieren, wo und was du willst. Ich mag das nicht. Ich will mein eigenes Bild.
Smartphones, soziale Medien – ist das gut oder schlecht für die Berichterstattung?
Das große Ding in Hollywood ist heutzutage das iPhone. Jeder berichtet mit einem iPhone. Wissen Sie warum? Wenn Sie eine Kamera haben, brauchen Sie eine Erlaubnis, aber nicht für das iPhone. Darum sieht man all die Paparazzi mit einem iPhone. Man benötigt nur einen Klick und noch einen mehr, dann ist das Bild veröffentlicht. Das iPhone ist sehr gefährlich für uns Fotografen, denn manchmal ist es besser als wir.
Anfang September hat das Bild eines ertrunkenen syrischen Flüchtlingsjungen an der türkischen Küste für Diskussionen gesorgt. War es richtig, das Bild zu zeigen?
Ich habe den Jungen am Strand im Fernsehen gesehen, ohne Ton, und dachte: »Was ist geschehen? Wie ist er dorthin gelangt?« Dieses Bild hat mir nichts gesagt. Aber das andere Bild mit dem Mann, der den leblosen Körper trägt, hat mir eine Geschichte erzählt. Das ist das richtige Foto. Ich meine nicht, dass es verboten sein sollte, solche Bilder wie das des toten Jungen zu verwenden, aber Sie müssen eine Geschichte erzählen. Dazu braucht man keinen toten Körper im Wasser.
Wie oft reisen Sie nach Vietnam?
Mittlerweile fast jedes Jahr. AP hat mich vor ein paar Monaten wieder nach Trang Bang geschickt; sie wollten iPhonefotos, um sie auf Instagram zu publizieren. Das war schon ziemlich komisch.
Wie kommt es, dass Sie Fotos so vieler Berühmtheiten haben? Arbeiten Sie als Paparazzo in Los Angeles?
Ich bin kein Paparazzo. Ich hasse das. Es ist nicht meine Auffassung von Arbeit, vor einem Haus auf der Lauer zu liegen. Ich liebe Bewegung, Menschen, Dinge, die zufällig vor meinen Augen geschehen. Seit dem Vietnamkrieg habe ich immer Bilder gemacht, auf denen etwas passiert.
Wollen Sie noch einmal in einem Kriegsgebiet arbeiten?
Krieg? Nein! Ich mag nur gute Kriege.
Was meine Sie mit »gute Kriege«?
Ich meine mehr Freiheit in der Berichterstattung. Ich will ein Bild, das eine Geschichte erzählt.